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18

Hallo, ich bin Martin,

Ich schreibe, weil ich den Austausch suche und ein wenig Hoffnung habe, dass jemand möglicherweise ähnliche Erfahrungen gemacht hat.
Ich befinde mich seit einer Woche das erste Mal in meinem Leben stationär in einer Klinik für Psychiatrie zur sog. Krisenintervention.

In meiner Kindheit/Jugend kämpfte ich mit Panikattacken, deren Ursprung mir bis heute nicht bekannt ist.
Im Alter von 14-18 hatte ich in unregelmäßigen Abständen meist in fremder Umgebung Zustände der extremen Übelkeit (kurz vor dem Erbrechen, was aber nie passiert ist) Magenkrämpfe und Zittern. Heute denke ich, dass mich damals sprichwörtlich etwas mir Unbekanntes angekotzt hat. Ich kann es retrospektiv nicht verstehen, aber ich habe diese Zustände damals akzeptiert nachdem meine Eltern mit mir bei verschiedenen Ärzten waren und nie eine pathologische Ursache diagnostiziert werden konnte. Es gehörte zu mir. Mein dunkler Begleiter, der mich immer wieder daran erinnert, dass ich nicht ganz bin.
Angsterkrankung oder Depression waren zu dieser Zeit weder bei mir, meinen Eltern oder den Ärzten im Bewusstsein, also lernte ich auszuhalten.

Erst mit 18, als depressive Symptome, wie Antriebsverminderung dazu kamen, bin ich mehr oder weniger durch Zufall durch den Vater eines Freundes, der Institutsdirektor einer Kinder- und Jugendpsychiatrie war, das erste Mal in diesem Fachgebiet untersucht worden. Diagnose: Depression.

Seit 2004 nahm ich von nun an Sertralin (zwischen 50-200mg). 16 Jahre lang.

Eine psychotherapeutische Behandlung habe ich immer abgelehnt.
Ich dachte: Wenn mein Geist es schafft es mir so unglaublich schlecht gehen zu lassen und ich nicht einmal eine Idee davon habe, warum das so ist, dann will er aus gutem Grund etwas vergraben. Ich dachte, ich schütze mich vor der Ausgrabung eines sehr tief in mir befindlichen Traumas.

Jetzt bin ich 36, stehe mitten im Leben. Meine Lebensumstände sind gut. Job, Frau, Kind, Familie. Ich kann mich glücklich schätzen.

Im letzten Jahr habe ich dann nach all den Jahren im Mai plötzlich nach einem Telefonat, diese unheimlich starke Unruhe und Angst verspürt. Damit verbunden Schlafstörungen, Schwitzen und Agitation.
Ich habe das Sertralin in Absprache mit meiner Psychiaterin von 50 mg wieder auf 150 mg erhöht. Gespräche mit Familie und Freunden halfen mir auf dem Weg hinaus und so habe ich es nach etwa 3 Wochen Krankschreibung geschafft. Mir ging es wieder gut.
Anschließend habe ich das Medikament wegen plötzlich stärker ausgeprägter sexueller Dysfunktion von Sertralin (100 mg) über Bupropion (150 mg) auf schließlich Escitalopram (10 mg) gewechselt. Das Absetzen von Sertralin nach 17 Jahren war die Hölle. Ich habe über 6 Wochen ausgeschlichen, aber heftige Absetzsymptome mit Empfindungsstörungen, Brain Zaps etc. erlebt.
Die Dysfunktion blieb also unter Escitalopram, weil sich unter Bupropion die stimmungsbezogene depressive Symptomatik wieder verstärkte (aber ohne Unruhe, Angst bzw. Panik). Mit Escitalopram wurde es wieder besser.

Im August letzten Jahres habe ich die Liebe meines Lebens kennen gelernt. Die eine Frau.
Im Liebestaumel und weil es mir so gut, wie noch nie ging, habe ich naiv den Gedanken gefasst, ich brauche die Psychopharmaka nicht mehr. Also die 10 mg von einem auf den anderen Tag abgesetzt.
Alles ging gut.

Bis zum 2. Weihnachtsfeiertag.

