Bernie1970
Aufgrund der Notwendigkeit, mich mit Angst bzw. Angststörung auseinander zu setzen, erlaube ich mir, eigene Schlussfolgerungen reifen zu lassen. Es sind rein persönliche Gedanken, Ideen und Vorschläge bzw. Arbeitshypothesen, die im Laufe der intensiven Beschäftigung mit Angst zustande kommen. Absichtlich klammere ich die Panikattacke in diesem Text aus - sie mag zwar ein Aspekt der Angst sein, aber aus meiner Sicht geht es bei der eigentherapeutisch erforderlichen Arbeit um das am fundamentalsten Erlebbare - nämlich die Emotion Angst.
Die Fachliteratur und fast jeder Therapeut beginnt eingangs des Erstgesprächs mit der üblichen Aufklärung, dass Angst seit Urzeiten dem Menschen zum Überleben dient, dass sie uns bei Gefahr dazu veranlasst, der Situation entsprechend zu reagieren etc. - als Betroffener kann man das eigentlich schon nicht mehr hören. Des Weiteren wird gesagt, dass der Patient sich leider an irgendeinem Punkt in seinem Leben falsch (!) verhalten habe: Er reagierte auf irgendeine Situation mit Angst, wo diese gar nicht hingehöre. Das verunsichert natürlich und je öfter diese unpässliche Reaktion erfolgt, desto stabiler bildet sich ein per Leitlinie anerkanntes Krankheitsbild aus: Die (generalisierte) Angststörung.
Ich gebe zu, das ist etwas sehr verkürzt dargestellt aber m. E. entspricht das ungefähr dem in unserer westlichen Psychologiehemisphäre am weitesten verbreiteten Erklärungsansatz. Hierauf bauen unterschiedlichste Therapiewege auf. Diese unterscheide ich wiederum in drei Kategorien:
1. Behandlung der Symptome
2. Behandlung der Ursache(n)
3. Eine Behandlungskombination aus 1. und 2.
Die ausschließlich medikamentöse Symptombehandlung (1.) wird leider bemerkenswert oft praktiziert: Einstellung des Patienten per Pharmazeutika. Auch NLP-integrierende Behandlungsformen (wie z. B. von Klaus Bernhardt in Deutschland als sehr effektiv postuliert) sowie die Kognitive Verhaltenstherapie (sie hat wohl in der Summe aktuell die beste Reputation unter den Fachleuten) fallen im Grunde weitestgehend noch in den Bereich der Symptombehandlung (1.). Als Ursachenbehandlung (2.) ist natürlich die Psychoanalyse zu nennen. Aufgrund der sehr weit verbreiteten gegenseitigen Kritik der beiden Behandlungsformen, kommen nur wenige Patienten in den Genuss einer Kombination derselben (3.) aus einer Hand, es sei denn, sie bemühen sich um parallele Behandlung von beiden Seiten oder haben das Glück, in einer kombiniert arbeitenden Klinik zu landen.
Kleiner Exkurs: Obgleich viele Kliniken einen super Job leisten: Die allermeisten arbeiten therapeutisch eben nur in ihrem Fachbereich - und dieser ist klar definiert: Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik. Dem Körper wird vermeintlich auch viel Aufmerksamkeit gewidmet: Sport, Entspannung, Mass. etc. gehören inzwischen zum Grundprogramm. Doch wie sieht es mit der Behandlung von physiologischen Defiziten aus? Welche Klinik geht denn bei der körperlichen Anamnese über die üblichen Untersuchungen (10 Minuten), das kümmerliche Große Blutbild und ein paar fraglich relevanten Parametern hinaus UND (be)handelt dann auch während des Klinikaufenthaltes danach? Werden denn zumindest Empfehlungen für neurologisch relevante Aspekte (z.B. Schilddrüse, Nebenniere, Darmprobleme, Leber, Schadstoffbelastungen, Allergien, Unverträglichkeiten, Wirbelsäulenfehlstellungen etc.) ausgesprochen?
Geht denn die Ärzteschaft wirklich davon aus, dass jahrelange Depressionen, Ängste, Phobien, Zwänge etc. KEINE körperlichen Defizite zeitigen? Eine Analogie als Beispiel: Wenn beim Auto das Steuergerät immer wieder zu Zündaussetzern und damit zu Korrosion an den Zündkerzenkontakten führt - kann man denn davon ausgehen, dass sich die defekten Kontakte nach einer Auswechslung des Steuergerätes von alleine wieder regenerieren? Oder konkret: Wenn nach jahrelanger physischer Belastung durch o. g. psychische Probleme sämtliche relevanten Hormone völlig aus dem Gleichgewicht geraten sind - werden die sich innerhalb 3-12 Wochen Klinikaufenthalt von alleine wieder normalisieren? Was würde die Endokrinologie dazu sagen?
