Hallo @LonelySun
Ich möchte Dir Mut machen - auch wenn ich noch nicht weiß, wie.
Ich erkenne mich in vielen Deiner Worte. Heute bin ich 36 Jahre alt und das Gefühl oder der Bewusstseinszustand von Einsamkeit hat sich bereits als Kind oder Jugendlicher in mich gebrannt. Ich begreife dies heute als das dunkelste Gefühl, welches ich kenne, als eine schwere Form der Depression. Bindung/Sicherheit ist das wichtigste aller emotionalen Grundbedürfnisse des Menschen und kann nur in einer funktionierenden und harmonischen Gemeinschaft an Säugetieren geschaffen werden. Die Frustration dieses Bedürfnisses im Kindesalter kann bei entsprechender Sensibilität zu agonischem Schmerz führen, der sich tief in die Persönlichkeitsstruktur prägen und ein Leben lang Wellen schlagen kann.
Kurz stichpunktartig zu meinem Hintergrund: ich habe bereits seit meiner frühen Kindheit (kann nicht genau sagen ab wann, evtl vor meinem 10. Lebensjahr; habe kaum Erinnerungen an meine Kindheit) Depressionen verschiedener Intensitätsstufen, emotionale Erschöpfung bereits mit 16 Jahren. Inhaftiert mit 17 bis 18. Einen ca. 5 Tage anhaltenden Nervenzusammenbruch mit Anfang 20. Doktor in Chemie nach 9 Jahre Studium mit 31. Psychotische Zusammenbrüche mit schweren Depressionen und Suizidgedanken mit 34, daraufhin Klinikaufenthalte und seit 2 Jahren ambulante Psychotherapie. Mein Vater ist Alk. (nicht aggressiv), meine Mutter wahnhaft religiös (meine Mutter selbst durchlebte eine Erziehung schwerer Gewalt und des Verlassenwerdens als Kind), ich wurde seit Kindesbeinen an mit meiner älteren Schwester und zwei älteren Brüdern in einer freichristlichen Sekte erzogen. Mein Elternhaus war Chaos, haltlos, orientierungslos, Disharmonie, Streit, Nervenzusammenbrüche meiner Mutter, Trennung meiner Eltern, als ich 15 war. Meine Diagnose vor ca. 2 Jahren: Borderline-Störung (emotionale Instabilität; ich vermute mein Vater hat eine ähnliche Erkrankung), Depressionen, evtl. zwanghafte Persönlichkeitsstörung. Ich hatte als junges Kind sehr viele Tics, Zwangsgedanken und -Handlungen, bis heute leide ich unter teils starken Zwangsstörungen. Zudem psychotische/traumahafte Phasen mit Depressionen, innere Spannungszustände mit Nervenzusammenbrüchen. Funktionsstörungen (Erektionsstörungen, Libidoverlust, Erschöpfung/Schlafstörungen), psychosomatisch-chronische Knieschmerzen, Bindungsstörung, Sinnlosigkeit. Immer das Gefühl, einsam auf dieser Welt zu sein. Auch in Gesellschaft meiner Freunde. Meine Familie ohne Verwandschaft besteht aus sechs Personen, aber ich spüre das nicht. Es gibt Tage, da ist in meiner Gefühlswelt niemand. Es interessiert sich niemand für mich. Auch wenn das nicht der Wahrheit entspricht, da meine Schwester und Mutter sich sehr wohl interessieren und wir viel Kontakt haben. Ich denke mein Vater hat mich nicht erkannt als ich jung war. Er interessierte sich nicht für mich und ließ mich fallen. Sein vorgelebter Alk. und seine ständige Abwesenheit (geistig und körperlich) brachen mich als jungen Menschen. (Heute möchte ich auch auf ihn und meine Brüder verzichten, auf den Großteil meiner Familie, ähnlich wie Du, weil alles, was ich wahrnehme, nur Schmerz ist. Verwandschaft gibt es kaum.) Die Sektenerziehung machte mich zum Zwangsmenschen und brach meine kreative Kraft, nahm mir etwas zutiefst Menschliches. Keine Bindung/Sicherheit einerseits, keine Kreativität und Freude andererseits. Heute tauche ich immer in traum(a)hafte Zustände ab, da ich diese Einsamkeit nur schwer ertrage. Und das auch teils immer noch nach bereits 2 Jahren sehr intensiver Therapie und stationären Aufenthalten mit wirklich guten Therapeuten, denen ich viel verdanke. Ich hatte 2018 meine Arbeitsstelle verloren als ich in der Klinik war und habe mir jetzt 2 Jahre Zeit genommen, zu reflektieren. Ich war in einem schwer traumatisierten Zustand, den ich mein ganzes Leben mit mir zog und dabei jegliche Leistung erbrachte, die gefordert wurde. Bereits vor 5 Jahren war ich kurz vor dem Kollaps, mit teils schweren Depressionen gearbeitet und dabei innerlich immer wieder abgedriftet. Das ging bis zum vollen Zusammenbruch vor eben 2 Jahren. Meine Seele war angefüllt mit Zwang, Trauma, Angst, Ruhewünschen, völliger Verzweiflung, Panikattacken - bis 20 Stunden Schlaf am Tag. Ich fing an mit dem inneren Kind zu arbeiten und fand mich bald in täglicher Meditation