Da können wir uns ja im Geiste die Hand reichen, berliner.
Chronische Erkrankungen im Kindesalter sind sehr schwer zu verarbeiten, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, und komischerweise kommt kaum ein Arzt jemals auf den Gedanken, dass solche Kinder vielleicht einer besonderen Aufmerksamkeit und Betreuung durch geschultes psychologisches Fachpersonal bedürfen.
Hier meine Geschichte und wie ich damit umgehe:
Ich hatte damals eine Gefäßentzündung am Auge, Wucherungen im Glaskörper und an der Netzhaut und Zellen, die dort gar nicht hingehören. Wir wurde öfter der Augapfel aufgeschnitten und das ganze schädliche Gewebe komplett entfernt, auch die Glaskörperflüssigkeit mitsamt der bösartigen Zellen darin. Aber ich musste auch viele Medikamente schlucken, um die Prozesse zu verlangsamen, die mein Auge nach und nach zerstören wollten. Seit einigen Tagen sehe ich wieder etwas schlechter, und nächsten Mittwoch fahr ich als Notfall zur Spezialsprechstunde in die Klinik. Ich hab einen heiden Schiss, dass die ganze schei. wieder von Vorne los geht, nachdem ich jetzt 2, 3 Jahre lang endlich mal richtig Ruhe hatte. Und es macht mich rasend, bis nächsten Mittwoch auf ein Ergebnis warten zu müssen, aber die fachkundigen Ärzte sind nur am Mittwoch dort, die Anderen kann man erfahrungsgemäß in die Tonne kloppen. Vielleicht ist die Krankheit wieder neu aufgeflammt, vielleicht sind es nur alte abgestorbene Zellen, die sich zusammen geklumpt haben und das Sehen behindern.. ich hoffe Letzteres. Ich kann mit der Tatsache gut leben, dass ich für immer schlecht sehen werde, weil das Gewebe eben irreparabel geschädigt ist. Aber beim Gedanken daran, dass ich vielleicht wieder ins Krankenhaus oder Tabletten nehmen muss, krieg ich das kalte Kotzen.
Was wohl zeigt, dass man so ein Trauma niemals komplett hinter sich lassen wird.
Ich glaube, einen kleinen Knacks wird man für immer behalten, wenn man als Kind so schwer krank war. Die Kunst ist, die Sache abzuhaken und so weit wie möglich zu verarbeiten, damit man dann frohen Mutes nach Vorne schauen kann.
Bei mir wurde mit 6/7 Jahren eine chronische, unheilbare Krankheit diagnostiziert, und in all den Jahren, in denen ich daran litt, hab ich nicht einen einzigen Therapeuten gesehen. Meinen Eltern hat auch nie ein Arzt dazu geraten, was ich bis heute völlig unverständlich finde. Ich kann mich noch an entsetzliche Szenen aus dem Krankenhaus erinnern. Zum Beispiel daran, dass mein Papa eines Abends auf meinem Bett weinend zusammen gebrochen ist, als er meinte, ich würde schon schlafen, oder daran, dass ich am Wochenende manchmal aus lauter Mitleid von den Ärzten Heim geschickt wurde und dann mit samt der Kanüle für Infusionen in meiner Hand zwischen meinen Eltern im Bett schlafen durfte, bis ich am Sonntag Abend wieder ins Krankenhaus musste. Daran, dass ich oft aus der Klinik auszubrechen versucht habe, oder daran, wie meine Schwester im Aufzug geweint hat, weil ich gegen die Türen getrommelt und geschrien hab, dass sie mich nicht alleine lassen sollen, als meine Familie am Abend Heim fahren und ich im Krankenhaus bleiben musste. Ich erinnere mich daran, dass ich oft Nachts weinend aufgewacht bin, oder daran, dass ich eine Zeit lang Geräusche gehört habe, die nicht da waren, und immer bei der Nachtschwester auf der Couch schlafen wollte, damit ich nicht alleine bin. Ich weiß noch, dass meine Grundschullehrerin sagte: „Ach Bianca, du bist auch mal wieder da!“ als ich nach 8 Wochen Krankenhaus endlich mal wieder in die Schule konnte, und auch erinnere ich mich daran, dass ich beim Sport immer als Letzte gewählt wurde, weil ich in der Grundschule keine Freunde hatte – ich war ja nie da. Ich war immer 6-8 Wochen entweder in der Spezialklinik oder in der Kinderklinik, und dann 1-3 Wochen daheim, dann musste ich wieder in die Klinik. Das zog sich bei mir ewig hin. Irgendwann, da war ich schon im Gymnasium, konnte ich dann wenigstens länger Zuhause bleiben als wie ich in die Klinik musste, und inzwischen war ich schon seit Jahren nicht mehr über Nacht dort, sondern muss nur noch zur Kontrolle alle 6 Monate hin. Ich hab allerdings bis vor 3 Jahren noch die Chemo machen müssen, am Ende nur noch einmal die Woche, immer Samstags war das bei mir, weil mir davon so schwindlig wurde und ich den Rest des Tages im Bett verbringen musste.