Seitdem kämpfte ich den größten Kampf meines Lebens mit mir selbst. Diese Unruhe, Angst und Panik. Jeden Tag.
Ich schlafe zwischenzeitlich wieder ein, aber nach 5-6 Stunden wache ich auf, als hätte mir jemand eine Adrenalinspritze ins Herz gerammt. Angst, extreme Unruhe, ABER: keine Gedanken! Ich habe keine konkrete übersteigerte Angst oder Sorge in Bezug auf ein Thema, Umfeld oder einer auslösenden Situation. Ich habe keine Albträume. Ich denke nur: Warum? Was ist los mit mir? Wie lange wird es dauern?
Das geht unverändert, trotz dass ich direkt am 28. Dezember wieder Escitalopram auf 20 mg erhöht genommen habe, bis jetzt so.
Gegen Abend wird es meistens etwas besser, aber es bleibt immer unterschwellig da und bricht jede Nacht und teilweise über Tag wieder mit voller Wucht durch. Ein elendes Gefühl.
Bezüglich der Depression habe ich keine Antriebsminderung, eher im Gegenteil. Ich bin den ganzen Tag unter Strom (im grundnegativem Sinne), gleichzeitig aber auch ausgelaugt. Verzweiflung stellt sich immer wieder ein.
Ich tue alles, was mir helfen könnte. Täglich Yoga, Meditation, Entspannungsübungen Gespräche, aber bisher wird es nicht besser. Es stagniert.
In der Klinik habe ich nun 1x die Woche ein Gespräch mit der Psychologin, was mir gut tut, aber auch aufzeigt, dass es noch ein sehr langer Weg ist. Ansonsten nutze ich alle Therapieangebote.

Ich bekomme Venlafaxin (75 mg) einschleichend seit 4 Tagen und Quetiapin (25 mg) unretardiert zum Schlafen.

Warum? Warum bin ich so?


Ich danke jedem, der bis hierher gelesen hat und würde mich wahnsinnig über jeden Kommentar freuen.
Ich wünsche euch allen nur das Beste. Passt auf euch auf.

Martin

21.02.2022 16:36 • 04.03.2022 x 3 #1


8 Antworten ↓


Martin, willkommen!

Gratulation zu Deiner Fähigkeit, überschaubar und nachvollziehbar Deine Lage zu schildern - noch dazu aus einer Kliniksituation heraus. Ich würde gerne näher darauf eingehen, wenn ich mehr Zeit habe. Darum diese kurze Rückmeldung als Lesezeichen für mich

Bis dahin alles Gute.

A


Unruhe, Angst und die ewige Frage nach dem Warum?

x 3


Zitat von Sma:
Hallo, ich bin Martin, Ich schreibe, weil ich den Austausch suche und ein wenig Hoffnung habe, dass jemand möglicherweise ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Ich befinde mich seit einer Woche das erste Mal in meinem Leben stationär in einer Klinik für Psychiatrie zur sog. Krisenintervention. In meiner ...


Du machst ganz viel im Außen, aber Du kämpfst leider einen aussichtslosen Kampf gegen Dich selbst. Ängste und Depressionen nur mit Medikamenten zu behandeln ist in der Regel nicht zielführend, es braucht auch eine Therapie. Männer tun sich da wahrscheinlich wesentlich schwerer mit als Frauen.

Ängste kommen nicht einfach so und just for fun und sie gehen auch nicht einfach so wieder weg. Der Ansatz Ich will einfach, dass die Symptome aufhören und ich will wieder wie früher sein ist nicht zielführend - denn so, wie Du früher warst, hat Dir die Ängste und Depressionen eingebracht. Dein Herz und Deine Seele wollen Dir etwas sagen, und so lange Du nicht zuhörst, sitzen sie am längeren Hebel.

Gut, dass Du den Schritt in eine Klinik gemacht hast. Der erste Schritt auf Deinem Weg. Ich habe meinen Weg mit Lesen begonnen - ich las alles, was ich in die Finger bekam und von dem ich annahm, dass es mir eine neue Idee bringen konnte. Ich habe viele Dinge ausprobiert, die abseits der Gesetzlichen Krankenkasse lagen - und die Erfahrung gemacht, dass mir diese Dinge mehr geholfen haben als die studierten Ärzte und Psychiater.

