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Hallo,

ich wurde am 02.12.2024 operiert (Leisten-OP), seit dieser Vollnarkose mache ich eine krasse Zeit durch. Ich bin so extrem emotional, trauere meiner Kindheit nach (komischerweise nur bis zum Jahr 1997) und habe eine Liebe zu meinem Vater entdeckt die ich in den letzten 10 Jahren immer mehr verloren habe.

Ich habe ein eigenartiges Verhältnis zu meinem Vater, ich lebe mit ihm zusammen. Seit ca. 2021 habe ich ihn immer autoritärer behandelt, weil er so gedanken- und rücksichtslos agiert. Ich habe Druck aufgebaut, in der Hoffnung damit ich es etwas leichter habe. Mein Vater ist ein rücksichtsloser, unvorsichtiger Mensch, dessen eigenen Belange über alles geht. Wenn er isst, als ob ein 3-jähriger gegessen hat. Wenn er auf Toilette ging, genauso. Meine Mutter hatte viel Arbeit mit ihm. Ich habe ihn immer gebeten aufzupassen, weil ich Vollzeit arbeite und mit der Arbeit nicht hinterherkomme. Ich habe an seinen Verstand appelliert. Weil ihm alles so egal war und er keinerlei Rücksicht genommen hat, wurde er mir egal, der Peak der Gleichgültigkeit war von Anfang 2021 bis vor einem Monat. Seit zwei Monaten schläft er schlecht, einen Monat lang war es mir egal, aber seit der Vollnarkose hat sich das bei mir geändert. Ich bin so extrem emotional und habe Angst ihn zu verlieren. Es ist als ob ich aus einem Alptraum aufwache und sich meine Seele übergeben hat.

Ich kann ihn bis heute nicht einschätzen obwohl ich Menschen lesen kann, ich weiß nicht ob er ein dominanter, toxischer Narzisst ist (dessen Wohlbefinden über alles geht) oder ein liebender Vater.

Ich weiß das hier der falsche Ort für eine Diagnose ist, ich habe in den letzten Tagen so gekämpft (mehr als 25 Telefonate) und konnte für den 16.01.2025 ein Erstgespräch bei einer Psychotherapeutin bekommen.

Ich bin männlich, ich bin 1981 geboren. Ich wurde sehr früh an eine Ganztagspflege abgegeben (mit ca. 12 Monaten) weil beide Elternteile Vollzeit gearbeitet haben. Im Kindergarten wurde ich als erstes abgegeben und als letztes abgeholt, im Kinderhort genauso.

Mein Vater hat ein paar Mal meine Mutter verprügelt, ich habe sie oft auseinander gehalten. Ich wurde mit 15 von einer depressiven Mutter sehr stark vereinnahmt, sie hat abends ab 21:00 Uhr mich gebeten sie ins Schlafzimmer zu begleiten. Zu der Zeit hat mein Vater bereits das Schlafzimmer verlassen und im Wohnzimmer geschlafen, weil meine Mutter ihn nicht mehr ertragen konnte und sie extreme Schlafstörungen hatte.

Sie hat dann neben mir oft geweint, ohne Schluchzen, sie hat ins Leere geguckt und einfach nur dicke Tränen geweint, ich habe dann in der Regel immer den Clown gespielt, getanzt, Grimassen geschnitten und sie versucht aufzuheitern. Sie hat zu der Zeit auch einen extremen Wasch- und Hygienezwang aufgebaut. Ich war oft alleine mit ihr, ich liebe sie über alles, aber ich war mit der Situation extrem überfordert. Ich habe einen Vater der Ende der 80er und die gesamten 90er einen Verfolgungswahn aufgebaut hat, er hat mir das sogar offen mitgeteilt das wir verfolgt werden und in unsere Wohnung eingebrochen wird wenn wir nicht da sind. Ich denke er hat meine Mutter in die Depression getrieben. Meine Eltern haben mich wie ein rohes Ei behandelt, haben mir nie etwas zugetraut (haben immer gesagt „das kann der nicht“) und mich von jeglicher Verantwortung ferngehalten.

