Guten Morgen soleil,
erst mal vorweg: Deine Auffassungsgabe ist beeindruckend, Gratulation!
Zitat von soleil:Verstehe ich es richtig, dass Voraussetzung um das Leiden aufzulösen ist, dass das Ich oder Selbst aufgelöst wird, wir uns also darüber bewusst werden, dass das Ich eine Täuschung ist? Dass dieses Ich oder Selbst oder auch Ego besteht aus einem Gedanken- und daraus folgendem Gefühlskonstrukt?
Ich stelle es mir schwierig vor, dieses Ich oder Selbst aufzulösen und nehme an, das dies durch den 8-fachen Pfad und Meditation erreicht werden kann?
Dieses Ich-Bewusstsein (also, die Illusion eines unabhängig seienden Ichs) entsteht aus dem Anhaften (dem ver-MEINen) an das Erleben. Das gesamte (!) Erleben ist ein Konglomerat aus
Form (also: Materie/Körper/Elemente etc.),
Gefühlen, Wahrnehmung,
geistigen Gestaltungen und eigentlich auch dem
Bewusstsein selbst. Dieses Gemenge wird jedoch aufgrund der Anhaftung fälschlicherweise als Selbst, Mein oder Ich interpretiert. Hier liegt das Problem. Dafür gibt es einen sehr trefflichen Spruch aus der Kommentarliteratur: Da ist Erleben, aber
kein Erleber. (!)
Die Ich-Illusion aufzulösen ist in der Tat eine der allerwichtigsten Etappen auf dem Achtpfad. Es ist für unterschiedliche Menschen unterschiedlich schwierig. Wer die 1. Wahrheit (Unbefriedigung, Leiden, also dukkha) wie Du sofort erkennt, hat schon mal einen Riesenvorteil. Das ist auch der Grund, warum m. E. das Dhamma in diesem Forum durchaus seinen Thread haben darf. Viele von uns hier sind, wenn man so will, naturbegabt, auch wenn sich das erst mal sehr unschön anfühlt. Aber die Lehre besteht ja aus 4 Wahrheiten und das bedeutet, dass man sich nicht ausschließlich auf das Leiden spezialisieren sollte (indem man unreflektiert jammert und klagt über seine Angst, Depression, PTBS, Zwänge etc.), sondern dieses Erkennen als
Antrieb zur Lösungssuche nutzt. Wer das Leben ganz prima findet und erst, wenn überhaupt, ganz zum Schluss Panik schiebt, weil er beim Sterben ja alles verliert, wird sich nie auf die Suche begeben. Er lebt in voller Verblendung weiter und schafft so reichlich Kamma (Sanskrit: Karma) für eine
Weitergeburt. Der Begriff Wiedergeburt ist im Deutschen sehr problematisch. Er impliziert, dass jemand in einem neuen Köper wieder erscheint oder ins Leben tritt. Dem ist tatsächlich nicht so. Mit dem Tod fallen sämtliche Sinnesfunktionen weg. Das Erleben (!) jedoch, setzt sich fort. Ob als Mensch, Tier oder in anderer Erlebensweise ist abhängig nicht nur vom jetzigen sondern auch von vielen vorhergegangenen Leben. Ich gebe zu, diese Vorstellung ist für uns Westler sehr schwer zu akzeptieren. Wenn man aber mal hypothetisch davon ausgeht, würden sich viele Dinge erklären lassen wie z. B. die musikalische Veranlagung eines 8-jährigen Mozarts etc.
Zitat von soleil:Hast du es für dich erreicht, dein Ich oder Selbst aufzulösen bzw, viel davon aufzulösen und bist somit frei geworden von jeglichem oder viel Leiden?