Was ich Dir wärmstens ans Herz legen kann, ist Dich mit Achtsamkeit und Atemtraining zu beschäftigen - weg vom Außen, hin zu Dir. Finde Dein Selbstbewusstsein im Sinne von werde Dir Deiner selbst bewusst. Und aktzeptier für Dich, das psychische Erkrankungen ein Marathon sind, kein Sprint. Man braucht viel, viel Geduld mit sich selbst.

Hallo.

Ich war von Ende November 10 Wochen stationär. Ich hatte 3 x Woche Therapie, 2 x Gruppe, 1 x Einzel.

Das warum wirst du so nicht beantwortet bekommen, das ist ein Weg, den du durch die Therapie machst und dann irgendwann an das Warum kommst.

Bei mir war es, ausgelöst durch eine Trennung, Traumata aus der Kindheit. Es war sehr schmerzhaft was zum Vorschein kam und ja, das ist kein Zuckerschlecken, daher war es gut das ich stationär war zu dem Zeitpunkt.

Lass dich auf die Klinik ein, sorge für den Anschluss um Tagesklinik oder ambulante Therapie 1 x Woche.

Ich habe auch das Quetiapin 25 unretiert zur Nacht und nehme Escitalopram 15 mg.

Naja willkommen im club spass
Ich hatte auch mal versucht nach 15 Jahren Venlafaxin abzusetzen des war die Hölle. Ich würde einfach wieder die Dosis nehmen die du 16 Jahre lang genommen hast. Venlafaxin ist gut gegen Angst aber ist glaub ich noch schwerer abzusetzen als Sertalin nach Jahrelanger Einnahme.
Auf jeden Fall lass dir Zeit setz dich nicht unter Druck dass du morgen schon bei Kräften bist um arbeiten zu gehen, das braucht nun mal seine Zeit. Bezüglich der Frage wieso es so ist, ich weiss bei mir auch nicht wieso ich Panikstörung und depression habe. Seit 1 Jahr glaub ich dass es hauptsächlich am Gehirn liegt das zu viel oder zu wenig von einer Chemischen Substanz produziert wird. Bei mir hat alles mit 18 angefangen obwohl nix grossartiges passiert ist. Ich war 18 und immer noch keine Freundin und würde im Sommer nach Griechenland ausziehen fürs studieren, aber sowas trifft auf sehr viele Menschen zu, wieso hat es bei mir sowas ausgelöst, wenn es denn das war. Am sonsten weiss ich auch nicht was der Auslöser sein könnte.

Ich danke euch herzlich für eure Antworten.

Das tut mir im Moment gut und ich freue mich sehr darüber.

Vielen Dank an moo
Zitat von moo:
Martin, willkommen!

Gratulation zu Deiner Fähigkeit, überschaubar und nachvollziehbar Deine Lage zu schildern…

für die freundliche Begrüßung. Ich bin gespannt auf deine Antwort.


Vielen Dank an kruemel_68,
Zitat von Kruemel_68:
Du machst ganz viel im Außen, aber Du kämpfst leider einen aussichtslosen Kampf gegen Dich selbst. Ängste und Depressionen nur mit Medikamenten zu behandeln ist in der Regel nicht zielführend…

dass du mich an eine Erkenntnis erinnerst, die ich eigentlich schon oft hatte, aber durch meine Negativverzerrung immer wieder aus dem Blick verliere.
Ich hatte heute im Rahmen der sog. Krisengruppe eine direkt darauf bezogene Erfahrung. Uns wurde der Begriff Krise, dessen Zusammenhänge, Auswirkungen und Verläufe erläutert und ich stellte fest, wo ich mich gerade befinde. Nämlich, wie du sagst im Äußeren des Krisenprozesses.
Meine Denkweise und mein Verhalten ist ergebnisorientiert auf die Symptombekämpfung. Immer in der Hoffnung, die Medikamente, der Sport, die Ergo, meine Bewältigungsstrategien etc. sollen Wirkung zeigen und mich emotional stabilisieren.
Ich frage ständig Warum bin ich so? in Bezug auf Welche Einflüsse haben mich dazu gemacht Dabei nähre ich meine Verzweiflung, Auflösung und entferne mich immer weiter von der inneren Akzeptanz.
Das Gespräch hat mir mehr Verständnis verschafft und dabei geholfen die Situation in einen Kontext zubringen.