Jetzt aber zurück zur Angst - zu meiner (!) Angst. Dazu passt übrigens, wenn man sich vorab im Netz Bilder des verfallenen Hotel Angst in Bordighera (Ligurien) anschaut. Alleine schon aufgrund der atemberaubenden Morbidität dieses Flagschiffes aus dem 19. Jhd. und des gleichnamigen Romans von John von Düffel umschlich ich letztes Jahr im Mai für über eine Woche täglich das Areal. Nach Jahrzehnten des Verfalls wird es nun wieder restauriert - für immerhin ca. 25 Millionen. Dieses Gebäude illustriert tatsächlich die Angst, wie ich sie derzeit reflektiere:
Tatsächlich unaussprechliche Angst kenne ich seit meiner Kleinkinderzeit. Obwohl ich wenig Erinnerungen an meine wache Kindheit habe - die Träume sind mir noch heute bewusst. Details sind hier m. E. nicht relevant, doch das Gefühl, von dem ich dann irgendwann lernte, dass es als Angst bezeichnet wird, ist mir quasi sehr vertraut - auch die körperliche Komponente. Rückblickend kann ich heute sagen, dass zu Zeiten, als mir noch jegliche Worte (und damit das Denken) fehlte, das stärkste Gefühl die Angst war, die mein Erleben vorwiegend prägte. Ich stelle dies nur fest und frage mich, weshalb denn nicht z. B. Wohlbehagen oder irgendwas erfreuliches als dominante Emotion in Erinnerung geblieben ist? An der Zuwendung meiner Eltern, insbesondere meiner Mutter kann es nicht gelegen haben.
Obgleich ich an der Oberfläche im Laufe meines inzwischen knapp 50-jährigen Lebens einige charakterlichen Veränderungen erlebte: Die Angst blieb bis heute.
Mit nur wenigen Menschen kann und will ich darüber reden. Diese (und das sind auch Therapeuten) fragen sofort: Angst vor was? Ich konnte nie und kann es bis heute nicht sagen. Sogar das beflügelte Angststörungsmerkmal Angst vor der Angst kann ich so nicht bestätigen.
Ganz ehrlich: Ich habe keine Angst vor der Angst.
Ich BIN ängstlich. Ich angste. Oder in subjektiver Reinheit: ANGST
Wenn ich versuche, den Geist des Kleinkindes zu erleben und hierfür diese fünf Buchstaben (A-n-g-s-t) beiseite lasse - was bleibt?
Wie fühlt sich es an - ohne Definition? . . .
Seit einer wirklich heftigen Panikattacke und einer intensiven nachfolgenden Auseinandersetzung damit versuche ich hin und wieder, in 30-minütigen Meditationseinheiten, die Angst bewusst zu erleben. Manchmal gelingt es, einfach nur ängstlich zu sein. In der Tat sind da Körper und Geist vollumfänglich beteiligt:
Pure Angst!
Kein Gedanke stört, keine andere Emotion - nur dieses ängstliche Verweilen. Irgendwann ist es vorbei und der Geisteszustand hat sich geändert - zum Beispiel: Gelassenheit. Oder: Gedanken über irgendwas. Gedanken über Gedanken, über den der denkt.
Die Medi-Timer gongt und die 30 Minuten sind vorüber. War es schlimm, vollständig und bewusst ängstlich zu sein? Eigentlich nicht. Eher das Gegenteil: Die Bewusstheit (!) während der Angst war. beglückend!
Wie kann das sein? Bin ich verrückt? Nein selten war ich mir bewusster, gewisser: DAS IST ANGST. Und dieses bewusste Erleben ohne jegliche Bewertung lässt sie mit einem Mal in einem anderen, ja, vertrauten Licht erscheinen. Sie ist seit jeher ein Teil von mir. Sie war quasi schon fast vor mir da (also vor meiner Bewusst-Werdung als Ich und Welt).
Je öfter ich mir diese Erfahrung verinnerliche, umso natürlicher fühlt es sich an, wenn ich ängstlich bin. Ich will sie nicht mehr loswerden. Sie ist Teil des Erlebens. Das ist OK. Das bin ich. Das darf ich auch sein.
Ergo:
Da mich weder die symptombezogenen Therapiewege (die empfinde ich irgendwie als blutleere Umprogrammierung) als auch die ursachenbezogene Psychoanalyse (kann Jahre dauern und sucht oftmals nach einem Schuldigen/Auslöser) per Bauchgefühl wirklich überzeugen, neige ich dazu, die o. g. Erfahrungen beim objektiven Erleben der Angst erst mal weiter zu beobachten. Besonders hinsichtlich ängstlicher Momente im oftmals nicht so fokussierten, bewussten Alltag. Bisher kann ich ehrlich sagen, dass sich die Angst verändert hat. Auch wenn es sich a bisserl pathetisch anhören mag: Ich glaube, ich bin grad dabei, eine vielleicht nicht immer einfache Freundschaft zu schließen. Mal sehen.
LG und alles Liebe B.
24.07.2019 17:52 • • 23.10.2019 x 5 #1