Schön wärs! In den ersten 2-3 Jahren, wo ich mich mit dem Dhamma auseinander gesetzt habe, legte ich m. E. zu viel Wert auf Meditation. Die Erfahrungen waren durchaus beeindruckend, doch ich war nicht darauf vorbereitet. Warum? Weil ich den anderen 7 Pfadgliedern nicht genügend Aufmerksamkeit widmete. Außerdem kann ich sehr streng mit mir selbst sein und das führte dann zu einer heftigen Depression. Ungeduld ist ein großes Problem in dieser Praxis und für viele Praktizierende eines der größten Hindernisse. Nach erfolgreicher Beschäftigung damit nahm ich den Faden wieder auf und schaltete erst mal ein paar Gänge runter. Da ich leider, wie Du wohl auch, eine starke Suchtneigung habe, schlich sich der Drecksalk. immer wieder in mein Leben und das führt geradeweg vom Achtpfad weg. Also: Selbst wenn man einiges erreicht hat auf dem Weg, ist ein Rückschritt nicht augeschlossen, es sei denn, man ist bereits in den Strom eingetreten, hat also eine wichtige Etappe bereits hinter sich. Soweit bin ich noch nicht, und volles Nibbana ist auch tatsächlich nicht leicht zu erreichen aber man kann definitiv sehr große Leidensabschwächung und sogar zeitweilige Phasen einer subjektiven Leidbefreiung erreichen, sofern man sich denn auf den Weg macht. Ich habe im Laufe der Jahre viel Belastendes hinter mich gelassen, das ich seinerzeit als lebensnotwendig betrachtete. Das alleine schon ist eine sehr befreiende Sache. Grundsätzlich kommt es bzgl. Fortschritt darauf an, was man als heilsame Fähigkeiten ist dieses Leben mitbringt. Aber auch wenn man mit schlechten Karten hier und jetzt startet, geht es definitiv aufwärts, nur eben langsamer. Vergleiche mit anderen bringen da wenig - höchstens als Motivation.
Zitat von soleil:Also Buddhisten glauben, dass es das Universum schon immer gab und dass sich alle Dinge darin in einem ewigen Kreislauf immer wieder neu zusammensetzen. Nichts geht verloren. Auch nicht unser Geist. Alles unterliegt einem ewigen Energiestrom. Da es kein Ich gibt, gibt es auch keine Ich-Persönlichkeit. Alles ist Energie.
Und sie glauben an die Wiedergeburt - Wenn ein Wesen stirbt, lebt der Geist (oder besser gesagt Energiestrom) weiter. Er verlässt den Körper und zieht sofort oder später in der Nähe oder sehr weit entfernt in den Körper eines anderen Wesens ein, das neu geboren wird. Korrekt?
Vorsicht: Im Grunde ist das mit einem Geist oder einem Energiestrom, der nicht verloren geht (also ewig besteht) schon richtig - ABER: Aus unserer verblendeten Sicht interpretieren wir gerne gleich wieder eine Soheit, Göttliche Allkraft o. ä. da hinein. Der Buddha wurde seinerzeit oft zum Thema Wiedergeburt befragt und er war - mit gutem Grunde - meist sehr spärlich mit seinen Erklärungen. Er selber konnte sich noch in der Nacht seiner Erleuchtung an nahezu unzählige Vorexistenzen zurückerinnern (das können z.T. auch heutige Arahants, also voll Erleuchtete, noch - zumindest habe ich davon gehört). Doch er sagte auch, dass es mühsam sei, die konkreten kammischen Resultate aller Handlungen in den jeweiligen Existenzen zu erkunden. Ungefähres Zitat: Endlos ist die Anzahl der sich ausdehnenden Universen und der Wesen, die darin endlos die verschiedenen Erlebniswelten durchlaufen. Ein Anfang ist nicht auszumachen. Er meinte dann immer, dass man sich stattdessen lieber auf das erlebte Leid und seine Anweisungen zur Aufhebung der Ursachen des Leides konzentrieren solle.
Zitat von soleil:Mit Verursacher für das Leiden sind Gier, Hass und Verblendung. Das Leiden entsteht also, weil die Menschen immer mehr haben wollen als sie besitzen und nicht zufrieden sind mit dem was sie haben.
Und das Leiden hört auf, wenn die Menschen diese Ursachen überwinden - vereinfacht ausgedrückt. Und dies kann erreicht werden, durch Bewusstmachung der Ich-Täuschung und deren Auflösung.
Sie wollen nicht nur immer mehr haben (= Gier) sondern wollen auch viel loshaben. Hass steht hier u. a. auch schlicht für Aversion, für nicht-haben-wollen. Mit jedem wollen und nicht-wollen verfestigt man den Ich-Dünkel, die Ich-Illusion und damit die Verblendung. Die Verblendung für zu wollen/nicht-wollen und stärkt somit die Verblendung. Endloses Samsara (Daseinskreislauf). Korrekt: Mit Abschwächung/Auflösung der Verblendung schwindet/verschwindet dukkha (Leiden).