bzw. Imaginationsübungen wieder. Diese werden in der Traumatherapie eingesetzt, und obwohl ich darin nicht viel Anleitung bekam, wusste ich, dass das mein Weg sein wird. Dieser drängte sich mir förmlich auf, bereits vor der allerersten Anleitung zum Thema Achtsamkeit, inneres Kind, Meditation oder Imagination machte ich - ohne es zu wissen - eine Imaginationsübung, noch bevor ich in die Klinik kam. Und so saß ich dann nach den stationären Aufenthalten annähernd 2 Jahre zuhause und imaginierte. Ich verarbeitete meine Traumagefühle in der Visualisierung in inneren Bildern, schuf mir Bilder innerer Kinder und nährte sie (Nachbeelterung/Nachnährung von Persönlichkeitsanteilen). Versuchte jede emotionale Verkettung meiner Blockaden intellektuell zu verstehen und emotional tief zu begreifen, reflektierte solange in meditativer Haltung, bis sich die Blockaden nach und nach durch Bewusstwerdung unbewusster Anteile lösten. Stück um Stück, in wöchentlicher Begleitung meines Therapeuten, welcher mich ständig ermutigte, weiterzumachen und mich nicht beirren zu lassen (mein Therapeut ist seit Jahrzehnten spezialisiert auf Persönlichkeitsstörungen und -entwicklung). Ich notierte alles genau, die inneren Bilder und alle meine Gedanken hierzu. Ich analysierte und erforschte meine unbewusste Welt, mein Ich, von dem ich nicht wusste, was es war (Borderline), ähnlich wie ich bereits in meiner Doktorarbeit forschte. Nur hier nicht rein rational-intellektuell, sondern, den Intellekt als Überbau nutzend, vielmehr intuitiv und mich durch die im Inneren aufkommende Bildsprache leiten lassend.
Ich komme aus einem tiefdunklen, unbewussten, traumatisierten Zustand in schwerer Depression und dem Wunsch, nicht mehr existieren zu wollen. Auch wenn mich diese negativen Gefühle immer wieder einholen, wie ich oben geschrieben habe, habe ich heute dennoch erreichen können: Bewusstheit über mich selbst, Nachentwicklung meiner Persönlichkeit, eine Distanz zwischen mir und meiner Erkrankung, Ausgeglichenheit, das Bewusstsein, dass ich ein Zuhause in mir selbst habe. Das Bewusstsein, dass ich mir selbst Bindung geben kann - die Bindung zu meinem wahren Wesenskern. Die Erkenntnis, dass ich nicht einsam bin in dieser Welt, sondern dass dies nur verblasste, nicht-reale Gefühlszustände eines psychotisch verstörten Kindes sind, welche ich durch Bewusstwerdung und Beschreibung immer mehr aufzulösen vermag. Dass ich nicht mehr die Krankheit bin, sondern eine Distanz zwischen mir und dieser Krankheit herrscht, aus derer ich die Krankheit beschreibe. Auch wenn ich an manchen Tagen wieder mehr die Krankheit bin, so halte ich sie an anderen Tag wieder weiter auf Distanz. Heilung braucht Geduld, Beständigkeit, Mut, absolute Offenheit und die Erkenntnis, dass alles in Wellenformen abläuft. So wie Gedanken und Gefühle kommen und gehen wie die Wellen am Meeresufer, so kann ich mich auch in einem stetigen, iterativen und geduldigen Prozess aus der Krankheit heraus entwickeln, muss aber akzeptieren, dass sie hin- und herschaukelt und sich nicht einfach abstreifen lässt. Es geht um Entwicklung gestörter, verletzter, verkapselter und dadurch retardierter Persönlichkeitsanteile. Es geht um Entwicklung von Selbst-Bewusstsein - das Bewusstsein über sich Selbst.
Ich wollte Dir von mir erzählen, um Dir zu zeigen, dass eine intensive Psychotherapie viel Gutes bewirken kann. Neben den oben erwähnten Eigenschaften, welche ich für die Genesung für grundlegend halte, konnte ich von der langjährigen Erfahrung eines sehr weitblickenden Therapeuten profitieren. Einer meiner Leitsätze heute lautet: Nur über Geduld. Du hast, so wie ich auch, noch sehr viel Lebenszeit Dich selbst zu erkunden und Dein Leben trotz aller Störungen möglichst gesund einzurichten. Ich wünsche Dir einen sehr guten Therapeuten, eben diese Ruhe und Geduld und den Mut, Dich weiterhin den tiefen Ängsten und Störungen in Dir zu stellen, auf dass Du Bewusstsein über Dich selbst erlangst. Über das, was Dir widerfahren ist. Und ich wünsche Dir Frieden, damit Du keine Zeit in Verurteilung verlierst, sondern deine Konzentration rein auf Dich selbst und Deine Bedürfnisse und Deine Genesung legen kannst. Ein Sinnieren über die mögliche Schuld Anderer (auch der Eltern) oder was hätte sein können, ist nicht zweckmäßig oder zielführend. Einzig DU alleine zählst.
Liebevoll, Zachry