Hallo Marilie,
ich weiß nicht, ob du meine Antwort ein Jahr nach deiner Anfrage noch zu lesen bekommst, aber ich habe mich in deinen Ausführungen sehr gut wiedergefunden. Ich schreibe natürlich gerade, weil ich eine wichtige Aufgabe noch eine Weile aufschieben möchte, aber auch weil ich dadurch gerade in einer Situation bin, die ziemliche Klarheit verschafft.
Ich kann hier nur meine eigene Situation beschreiben, vielleicht erkennst du aber einiges wieder.
Mich hat das Aufschieben schon oft an den Rand der Verzweiflung gebracht und dieselben Muster wiederholen sich seit etlichen Jahren immer und immer wieder.
Wenn man physiologische (z.B. Schilddrüsenunterfunktion), neurologische (Hirntumor oder son Zeug) und psychiatrische (z.B. Depression) Ursachen ausschließen kann, dann bleiben nur noch schlechte Gewohnheiten, die auf die Dauer Teil der Persönlichkeitsstruktur geworden sind oder aus dieser hervorgegangen sind.
Ein Problem entsteht, wenn man gewisse Dinge erreichen möchte, aber keine Selbstdisziplin aufbringen kann um die Sachen anzugehen und zu Ende zu bringen. Wenn die Gewohnheiten über lange Zeiträume bestehen, so werden sie tief in der Persönlichkeitsstruktur verankert und können nur mühsam wieder abgelegt werden.
Ich kann von mir behaupten, dass ich generell recht genügsam bin und keine großen Ambitionen habe. Zum Beispiel kann ich stundenlang Vögel beobachten oder sehr lange im Bett liegen und an die Wand starren, ohne dass mir langweilig werden würde. Ich entdecke schnell die Komplexität in Aufgaben und Situationen und fühle mich ebenso schnell überfordert, wenn zu viele Parameter Situationen bestimmen. Vielleicht könnte man mich auch ein wenig perfektionistisch nennen (Was kein Widerspruch zu den geringen Ambitionen ist). Ich bin ungerne sozialen Situationen ausgesetzt und fühle mich in menschlichen Beziehungen jedweder Art leicht überfordert. Menschen beschreiben mich als gesellig und empathisch, jedoch kennen sie scheinbar nicht den Preis, den ich dafür zahle: nämlich ein ständiges zu viel an Gefühlen und gedanklichen Assoziationen. Am liebsten bin ich für mich allein und lese oder beobachte andere Charaktere aus der sicheren Entfernung via TV Serien oder dergleichen. Ich stehe nicht gerne im Rampenlicht und habe nur wenige Freunde, denen ich jedoch ziemlich viel anvertrauen kann.
Ich bin recht sensibel und hinterfrage viel. Gespräche in denen viel Mist erzählt wird (z.B. small talk) finde ich meist sehr nervig, weil ich mich unnötig mit Falschinformationen und Nichtigkeiten bombardiert fühle.
Zwängen bin ich sehr ungern ausgesetzt, besonders, wenn ich keinen Sinn darin sehe.
Soviel grob zu meiner Persönlichkeitsstruktur. Ich weiß nicht wie ich derjenige geworden bin, der ich jetzt nun einmal bin (Erziehung, Gene), jedoch bin ich mir ziemlich sicher, dass Persönlichkeitsstrukturen über lange Zeiträume konstant bleiben, wenn nicht starke Ereignisse eingreifen. Ich muss mich also irgendwie mit meinen Charaktereigenschaften arrangieren.
Ein großer Nachteil ist, dass es mir schwer fällt Routinearbeiten zu erledigen und generell Aufgaben anzugehen, die anstehen. Das heißt, ich fange erst an zu spülen, wenn kein sauberes Geschirr mehr da ist und an zu waschen, wenn ich nichts Sauberes mehr zum Anziehen habe. Papierkram wie Überweisungen kann ich über Wochen vor mir herschieben. Aufgaben für die Uni habe ich schon auf den allerletzten Drücker erledigt (das heißt ppt-Vortrag erst 5 Minuten vor Beginn des Seminars fertiggestellt oder auch mal gar nicht) und schon unzählige Male im letzten Klausurversuch gesessen. Entsprechend liege ich alles andere als in der Regelstudienzeit.
Warum fächere ich hier so breit meine Persönlichkeit aus?
Weil ich denke, dass es einen Zusammenhang zwischen der Eigenbrötlerei und dem Aufschieben bei mir gibt. Dadurch, dass ich mir eine Welt geschaffen habe in der ich kaum Zwängen ausgesetzt bin, fällt es mir schwer mich wirklich wichtigen Zwängen zu unterwerfen.
Es gibt Menschen, die praktisch den ganzen Tag von einer Aufgabe zur anderen hetzen und damit in einem ständigen workflow stecken. Diese Persönlichkeiten erledigen am Tag 50 Dinge und wenn man ihnen eine 51. Aufgabe aufträgt, dann kann man davon ausgehen, dass diese auch noch geschafft wird.
Wenn bei mir jedoch am Tag zwei Verpflichtungen anstehen, komme ich schon ins Schwitzen. Viele Menschen sind in sozialen Strukturen fest eingeflochten, so dass sie so gut wie gar keine Wahlmöglichkeit haben (zum Beispiel der Kinder wegen). Durch jahrelanges eintrainieren, sind ihnen manche Dinge auch in Fleisch und Blut übergegangen, so dass Gewohnheiten an Stelle von Selbstdisziplin getreten ist.