Meine Eltern haben sich insgesamt zweimal getrennt, Ende 1998, dann 2004 wieder zusammengezogen, 2010 wieder getrennt, 2014 habe sie sich vertragen aber leben in getrennten Haushalten.

Mein Leben ist geprägt von Ängsten: Versagensängste, Bindungsängsten, Angst vor Intimitäten (nicht sexuell, sondern Umarmen etc.). Meine Bindungsängste und Verlustängste sind so stark, wenn ich mit einer Frau bin und dann so etwas wie Liebe aufkommt, überkommen mich Zwangsgedanken dass sie mich verlässt. Dann habe ich mich so in Rage gedacht, das ich mich übergeben musste, die Beziehungen habe ich dann natürlich alle beendet. Deswegen bin ich mit 43 kinderlos.

Ich bin antriebslos, habe aber genug Verantwortungsbewusstsein um die alltäglichen Dinge immer zu erledigen.

Seit 2017 habe ich einen Waschzwang. Es begann langsam. Mein Vater hat 2017 Blasenkrebs gehabt, durch seine Behandlung musste er oft auf Toilette, ich hatte keine freie Sekunde auf der Toilette ohne Angst haben zu müssen das er klopft und sagt das er dringend auf Toilette muss. Es ging so weit das ich vor Angst Verstopfung bekommen habe, weil ich Angst hatte das er jeden Moment klopft.

Er hat sich auch immer nur 10 Sekunden die Hände gewaschen. Dadurch habe ich mich geekelt Sachen anzufassen die er auch angefasst hat. Dadurch wurde mein Waschzwang ausgelöst. Um meine Ruhe zu haben, gehe ich heute immer auf Toilette wenn er gerade auf Toilette war.

Auch ist es so das ich auf öffentlichen Toiletten nicht gehen kann, oft fehlen dort Seife, Einmalpapiertücher (stattdessen diese Puster – die ich nicht benutze) oder ich muss die Türgriffe nach dem Händewaschen anfassen. Da ich mir auch die Hände mindestens 1 Minute wasche ist mir das unangenehm das jemand das sehen könnte.

Alle Symptome zusammengefasst:

- Das Gefühl das alles dunkel ist

- Innere Unruhe kombiniert mit Aufgeregtheit (geht so weit das ich mich übergeben muss und Durchfall bekomme)

- Unfähigkeit Liebe zu empfinden

- Pessimismus

- Kontrollzwang

- Schuldgefühle

- Kein Spaß an etwas

- Zwangsgedanken

- Jähzornig

- Extrem gut im Erkennen von schwächen von anderen

- Bindungsängste

- Verlustängste

- Extreme Glorifizierung der Kindheit

- Perfektionismus

- Kritikunfähigkeit

- Große Probleme mit Zurückweisung

- Gestörtes Zeitempfinden

So richtig Glück gefühlt habe ich zuletzt im Jahr 2000. Schlafstörungen immer mal wieder, aber nicht im extremen Maße. Seit zwei Wochen gab es aber Nächte wo ich gar nicht geschlafen habe oder nur 1 – 2 Stunden. Ich bin mir bewusst das ich seit mindestens 23 Jahren höchst depressiv bin.

Mein Zeitempfinden ist leider extrem gestört, Sachen die ewig lange zurückliegen kommen mir gar nicht so lange vor, ich muss dazu sagen das ich ein sehr gutes Erinnerungsvermögen habe.

Ich habe einen Kontrollzwang anderen gegenüber (generell meinen Eltern gegenüber), gehe auf der Arbeit den Weg des geringsten Widerstands, nicht weil ich Angst vor Konfrontation habe, sondern weil ich Angst habe das ich explodiere weil ich so jähzornig bin und das dann Konsequenzen haben könnte. Im privaten Leben versuche ich alles richtig zu machen um mit allen klarzukommen, auch wahrscheinlich eine Taktik um Konfrontationen aus dem Weg zu gehen.