Ich würde mich sehr freuen, wenn du vielleicht ein paar Literaturtipps hast.


Danke auch an Grace_99
Zitat von Grace_99:
Hallo.

Ich war von Ende November 10 Wochen stationär. Ich hatte 3 x Woche Therapie, 2 x Gruppe, 1 x Einzel.

für die Schilderung deiner Erfahrungen. Ich befinde mich gerade, wie oben beschrieben in dem Prozess vom Übergang der Reaktions- zur Bearbeitungs- und Handlungsphase.
Ich dachte ursprünglich, ich wäre bereits dort, aber das stimmt nicht.
Es ist ein Weg, der seine Zeit braucht, wie du sagst.


Und natürlich auch danke an Petros1985
Zitat von Petros1985:
Naja willkommen im club % spass
Ich hatte auch mal versucht nach 15 Jahren

In deinen Beschreibungen finde ich viele Parallelen zu mir selbst. Du bist der erste Mensch, der einen so ähnlichen Werdegang beschreibt wie ich ihn hatte/habe.
Es schafft eine Art beruhigende Verbindung, dass man doch nicht alleine mit seiner Ausprägung der Krankheit ist.
Ich wünsche uns Beiden von Herzen, dass wir eines Tages zu uns Selbst und unserer Gelassenheit finden. Im besten Fall ohne Medikamente.


Ich wünsche euch Allen eine angenehme Woche und freue mich über jeden weiteren Kommentar von euch.


Liebe Grüße,
Martin

Servus Martin,

eins vorab - Du bist auf einem guten Weg, weil Du, wie meine Vorredner bereits sagten, Dich endlich aktiv Dir zuwendest. SSRIs etc. sind der passive, Therapie (uvm.!) der aktive Part. Da Du offenbar ein strukturiert veranlagter Mensch bist, werden Dir solche Einteilungen vorerst helfen. Das trägt auch zu einer gewissen Akutberuhigung bei, weil Du etwas Übersicht gewinnst - ganz wichtig in einer emotional extrem verwirrenden Situation.

Und noch ein körperlicher Aspekt vorweg: angesichts der geschilderten Probleme in der Kindheit und Jugend möchte ich Dir empfehlen, Dich mit dem Thema HPU auseinanderzusetzen. Obschon es über diese angeborene Krankheit sehr unterschiedliche Meinungen gibt (sie wird z. B. vom RKI nicht als Krankheit anerkannt und entsprechend leisten Diagnose und Behandlung idR in BRD nur Heilpraktiker oder Privatärzte), kann es sehr hilfreich sein, sich zumindest mal in die Theorie einzulesen. Ich persönlich sehe in der HPU ebenfalls keine Krankheit sondern eine Basisveranlagung, die Betroffene einfach in vielerlei Hinsicht schwächt.

Zusätzlich wäre es sehr hilfreich, Dich mit sämtlichen relevanten Neurotransmittern und deren Verfügbarkeit mittels Ernährung zu beschäftigen: In Deinem Fall natürlich Serotonin bzgl. Angst und Depression als Hauptthema. Dann Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin bzgl. Antriebslosigkeit, Cortisol bzgl. Stressantwort und Endorphin hinsichtlich Lebensfreude.

Zu beiden Themenbereichen kann ich Dir gerne Literatur per PN empfehlen.

Nun ein paar Gedanken zu Deinem o. g. Verlauf:

Zitat von Sma:
Im Alter von 14-18 hatte ich in unregelmäßigen Abständen meist in fremder Umgebung Zustände der extremen Übelkeit (kurz vor dem Erbrechen, was aber nie passiert ist) Magenkrämpfe und Zittern. Heute denke ich, dass mich damals sprichwörtlich etwas mir Unbekanntes angekotzt hat.

Da ich auch ein Freund von Analogien bin, würde ich Dein heutiges Fazit (ankotzen) unterstützen.

Zitat von Sma:
Es gehörte zu mir. Mein dunkler Begleiter, der mich immer wieder daran erinnert, dass ich nicht ganz bin.