Das Aufschieben ist ein Phänomen das mit Handlungsfreiheit zusammenfällt. Wer viel Handlungs- und Planungsfreiheit hat, kann aufschieben. Wenn man eine Persönlichkeit ist, die die Freiheit zum Atmen braucht und sein Leben entsprechend gestaltet, braucht man Selbstdisziplin um Projekte durchzusetzten.
Wenn man nie gelernt hat Selbstdisziplin zu kultivieren und dennoch unter Bedingungen maximaler Freiheit Projekte angehen möchte, hat man ein riesen großes Problem!Und das meine ich wirklich! Meiner Erfahrung nach kann das Aufschieben wichtiger Dinge ganz locker zur Todesursache werden. Sei es durch Suizid oder durch psychosomatische Erkrankungen durch den riesigen Stress, dem man ausgesetzt ist.
Was also soll man tun?
So ganz habe ich das auch noch nicht aufgedröselt, aber mir tut es gut, wenn ich mir nicht zu viel und nur die wichtigen Sachen vornehme und die Dinge die dann wirklich anstehen auch zu festen Zeiten erledige.
Das hört sich sehr schwer an und ist es teilweise auch. Aber man ist sich das schuldig, wenn man sich nicht selbst auf dem Gewissen haben möchte. Wenn man Gewohnheiten über Jahrzehnte antrainiert hat, muss man zunächst ganz kleine Brötchen backen. Das heißt
zunächst extrem wenig vornehmen, aber das auf jeden Fall erledigen; das eigene Leben hängt davon ab. Ich habe auch immer versucht alles mit Selbstironie zu verklären, aber wenn man ehrlich ist, bescheißt man sich damit doch nur selbst.
Du schreibst du schaffst es nicht:
- meine Arbeit zu erledigen
- Arzttermine wahrzunehmen
- Papierkram zu erledigen...Gerade das mit dem Papierkram kann in Deutschland ganz ganz gefährlich werden.
Arzttermine die wirklich wichtig sind würde ich auch mal zu den Essentialia zählen.
Und Arbeit kann entscheidend zum Erhalt oder zum Erlangen des Selbstvertrauens und Selbstwertes beitragen. Auch wenn das keiner gerne zugibt.
Ich würde sagen auf die Sachen kannst du nicht verzichten, wenn du ein angenehmes Leben in Deutschland führen möchtest. Wenn du bereit bist die Konsequenzen zu tragen, kannst du natürlich auch darauf verzichten.
Aber wenn du das nicht möchtest, bleibt dir nur Verpflichtungen mit dir selbst einzugehen. So unschön das auch klingt, aber es geht nicht anders.
Wir leben zwar in einer Luxusgesellschaft, aber wir leben noch nicht im Paradies. Wenn eine Diskrepanz entsteht zwischen deinen Bedürfnissen und den Verpflichtungen die du bereit bist einzugehen bekommst du über kurz oder lang Schwierigkeiten und das fühlt sich mitunter grauenvoll an. Psychische Qualen stehen körperlichen da in nichts nach. Es tut einfach tierisch weh.
Also wenn du jemand bist, der wenig erreichen möchte, dann nimm dir wenig vor! (Man kann sich zum Beispiel auch mit Einweggeschirr das Spülen sparen, kaum Verträge eingehen, in einer kleinen Wohnung wohnen, wenig Wäsche besitzen, so dass sich die Waschzyklen verkürzen und man nicht so viel Dreckwäsche rumliegen hat)
Aber das,
was du dir vornimmst musst du unbedingt auch tun und zwar zu festen Zeitpunkten! Das tut am Anfang sehr sehr weh, weil die Aktivierungsenergie enorm ist, aber es muss getan werden, sonst leidet das Selbstvertrauen enorm! Die Angst steigert sich ins unendliche!
Und hier gibt es nur ein Rezept:
just do it!In Prokrastinationsseminaren wird meist mit Methoden an der Aktivierungsenergie geschraubt. Das senkt die Aktivierungsenergie jedoch selten auf Null herab. Die Überwindung bleibt zu Anfang immer bestehen. Erst mit der Zeit fallen einem die Dinge einfacher. Wenn sie irgendwann zu Gewohnheiten werden sowieso. (die meisten Leute haben keine Probleme mit dem Zähneputzen)
Aber es ist am Anfang hart. Auch wenn sich das schei. anhört. Aber es ist meine Erfahrung. Wenn man sich Dinge über Jahrzehnte antrainiert hat, kommt man selten mit einem Zauberspruch aus der Nummer wieder raus.
Du musst ganz klein anfangen und zwar jetzt! Zwing dich zum Müll rausbringen und zwar jetzt!Grüße und viel Erfolg beim zurückerobern des Selbstvertrauens!
Martin
p.s.:
Ich habe keine Ahnung, warum das Leben so anstrengend ist, aber so ist es nun mal. Das sind gewissermaßen die Spielregeln. Vor der Geburt ist man im Paradies, dann wird man in die kalte Welt geworfen, aber zum Ausgleich im besten Fall gefüttert und geliebt. Irgendwann fällt auch noch das Futter und die Liebe weg und man muss selbst den Ar. hochkriegen.
Irgendwie wird es immer anstrengender. Das ist jedoch der Preis fürs (selbstbestimmte) Leben.
Früher sind die Aufschieber schnell verreckt. Heute bekommt man die Konsequenzen erst Jahre später zu spüren. Der psychische Schmerz kann jedoch ähnlich krass zu Buche schlagen.
Nicht von Rückschlägen abschrecken lassen!
Wie gesagt, der Text hier ist auch aus der Prokrastination entstanden. Wenn es gar nicht hilft, einfach ignorieren und was anderes suchen. Ich habe jedoch bis heute nichts Besseres gefunden.