Noch heute bekomm ich sofort einen Brechreiz, wenn ich etwas esse, das auch nur ansatzweise wie die Kortison-Tabletten schmeckt, die ich früher immer schlucken musste. Und bis heute weigere ich mich stoisch, Tabletten zu nehmen, die nicht wirklich notwendig sind, weil ich in meiner Kindheit täglich 10 oder mehr von den Teilen einwerfen musste und damit nur Schlechtes verbinde. Und ich halte es in rein weißen Räumen nicht lange aus. Diese Angst vor dem Krankenhaus hab ich noch immer, obwohl ich seit Jahren nicht mehr dort bleiben musste. Als ich vorletztes Jahr mein Zimmer neu gestrichen hab, hab ich eine einzige Wand schön weiß lassen wollen – ging nicht. Ich hab Angstzustände bekommen, bis die Wand orange überstrichen war. Dann konnte ich wieder ruhig schlafen.
Das alles sind Erinnerungen an meine Kindheit, den Rest hab ich, wohl aus Selbstschutz, vergessen und verdrängt. Ich erinnere mich heute auch nur ungern an die Sache zurück, aber: Man muss darüber sprechen können. Man muss das raus lassen und darüber sprechen können. Manchmal kann ich’s neutral berichten, manchmal, jetzt zum Beispiel, muss ich weinen, wenn ich mich daran erinnere. Beides ist normal, hat eine Therapeutin mal zu mir gesagt. Aber es ist wichtig, dass man erzählt, was man noch weiß und was einem Angst gemacht hat. Ich bin auch sehr froh, dass ich das inzwischen kann.
Richtig hinter mir gelassen hab ich meine Krankheit erst vor ein paar Jahren. Nämlich ab dem Zeitpunkt, in dem ich sagen konnte: „Hey, das war mal, das liegt hinter dir. Die Krankheit ist ein Teil von dir, aber sie macht dich nicht aus.“
Diese Erkenntnis, dass mich die Erinnerungen für immer begleiten werden, aber die Krankheit mich nicht ausmacht, die war für mich sehr, sehr wichtig. Seitdem bin ich auch diese schlimmen Schuldgefühle los, die ich meiner Familie gegenüber so lange hatte. (Weil ich fand, ich hätte ihr Leben mit meiner Krankheit verdorben.)
So eine schlimme Krankheit hinterlässt ihre Spuren, das ist klar, aber ein weiterer riesen Schritt auf dem Weg, die Belastung hinter sich zu lassen, ist die Erkenntnis, dass man kein Opfer ist, sondern ein Überlebender. Hab neulich mit meinem Onkel gesprochen, der hatte mehrmals Krebs im Kopf, und wir bekommen oft gesagt, dass wir Beide so gut damit umgehen können, jetzt im Nachhinein. Wir haben uns darüber unterhalten und sind der Meinung: Ab dem Moment, in dem man sich nicht mehr als hilfloses Opfer, sondern als Sieger über die Krankheit betrachtet, ab da geht’s bergauf. Es ist nämlich ein riesen Unterschied, ob man sich als passives Opfer der Krankheit oder des Schicksals sieht, oder als aktiver Kämpfer, der zwar vom Leben etlichen Dreck vor die Füße geworfen bekommen hat, aber damit umgehen kann.
Und dann meinen wir Beide noch, dass Ablenkung und eine feste Verankerung im Leben auch viel dabei helfen, damit klar zu kommen. Wer sich viel um Andere kümmert und mit beiden Beinen fest im Leben steht, wer eine Aufgabe hat und gebraucht wird, der kommt über ein schlimmes Erlebnis leicht hinweg. Meistens gelangt man dadurch auch zu einer gewissen sozialen Kompetenz. Sowohl mein Onkel als auch ich, wir hatten und haben Beide einen starken Rückhalt durch die Familie, und wir haben Beide ein großes Herz und engagieren uns gern und arbeiten im Alltag viel mit anderen Menschen zusammen.
Das hab ich aber Alles für mich selber heraus finden und erarbeiten müssen. Eine Therapie dazu hab ich nicht gemacht, auch keine Selbsthilfegruppe oder andere Kranke konnten mir dabei helfen. Ich hab das Trauma zu großen Stücken ganz alleine abgearbeitet, immer mal wieder ein Stück, über die letzten 3, 4 Jahre.