Genau da kam bei mir der Gedanke auf, dass ich Dir das Thema HPU zumindest ans Herz legen muss. Es ist nur ein dringender Verdacht meinerseits und ich wollte es einfach gesagt haben...

Zitat von Sma:
Eine psychotherapeutische Behandlung habe ich immer abgelehnt.
Ich dachte: Wenn mein Geist es schafft es mir so unglaublich schlecht gehen zu lassen und ich nicht einmal eine Idee davon habe, warum das so ist, dann will er aus gutem Grund etwas vergraben. Ich dachte, ich schütze mich vor der Ausgrabung eines sehr tief in mir befindlichen Traumas.

Obwohl Deine (damalige) Ansicht nachvollziehbar ist, so handelt es sich m. E. um ein wesentliches Versäumnis. Sollte(!) es sich wirklich um ein Trauma handeln, wäre es damals evtl. leichter zu entdecken gewesen, aber auch heute sollte es möglich sein, daran zu arbeiten. Andererseits beruhen nicht alle Ängste oder PAs auf Traumata.

Einer Depression in jungem Alter zu begegnen, kann vor(!) Therapiebeginn sehr unerfreulich anmuten. Wenn dann noch ein Psychiater zügig mit ADs zur Hand ist, neigt man dazu, ein vermeintliches (diffuses) Trauma als zu ignorierende Ursache zu definieren. Wie Du so schön sagst: Wenn mein Geist es vergrub, hatte es wohl seine guten Gründe.

Ich sage gerne: Was man vergräbt, schlägt Wurzeln... . Es gibt Tief- und Flachwurzler und es gibt Gewächse, die so gut wie ausschließlich aus Wurzeln bestehen und nur wenig davon an die Oberfläche kommen. Man kommt mit ihnen also nur in Kontakt, wenn man gräbt. Die damalige erkennbare Thematik (Übelkeit, Fremde, Zittern) ist die (heute nur noch schwach) sichtbare (= bewusste) Spitze dieses unterirdischen (= unbewussten) Wurzelgewächses.

Zitat von Sma:
Im letzten Jahr habe ich dann nach all den Jahren im Mai plötzlich nach einem Telefonat, diese unheimlich starke Unruhe und Angst verspürt. Damit verbunden Schlafstörungen, Schwitzen und Agitation.

Dass Du selber das Telefonat erwähnst, lässt vermuten, dass irgendein Gesprächsinhalt das o. g. unterbewusste Thema angegraben hat. Mann kann das mit einem diffusen, unguten Kindheitsgefühl vergleichen - ein Phänomen, mit dem Psychofilmregisseure gerne arbeiten (z. B. Stephen King´s Es). Es ist wie ein kleines Erdbeben - das Wackeln ist minimal (= unsichtbar), aber die Folgen mitunter erheblich (= sichtbar - hier: Unruhe, Angst).

Das Vergrabene (und im Laufe von 16 Jahren Totgeglaubte - oder besser - Totgehoffte) ist wieder auferstanden. In Wahrheit jedoch war es weder vergraben noch tot, sondern lediglich unterbewusst. Es kommt also nichts zurück, sondern wird nur wieder (diffus) sichtbar (es ist mehr ein Ahnen als ein Sehen). Durch die jahrelange Verdrängung wird es nun übergroß wahrgenommen.

Die Somatisierung einer diffusen Gefahr findet bei einem 36-jährigen Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas verändert statt als bei einem Kind oder in der Pubertät. Hinzu kommt, dass eine Benennung der Ursache (Objekt der Angst) nicht möglich ist:

Zitat von Sma:
Angst, extreme Unruhe, ABER: keine Gedanken! Ich habe keine konkrete übersteigerte Angst oder Sorge in Bezug auf ein Thema, Umfeld oder einer auslösenden Situation. Ich habe keine Albträume. Ich denke nur: Warum? Was ist los mit mir? Wie lange wird es dauern?

