Ich war später auf meinen jüngeren Bruder eifersüchtig, weil er das Lieblingskind war. Auch noch lange, nachdem er durch einen Autounfall arbeitsunfähig wurde und seit 20 Jahren nur noch Mist baut. Er hatte sich Dinge rausgenommen, wo ich schon hundertmal rausgeflogen wäre. Z.B. eine kleine Disco im Elternhaus betrieben mit Gästen, die die ganze Nacht im Haus rumliefen, Krach und Dreck machten. All das war nie ein Grund für ernste Drohungen mit Rausschmiss.
Gestern abend dann fand ich das Tonband, wo ich wusste, dass es existiert, wo nämlich eine Mikrofonaufnahme aus meiner Kindheit drauf war. Ich schätze mal, dass ich es nur einmal gehört hatte, und das muss Anfang der 80er Jahre gewesen sein. Die Aufnahme muss aus 1974 - 1975 sein, weil mein kleiner Bruder da so spricht wie ein ca. Zweijähriger. Es war so, dass meine Eltern einen bestimmten Satz von ihm hören wollten, aber der wollte nicht. Mein Vater wurde jähzornig (was ich so in der Zeit nicht in Erinnerung habe) und meine Mutter klang völlig fremd. Dann kamen noch Oma und Opa dazu. Mein Opa klang auf einmal wie mein Onkel, das war schon merkwürdig. Aber dann kam das Entscheidende. Ich fragte: Papa, was willst du denn hören? Und er sagte: Sei doch mal stille! Aus späteren Jahren weiß ich noch, dass ich jahrelang gar nicht mehr mit ihm sprechen wollte, wenn wir am Tisch saßen oder ich im Auto neben ihm saß. Ich ahnte natürlich, dass die Ablehnung permanent vorhanden war. Deswegen machte ich den Mund nicht mehr auf. Und bis an sein Lebensende war es kaum möglich, überhaupt mal ein persönliches Gespräch zu führen. Ich glaube, sowas hat kaum einer miterlebt. Dass man nur gegen eine Wand spricht.
Da ist mir einiges klar geworden. Ich habe mein Leben lang nie einen Streit mit ihm gehabt, was auch gar nicht so schwer war, weil er mir immer nur aus dem Weg gegangen ist. Aber bei mir hat jetzt ein Prozess eingesetzt, bei dem mir klar geworden ist, dass wohl einiges anders gelaufen wäre, wenn ich anders behandelt worden wäre. Ich war ein ungewolltes Kind und dazu noch mit dem falschen Geschlecht.
Seit heute mittag hänge ich in einem Tief und kann mich zu nichts mehr aufraffen. Ich weiß, dass es schlimmere Schicksale gibt. Nur merke ich, dass ich die selbe Ablehnung teilweise an meine Kinder weitergebe. Ich muss mich extrem anstrengen, um deren Nähe länger als eine Stunde zu ertragen. Das Phänomen tritt in meiner ganzen Verwandtschaft mütterlicherseits auf. Entweder es liegt ein Fluch auf dieser Verwandtschaft oder wir sind alle gestört und werden gezwungen, diese Störung an jede Generation weiterzugeben. Obwohl: Ich bin ja nur einer der wenigen, die sich überhaupt fortgepflanzt haben.
Meine Mutter ist vor fünf Jahren gestorben und mein Vater letztes Jahr. Eigentlich zu früh. Ich hatte ihnen längst verziehen, habe aber noch mit den Spätfolgen zu kämpfen.
21.06.2015 14:04 • • 28.06.2015 #1