Verstehe Dich so gut, kannst Du mir glauben. Ich möchte Dir nun ein Experiment vorschlagen. Lies mal bitte folgende Zitate
aus der Sicht einer Mutter/Oma, deren
erwachsene Tochter sie erstmalig offen ausspricht:
Zitat von Flaschengeist: Ich weiß, dass ich nicht umkippen will, weil ich dann meine mich zu blamieren, weil ich dann im Mittelpunkt stehe.
Zitat von Flaschengeist: aber dann kommen wieder Gedanken - wer kümmert sich um die Kinder?
Zitat von Flaschengeist: Wer kann meine Kurze von der Schule abholen?
Zitat von Flaschengeist: mache seit 15 Jahren das Beste draus.
Zitat von Flaschengeist: ich bekomme Lob und Bestätigung, habe keine Zeit zu grübeln.
Zitat von Flaschengeist: Mir ist aufgefallen, dass ich an meinen zwei freien Tagen eher in ein Loch falle. Andererseits, und da komme ich wahrscheinlich wieder zur Erziehung/Kindheit, möchte ich natürlich nicht, dass die Kollegen über mich reden.
Zitat von Flaschengeist: Jemand anderes muss einspringen. Dann kommt wieder mein schlechtes Gewissen... so einfach abzustellen ist das nicht.
Welche Emotion kommt Dir als erstes, ganz spontan in den Sinn?
Was würdest Du dann tun?
Vorschlag: Ein überwältigendes Mitgefühl lässt Dich die Arme ausbreiten und Deine Tochter liebevoll in den Arm nehmen, ihre Tränen trocknen und ihr sagen, dass sie und alles gut ist, so wie es ist.
Und würdest Du das auch wirklich so meinen? Ich glaube: ja!
So, und nun eine Geschichte dazu:
Wir hatten mal in einer SH-Gruppe das Thema Rückfall (es ging um A lkohol) einer Teilnehmerin. Sie war privat extrem angespannt - Kinder, Enkel und der Gesundheitszustand ihrer Mom machten Sorgen, der Mann Vorwürfe, sie wusste nicht mehr ein noch aus. Alles aussichtslos, wie sie es nannte. Deshalb griff sie einmalig zur Flasche und daraus folgten wieder furchtbare Selbstverurteilungen etc.
Die Gruppe blickte betroffen zu Boden und jeder wurde aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen. Es folgten die üblichen Phrasen, gut Gemeintes, liebenswertes etc. Nach einer längeren Erklärung des Suchtdreieckes, der Entwicklungsstufen eines Rückfalls usw. stellte unser Therapeut der Frau ganz markant eine, wie er es zu diesem Zeitpunkt nannte,
alles entscheidende Frage:
Was wünscht Du Dir?Ich glaube, mindestens 10-20 Sekunden war absolute Stille im Raum. In meinem Kopf (und Herz) ratterte es: Wie kommt er darauf, dass
wir uns etwas
wünschen könnten? Wir! Uns! Tatsächlich waren wir erst mal sprachlos. Noch nie hatte uns jemand ganz ernsthaft, ganz elementar - ganz
existenziell - danach gefragt,
was wir uns wünschen!
Irgendwann kam von ihr ganz leise die zaghafte Gegenfrage: Was ich mir wünsche? Puh, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Darf ich das überhaupt? Seit meiner Kinderzeit vor Weihnachten habe ich mich das eigentlich nie mehr gefragt.
Uns ging es ähnlich und wir äußerten uns auch dahingehend. Alle schauten den Therapeuten an und er blickte todernst jedem von uns in die Augen und meinte: Nehmt Euch genügend Zeit, aber bitte beantwortet mir alle diese Frage!
Dies war mit Abstand die lehrreichste Stunde für uns alle, wie wir ein Jahr später einhellig beim Abschlussgespräch im Nachhinein feststellten. Ich habe mir diese Frage seitdem in allen möglichen Situationen gestellt und kam im Grunde auf nur wenige, aber früher niemals reflektierte Antworten.
Der Begriff Wünschen hat etwas entwaffnend Offenes. Wünschen ist erlaubt, es darf Teil unseres Wesens sein. Und Wünschen hat überhaupt nichts mit Müssen, Sollen, Verantworten etc. zu tun.
Unsere Wünsche sind wir!Ich erzähle Dir diese Geschichte deshalb, um Dich a) darum zu bitten, Dir diese Frage mal ganz offen und ehrlich zu stellen und zu beantworten. (Du wirst merken, dass alleine das Stellen dieser Frage mitunter Tränen auslösen kann). Und b): Frage Dich, wie es soweit kommen konnte, dass Du Dir dies genau heute wünscht.
Zitat von Flaschengeist: Wissen und Einsicht sollte doch der erste Schritt zur Besserung sein, oder? Aber ich merke es nicht.
Der erste Schritt
ist noch nicht die Besserung. Aber er bestimmt die
Richtung dahin. Wenn Du (versinnbildlicht) auf dem falschen Weg, falsch abgebogen bist, musst Du, bevor Du die Strecke zurück gehst, Dich zuerst umdrehen, die
Richtung ändern.
Wissen und Einsicht stellen diese Richtungs
änderung dar. Vielleicht bedarf sie im Laufe des Wegen noch der ein oder anderen Nachjustierung, aber die grobe Richtung wird stimmen, wenn Du Dir ehrlich Deine o. g. Antwort zu Herzen nimmst.
Erst wenn die Richtung stimmt, ist der Weg tatsächlich ein Teil des Zieles.