Ich denke, die Unruhe ist die unmittelbare somatische(!) Reaktion auf die Erinnerung an das Kindheitsthema. Die Angst ist nur eine Folge der Unruhe. Wenn der Körper ohne ersichtlichen Grund verrückt spielt, ist das nur folgerichtig und natürlich. Der Geist macht nun den (Vielen hier vertrauten ) Kardinalsfehler, diese Angst auf ein sie berechtigendes Objekt beziehen zu wollen und sucht dabei nach einer objektiven Ursache (Gedanken an etwas, über etwas etc.). Dass lediglich die Unruhe das eigentliche Angstobjekt ist, wird nicht erkannt oder nur unzureichend akzeptiert:

Zitat von Sma:
Warum? Warum bin ich so?

Man meint, es müsse etwas wichtigeres, persönliches dahinterstecken, weil die Angst so dominant ist. Tatsächlich ist sie nur so groß geworden, weil sie auf ihrer Suche in einen Kreislauf mündete: in die Angst vor der Angst - die klassische Definition einer generalisierten Angststörung.

Nun zurück zur Chronologie:

Zitat von Sma:
Im Liebestaumel und weil es mir so gut, wie noch nie ging, habe ich naiv den Gedanken gefasst, ich brauche die Psychopharmaka nicht mehr. Also die 10 mg von einem auf den anderen Tag abgesetzt. Alles ging gut. Bis zum 2. Weihnachtsfeiertag.

Der Gedanke war m. E. nicht so naiv, denn Endorphin kann vieles ausgleichen. Nicht umsonst wird Verliebtsein mit einem Rausch verglichen. Ähnlich wie Alk. bei entsprechend Veranlagten, vermag das Verliebtsein nahezu sämtliche Neurotransmitterdefizite auszugleichen. Nur leider nutzt man vor lauter Liebestaumel diese Phase so gut wie nie für notwendige Reparaturarbeiten am eigenen Geist. Man wird - flapsig gesagt - ein bisserl größenwahnsinnig, man ist auf Speed im positiven Sinne .

Dass dieser Geisteszustand jedoch nur ein - der Depression diametral gegenüber gelagerter - Zustand ist, wird naturgemäß komplett übersehen. Auch in der Interpretation der anbetungswürdigen Geliebten kann man sich energetisch verschleißen. Wie beim Alk. bewirkt ein Zuviel des Guten (sic!) einen allmählichen oder mitunter auch plötzlichen Zusammenbruch. Dieser Zusammenbruch ist idR ein körperlicher Vorgang, dem jedoch unmittelbar die Psyche folgt. Und zwar im bekannten Muster (siehe die Unruhe und die darauf folgende Angstperiode nach dem Telefonat im Mai).

Zitat von Sma:
Gegen Abend wird es meistens etwas besser, aber es bleibt immer unterschwellig da und bricht jede Nacht und teilweise über Tag wieder mit voller Wucht durch. Ein elendes Gefühl.

Angststörungen sind leider recht variabel und mit Psychopharmaka oft nur per Try Error zu beschwichtigen. Das musst Du jetzt leider erst mal akzeptieren. Wichtig ist, dass Du baldmöglichst parallel zur AD-Therapie weiter die flankierenden Angebote nutzt. Sollte in der Klinik sowas ähnliches wie Kommunikative Bewegungstherapie angeboten werden, wäre das m. E. einen Versuch wert.

Zitat von Sma:
Ich bin den ganzen Tag unter Strom (im grundnegativem Sinne), gleichzeitig aber auch ausgelaugt.

Das rührt mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Schwächung der Nebennieren her. Du kannst deren Regeneration fördern - auch hier kann ich Dir Literatur nennen. Aber: das dauert alles - entwickle Geduld!

Zitat von Sma:
Ich tue alles, was mir helfen könnte. Täglich Yoga, Meditation, Entspannungsübungen Gespräche, aber bisher wird es nicht besser. Es stagniert.

Hier gilt ein Spruch meines früheren Zen-Lehrers: Jede Bemühung bringt Ergebnisse - damit meinte er konkret, dass es oft lange Durststrecken gibt, wo vermeintlich nix vorangeht. In Wahrheit sind das oft notwendige Schlüsselphasen, wie beim Einlegen eines höheren Ganges: beim Auskuppeln geht im Getriebe auch nichts voran, aber es ist nötig, um den nächsten Gang zu erreichen.