Ich kenne daher auch leider keine Selbsthilfegruppe und kann dir keine empfehlen, sorry. Der Austausch mit anderen Betroffenen war für mich stets eine Sackgasse. Ich hab fest gestellt, dass andere Betroffene mit meiner Krankheit mich meistens sehr runter ziehen durch ihre Hoffnungs- und Mutlosigkeit. Das hilft mir nicht, das schadet mir eher.
Aber so ein Trauma hat auch was Gutes. Menschen, die das überstehen, die gehen aus der Sache sehr gefestigt heraus ins Leben. Die sind quasi unerschütterlich und können mit Allem, was das Leben ihnen so hinwirft, sehr gut umgehen.
Hier ein Zitat:
Zitat: Clark und Hanisee untersuchten den Lebensweg von aus Entwicklungsländern adoptierten Kindern, die unterernährt waren und traumatische Kindheitserfahrungen gemacht hatten. Die Kinder wurden von amerikanischen Familien aus der oberen Mittelschicht adoptiert. Entgegen der Annahme, dass diese Kinder unter schweren Beeinträchtigungen leiden würden, erwiesen sie sich als überdurchschnittlich intelligent und überdurchschnittlich sozial kompetent. Beim Peabody Picture Vocabulary Test erreichten sie einen IQ von 120, auf der Vineland Social Maturity Scale erreichten sie im Schnitt 137 Punkte. 100 Punkte gelten als Durchschnitt, 137 als außerordentlich gut. Clark und Hanisee kamen zu dem Ergebnis, dass unterernährte und traumatisierte Kinder sich als erstaunlich resilient erweisen, wenn sie in stabile Familienverhältnisse adoptiert werden.
Unter Resilienz wird die Fähigkeit verstanden, schwierige Lebenssituationen erfolgreich zu meistern. Resiliente Personen haben typischerweise eine Reihe von Eigenschaften:
Sie gehen mit Stress effektiv um.
Sie haben gute Problemlösefähigkeiten.
Bei Problemen bitten sie um Hilfe.
Sie glauben, dass es Möglichkeiten gibt, mit Lebensproblemen umzugehen.
Ihre Beziehungen zu Freunden und Familienmitgliedern sind eng.
Mit Freunden und Familie sprechen sie über das Trauma und ihre Gefühle.
Sie sind oft spirituell/religiös eingestellt.
Statt als „Opfer“ (victim) sehen sie sich als „Überlebende“ (survivor) – diese Unterscheidung im Englischen betrifft, ob sich die traumatisierte Person als passiv und hilflos („Opfer“) erlebt oder als stark und selbstbestimmt, in der Regel in Verbindung mit einem bewussten Umgang mit dem Trauma („Überlebender“).
Sie helfen Anderen.
Sie versuchen, dem Trauma etwas Positives abzugewinnen.
Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, aber ich würde mir nicht (mehr) wünschen, die Krankheit nie gehabt zu haben. Es war eine schlimme Zeit und es waren viele schwere Jahre, aber sie haben mich auch zu dem gemacht, der ich heute bin, und das find ich gut. Sie hat dafür gesorgt, dass ich mich entwickelt hab und sie hat mich geprägt und geformt. Im negativen, aber auch im positiven Sinne. Vielleicht tut dir der Austausch aber ganz gut, da muss jeder seinen eigenen Weg finden. Google doch mal nach Vereinen oder Selbsthilfegruppen in deiner Region.
Ich hab nur das hier gefunden, vielleicht kennst du die Seite aber auch schon:
http://www.traumatherapie.de/users/schu ... ubbe1.htmlIch wusste übrigens gar nicht, dass du früher einmal Krebs hattest. Erzähl doch ein bisschen mehr davon. Es ist wichtig, dass man das kann, ehrlich. Die Dinge in sich hinein zu fressen und runter zu schlucken ist keine gute Strategie, um das Trauma zu bewältigen. Ich weiß, dass wir uns nicht immer ganz grün miteinander sind, aber die Krankheit wirft ein ganz neues Licht auf dich. Vielleicht ist das wirklich der Kern deiner Probleme. Ich hab selber lange Zeit in einer entwicklungstechnischen Sackgasse gesteckt, konnte mich selber nicht leiden, hatte Schlafstörungen und diverse psychische Probleme, war irgendwie einfach „off-balance“. Erst, als der Knoten geplatzt ist und ich meine Krankheit hinter mir lassen konnte -erst so ab 18, also über 10 Jahre nach dem Ausbruch!- da ging es mir wieder besser, und heut geht’s mir ganz gut damit. Ich muss mich allerdings schon dazu überwinden, die Erinnerungen zu zu lassen. Wie du selber schreibst: Es fällt oft sehr schwer, davon zu erzählen, weil mit den Erinnerungen auch die ganze kindliche Ohnmacht mit hoch kommt, und das macht einem Angst. Auch Jahre später noch, wenn man schon groß ist.
Aufgewühlte Grüße,
Bianca