Heute 10:42 • 14.01.2025 #1


2 Antworten ↓


Moin,
das ist ja wirklich eine ganze Menge, was du da im Gepäck hast.
Es ist verständlich, dass du in der aktuellen Lage das dringende Bedürfnis hast, dich sowie dein Erleben und Verhalten besser zu verstehen. Ging mir vor gute 10 Jahren ganz ähnlich, als sich gewisse Symptome gehäuft hatten.

Ohne der Therapeutin vorgreifen zu wollen, hier ein paar Gedanken zu dem, was du geschrieben hast:

Zitat von Golf:
aber seit der Vollnarkose hat sich das bei mir geändert. Ich bin so extrem emotional und habe Angst ihn zu verlieren. Es ist als ob ich aus einem Alptraum aufwache und sich meine Seele übergeben hat.

Das erinnert mich an einen Mitpatienten aus meiner Bezugsgruppe in der Reha, dem nach einer Vollnarkose eine Reihe von ziemlich üblen Dingen aus seiner Kindheit, an die er sich vorher gar nicht erinnern konnte, wieder bewusst geworden sind. Den hat es - ähnlich wie dich auch - ganz ordentlich aus der Bahn geworfen.

Deine Familienverhältnisse scheinen auch nicht wirklich einfach gewesen zu sein:
Zitat von Golf:
Ich wurde sehr früh an eine Ganztagspflege abgegeben (mit ca. 12 Monaten) weil beide Elternteile Vollzeit gearbeitet haben. Im Kindergarten wurde ich als erstes abgegeben und als letztes abgeholt, im Kinderhort genauso.

Klingt danach, als wären beide Eltern weder physisch noch emotional ausreichend präsent gewesen.

Zitat von Golf:
Mein Vater hat ein paar Mal meine Mutter verprügelt, ich habe sie oft auseinander gehalten.

Häufige Konflikte und Streits in der Familie, in die auch die Kinder mitreingezogen werden, sind ein gewisser Risikofaktor.

Zitat von Golf:
Ich war oft alleine mit ihr, ich liebe sie über alles, aber ich war mit der Situation extrem überfordert.

Hier hat sich wahrscheinlich eine Art Rollenumkehr entwickelt - nicht die Mutter hat sich um dich gekümmert, sondern du musstest dich um die Mutter kümmern. Man nennt sowas Parentifizierung. Das ist ebenfalls eine Risikofaktor, weil du schon früh gezwungen worden bist, eine Verantwortung zu übernehmen, der du nicht gewachsen warst.

Zitat von Golf:
Ich habe einen Vater der Ende der 80er und die gesamten 90er einen Verfolgungswahn aufgebaut hat, er hat mir das sogar offen mitgeteilt das wir verfolgt werden und in unsere Wohnung eingebrochen wird wenn wir nicht da sind. Ich denke er hat meine Mutter in die Depression getrieben.

Klingt entweder etwas paranoid-psychotisch oder zumindest zwanghaft. In jedem Fall sind psychische Erkrankungen in der Herkunftsfamilie - wie du es erlebt hast - ebenfalls eine ziemliche Belastung für die Familienmitglieder.

Zitat von Golf:
Meine Eltern haben mich wie ein rohes Ei behandelt, haben mir nie etwas zugetraut (haben immer gesagt „das kann der nicht“) und mich von jeglicher Verantwortung ferngehalten.

Diese Form von Überbehütung kann zum einen den Zweck verfolgen, die andere Seite abhängig zu machen, um sie besser zu kontrollieren und zum anderen wirkt sich so ein Verhalten sehr negativ auf die Selbstwertentwicklung aus.

Zitat von Golf:
Meine Eltern haben sich insgesamt zweimal getrennt, Ende 1998, dann 2004 wieder zusammengezogen, 2010 wieder getrennt, 2014 habe sie sich vertragen aber leben in getrennten Haushalten.