Denke im therapeutischen Kontext nicht vorrangig in Zeit und Strecke sondern in prinzipiell heilsam. Lass keinen Zweifel im Sinn der Therapie aufkommen - Zweifel entzweit! Du wirst ein Bauchgefühl dafür entwickeln, wo der Haken ist - idealerweise wirst Du auch fündig, was Dein Grundthema angeht. Wenn Du magst, können wir Letzeres hier in diesem Rahmen ergänzend zum Klinikaufenthalt versuchen zu beleuchten.

Zitat von Sma:
Meine Denkweise und mein Verhalten ist ergebnisorientiert auf die Symptombekämpfung. Immer in der Hoffnung, die Medikamente, der Sport, die Ergo, meine Bewältigungsstrategien etc. sollen Wirkung zeigen und mich emotional stabilisieren.

Dieses Bewältigungsdenken könnte(!) sich aufgrund Deines damaligen Entschlusses zum Verdrängen (im Alter von 18 Jahren, aber auch schon früher) tatsächlich charakterisiert haben. Es hat ja auch 15 Jahre funktioniert! Allerdings nur oberflächlich... Da das Leben aber halt sozusagen mehrschichtig ist, wenn es als solches verstanden wird, kommst Du nun in einen völlig anderen Wahrnehmungsmodus, den Du erstmal kennenlernen musst. Er widerstrebt mitunter ziemlich Deinem üblichen Denken, doch im Bereich der Gefühle wird sich einiges tun...

Ich könnte (!) mir vorstellen, dass Du seinerzeit weder ein Trauma noch ein bestimmtes Lebensthema vergraben, sondern lediglich verdrängt hast, dass Du ein eher fremdbestimmtes Leben vor Dir hast. Manche sensiblen Menschen spüren das mitunter recht früh. Mir ging es im Alter von 10-14 ebenso, hatte damals viele diffuse Ängste und entwickelte heftige Zwänge, später dann Depression und Burnout - das ganze Programm. Heute sehe ich ganz klar, dass ich das falsche Leben gelebt habe, bis ich mit 35 Jahren anfing, mir das einzugestehen. Danach wurde es aber erst richtig heftig, denn mein eingeschliffenes Ich streubte sich heftigst, wenn es um notwendige Veränderungen ging. Doch die meisten hier im Forum haben nur zwei Möglichkeiten: entweder den nötigen Weg gehen oder den Dauerkampf auf dem alten Schlachtfeld austragen... Ich habe mich für Ersteres entschieden - und keinen Meter bereut...

Zitat von Sma:
Ich danke euch herzlich für eure Antworten. Das tut mir im Moment gut und ich freue mich sehr darüber. Vielen Dank an moo für die freundliche Begrüßung. Ich bin gespannt auf deine Antwort. Vielen Dank an kruemel_68, dass du mich an eine Erkenntnis erinnerst, die ich eigentlich schon oft hatte, aber durch meine ...

Hier ein paar Literaturtipps von mir:
Was der Körper zu sagen hat von Dr. Isa Grüber
Wenn die Seele die Sprache verliert, fängt der Körper anzu reden von Dr. Wolf-Jürgen Maurer
Lebendig leben von Steve Biddulph

Und nimm in der Klinik alles mit, was in Richtung Körpertherapie geht, also alles was mit Wahrnehmung, Spüren, Achtsamkeit und bewusster Atmung zu tun hat! Versuch, wieder in den Kontakt mit Dir zu kommen und das Vertrauen in Deinen Körper zu stärken.

Hallo Martin,
ich möchte Dir gerne sagen, dass Du nicht alleine bist. ich weiss, dass es nur ein kleiner Trost ist. Ich kenne diese Dauerangst und diese Abwärtsspirale. Ich war auch mehere Male in einer Klinik, ich war dort immer der Sonderling, da ich auch nicht sagen konnte wovor ich Angst hatte. Ich habe gefühlt alles probiert, ähnlich wie Du, habe mir überall versucht Hilfe zu holen. Vergeblich. Damit möchte ich nicht sagen, dass externe Hilfe sinnlos ist. Nein, ich sehe das als Add on, aber ich glaube helfen können wir uns nur selbst. Selbstliebe und Annahme, Verständnis und Geduld. Wenn Du magst können wir uns gerne näher austauschen.





Mira Weyer
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