Zitat von soleil:Ich stelle es mir allerdings schwierig vor, festgefahrenes konditioniertes Verhalten bzw. die Erfahrungen, Gedanken und Gefühle, die dazu geführt haben, auszublenden bzw. aufzulösen.
Richtig: Vor allem, weil das Dhamma exakt gegen den Strom, gegen den Trieb der verkrusteten Verblendung geht. Die Praxis ist einfach, aber nicht leicht... Aber sie zeitigt von Beginn an Erfolge, die man halt aber auch erst mal erkennen muss. Damit man diese erkennt, behält man immer den Achtpfad im Auge. Er ist wie eine Landkarte, an der man immer wieder orientiert.
Zitat von soleil:Die Ich-Täuschung aufheben durch Erkenntnis und einer entsprechenden Lebensführung. Klingt einleuchtend. Doch wie gelingt die Umsetzung in der Praxis, ohne dass das Gefühl entsteht, seinem Ich untreu zu werden.
Sehr gute und wichtige Frage: Indem man die Lebensführung ändert und gleichzeitig (!) über die daraus resultierenden Folgen im eigenen Erleben reflektiert (=7. und 8. Pfadglied), empfindet man nicht mehr so stark die Notwendigkeit, einem Ich treu bleiben zu müssen. Vielmehr erkennt man, dass dieses Ich nicht nur eine Illusion, sondern eben auch die Ursache (!) für das bisherige Leiden war. Man wird in der Tat ent-täuscht. Man verliert also nicht sein Ich, sondern baut langsam die Illusion davon ab. Da das idR nicht so schnell vonstatten geht, hat man auch nicht das Gefühl eines Verlustes.
Zitat von soleil:Dieses Ich hat sich ja manifestiert und ich bezweifle, dass es alleine durch die Erkenntnis, dass es eine Täuschung ist in Luft auflöst. Ich denke, es ist ein langer Prozess, um zu dieser Ich-Auflösung zu kommen und sich somit den Weg frei zu machen, von allem Leiden befreit zu sein. Doch dies wird wohl in dem 8-fachen Pfad beschrieben oder?
Ganz genau, vollständig richtig!
Zitat von soleil:Wie weit bist du da in deiner Entwicklung?
Siehe oben. Ich bin zumindest soweit, dass mich nichts mehr vollständig umwerfen kann. Die Überschrift in meinem Leben ist das Dhamma. Rückschläge sind Teil der Praxis und ich lerne immer wieder, dass gerade sie einen wichtigen nächsten Schritt einleiten. Die Abhängigkeit von Einflüssen ist deutlich geringer, viele Emotionen sind schwächer geworden. Das Leben ist insgesamt ent-reiz-ter. Ein Umstand, der manch einem nicht als erstrebenswert erscheint. Tatsächlich ist das jedoch ein Zeichen wirklichen Fortschrittes: Immer weniger (wirklich) zu benötigen. Das hat nichts mit Weltflucht oder Ausblendung zu tun, sondern mit natürlich manifestierender Zufriedenheit und Freude.
Zitat von soleil:Wäre die logische Konsequenz der Ich-Auflösung durch die Bewusstmachung der Ich-Täuschung nicht die, dass wir von jeglichen Ängsten, Befürchtungen oder gar von psychischen Erkrankungen verschont blieben?
Völlig richtig erfasst! Deshalb ja mein Betreben, das hier einfach mal anzusprechen. Bei mir war es schon im Alter von 17 Jahren, als ich viele Bücher über den Zen-Buddhismus las, dass mich da irgendwas intuitiv ansprach. Doch ich beließ es damals bei der Lektüre. Zen ist sehr universell, jedoch wird aufgrund der non-verbalen Einsichtsvermittlung (meist durch einen Meister) nichts wirklich erklärt und deshalb laufen das viele Leute in eine völlig verkehrte Richtung. Als ich dann mit 36 Jahren das ursprüngliche Lehrgebäude (Dhamma) kennenlernte, war mir sofort klar: Das ist es! Die Suche nach dem richtigen Beet war beendet - nur das Graben dauert - mit Sicherheit mindestens dieses Leben lang.
Schau bitte noch mal drüber und gib noch mal Feedback. Wenn keine Fragen mehr bestehen, geht´s ans Eingemachte...