Klingt für mich nach dem verzweifelten On-Off zweier unglücklicher Menschen, die weder mit- noch ohne einander können.
Für Kinder, die das von außen mit ansehen müssen, ist das kein wirklich hilfreiches Beziehungsmodell.

Zitat von Golf:
Versagensängste,

Die mit größter Sicherheit vor allem mit einem relativ niedrigen Selbstwert zu tun haben.

Zitat von Golf:
Meine Bindungsängste und Verlustängste sind so stark, wenn ich mit einer Frau bin und dann so etwas wie Liebe aufkommt, überkommen mich Zwangsgedanken dass sie mich verlässt. Dann habe ich mich so in Rage gedacht, das ich mich übergeben musste, die Beziehungen habe ich dann natürlich alle beendet.

Durch das ziemlich problematische Verhältnis zu deinen Eltern hat sich bei dir höchstwahrscheinlich ein sog. unsicher-ambivalenter Bindungsstil entwickelt. d.h. du hast gelernt, dass Bindung zwar etwas Positives ist, man dabei aber auch immer auf der Hut sein muss, weil man nie weiss, was noch kommt. In Verbindung mit Minderwertigkeitsgefühlen kann genau das passieren, was du beschreibst.

Zitat von Golf:
Ich bin antriebslos, habe aber genug Verantwortungsbewusstsein um die alltäglichen Dinge immer zu erledigen.

Nicht umsonst gibt es den Begriff der hochfunktionalen Depression.

Zitat von Golf:
Seit 2017 habe ich einen Waschzwang.

Höchstwahrscheinlich das Ergebnis der schwierigen Situation mit dem übergriffigen Verhalten des Vaters in Kombination mit deiner Unsicherheit sowie der von den Eltern angezüchteten Übervorsichtigkeit.

Nimmt man das alles zusammen, mehren sich Hinweise auf ein sog. Entwicklungstrauma. Das ist die Summe früher, tagtäglicher kleinererer oder größerer Bindungstraumata (emotionale Vernachlässigung, Parentifzierung, körperliche Gewalt usw.). Diese Art der Traumatisierung hat sehr umfassende Auswirkungen auf sehr viele Bereiche des Lebens und könnte mit großer Sicherheit die gesamte Liste deiner Symptome besser integrieren.

On top gibt's dann auch noch Sekundärthematiken, die auf dem Boden des Entwicklungstraumas sehr gut gedeien (Angst, Zwang, Depression. Persönlichkeitsakzentuierungen bzw. -stile usw.).

Vielleicht hilft dir das schon mal ein Stück weiter ...

Vielen, vielen Dank für deine Mühen.

Es kommt mir so vor als ob all mein Erlebtes wie eine Wasserleiche in gewissen Abständen immer wieder hoch kommt. Ich habe so große Hoffnungen in die Psychotherapie, alternativ um die Depression in den Griff zu bekommen würde ich gern noch mal SSRIs probieren, auch wenn Paroxetin 20 mg vor Jahren gar nichts gebracht hat, habe ich Hoffnung in Sertralin.

Ich will mich damit auch nicht selbst sedieren, erst nach dem ich mich im jetzigen Zustand einer Therapeutin geöffnet habe, will ich SSRIs nehmen, damit nichts verfälscht wird.

Was mich so dermaßen schafft ist das mein Zeitgefühl so schlecht ist, das soviele Jahre vergangen sind und ich es nicht bemerkt habe. Eventuell eine Midlife-Crisis oder wirklich die Vollnarkose. Und meine extreme Emotionalität ist wirklich sonderbar.

Vielleicht bin ich vom Empfinden einfach auch ein sensibler Typ, andere mit ähnlicher Kindheit funktionieren gut, sind verheiratet, haben Kinder etc.





Prof. Dr. med. Ulrich Hegerl
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