Die Kommentare zur Anspruchshaltung finde ich spannend und sehe gerade einen massiven Konflikt in der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Privilegien hier. Aber lasst mich mal ganz langsam anfangen und provokant werden: Wo dürfen Ansprüche denn liegen? Muss man trotz vorbestehender Erkrankungen dauerhaft nachts arbeiten, auch wenn klar ist, dass das die Krankheiten verschlimmern kann (Stichwort: Depression Nachtschicht, lässt sich googlen)? Ist es zu anspruchsvoll gedacht, eine gewisse Perspektive im Job haben zu wollen, also Aussicht darauf, irgendwann einmal mehr als den Mindestlohn zu verdienen? Oder ist es erst zu anspruchsvoll, wenn man sogar davon träumt, alle paar Jahre mal in den Urlaub fahren zu können, wenn man konsequent sparsam mit seinem Geld umgeht? Nicht dass ich das derzeit könnte, aber... mit wie wenig muss man als Mensch, der derzeit unter dem Existenzminimum lebt, denn glücklich sein, damit einem bei Frust über die Situation nicht vorgeworfen wird, zu anspruchsvoll zu sein, wenn man die eigene Lebenssituation mit der von Freunden vergleicht, die den gleichen Weg eingeschlagen haben, ihn aber erfolgreicher gegangen sind – oder an alte Träume und Wünsche denkt? Und seien wir mal ehrlich: Dieser Vergleich ist nur allzu menschlich. Das macht jeder mal, auch wenn man es lieber nicht zugibt.
Dadurch bin ich aber nicht eine Sekunde lang weniger dankbar dafür, dass ich einen Job habe, den ich liebe und dass ich überhaupt studieren kann; ich weiß sogar, dass der Studi-Status mich in den langen Jahren der Krankheit geschützt hat und es darum ziemlich gut ist, dass ich schon so lange studiere! Und wie gesagt: Mir geht es auch gar nicht darum, was ich alles jetzt haben muss um glücklich zu sein, nur, weil es andere haben. Wenn ich wollte, könnte ich ja das Studium abbrechen und hätte gleich deutlich mehr Geld zur Verfügung, weil ich dann HartzIV bekäme – das würde mich aber auch nicht glücklicher machen als Studium, Job und Hoffnung auf die Zukunft. Können wir also mal die blöde Idee mit den Ansprüchen weglassen? Es geht mir viel mehr um das Gefühl, einfach noch nichts erreicht zu haben im Leben; um die Enttäuschung über mich selbst und Frust über die Situation, der immer wieder aufkommt, wenn ich das Gefühl habe, gegen Windmühlen zu kämpfen, weil ich schon seit 13 Jahren depressiv bin, seit 29 Jahren autistisch, weil ich ständig mit Schmerzen lebe und trotzdem so viel leiste wie ich kann, nur, dass ich am Ende doch immer wieder abstürze und von vorne anfangen muss. Klar, man könnte jetzt sagen, dass ich nicht studieren soll. Wer das nun tun möchte, möge bitte erst weiter lesen. Dazu komme ich noch.
Um Geld geht es also eigentlich nicht, aber lasst uns erst mal noch kurz bei den materiellen Ansprüchen bleiben, die hier runtergeschraubt werden sollen, Natürlich macht Geld nicht glücklich. Umgekehrt zu sagen, dass kein Geld zu haben auch keinen Einfluss auf das individuelle Glück hat, ist nämlich grundlegend falsch. Unterhalb einer gewissen Schwelle hat Geld mit dem sozialen Status und der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu tun: Teilhabe funktioniert nur dann, wenn ich sie mir leisten kann. Ich brauche eine angemessene Kleidung, um zu Veranstaltungen oder auf die Arbeit zu gehen. Ich brauche Geld, wenn ich mit Freunden mal einen Kaffee trinken gehen möchte. Muss ich solche gemeinsamen Aktivitäten immer ablehnen, fehlen mir Erfahrungen um dazu zu gehören. Muss ich mich immer einladen lassen, gerate ich in Abhängigkeiten. Falle ich durch alte, abgetragene (lies: kaputte, nicht unmoderne) Kleidung auf, werde ich in Schubladen gesteckt, aus denen ich nicht so schnell wieder herauskomme. Das kann man gesellschaftlich und soziologisch alles massiv kritisieren, keine Frage. Bedingungsloses Grundeinkommen für alle wäre ein Stichwort, das hier dazu gehört.
In der momentanen Situation gibt es das bedingungslose Grundeinkommen aber nicht und HartzIV ist mit Sanktionen verbunden, reicht nicht aus und stigmatisiert. Das ist alles bekannt. Wenn wir also von finanzieller Teilhabe sprechen, sprechen wir auch davon, dass die durch die Arbeit gesichert sein muss. Freunde, die in der Lage und bereit dazu sind, eine finanzielle Schwäche langfristig zu kompensieren, hat nämlich nicht jeder. Das ist ein Privileg.
Damit Arbeit aber langfristig den Lebensunterhalt und die Teilhabe sichern kann, muss sie halbwegs zum Arbeitnehmer passen. Es geht nicht um ständigen Spaß an der Arbeit, sondern um Belastungsfaktoren: Wer dauerhaft durch eine Krankheit belastet ist, kann keine harte körperliche Arbeit machen; wer mit ADHS lebt, hat vielleicht doch größere Probleme mit der Ablenkbarkeit in lauten Umgebungen. Muss das dauerhaft kompensiert werden, geraten wir wieder in ein Teilhabe-Dilemma: Wer nur arbeitet und kein Leben darüber hinaus hat, landet im Burnout. Also sollte doch wohl der Anspruch erlaubt sein, einen Job zu haben, der ein wenig passend ist und nicht das eigene Leben absehbar ruiniert.
Und dann sind wir direkt beim nächsten Privileg, das ich für mich beanspruche und das ich nicht aufzugeben bereit bin: Das Studium. Nicht jeder muss studiert haben, keine Frage. Aber hier wurde ja die Idee eines zweiten Studiums kritisiert. Hier kann ich sowohl eine gute Lektüre empfehlen als auch aus Erfahrung sprechen. Raul Krauthausen, der mit Glasknochen geboren wurde, hat ein Buch mit dem Titel „Dachdecker wollte ich eh nicht werden“ geschrieben. Darin beschreibt er unter anderem, dass er studieren musste, um trotz seiner Einschränkungen beruflich einen guten Weg einschlagen zu können. Studieren muss also nicht jeder, um aber den vorgenannten Punkt des passenden Arbeitsplatzes zu erfüllen, kann das sehr sinnvoll sein. Auch für mich – mein Studium kann am Ende zum Sprungbrett werden, das mich davor bewahrt, aufgrund meiner Andersartigkeit langfristig arbeitslos zu sein, wie die meisten anderen arbeitsfähigen Autisten (über 80 Prozent!). Ist es also ein zu hoher Anspruch von mir, zu ende studieren zu wollen, wenn ich gleichzeitig darüber traurig bin, dass mein Leben halt insgesamt so ganz anders verlaufen ist, als ich es geplant hatte?
Wer hier den Anspruchsbegriff benutzt, darf gerne einmal in das Thema der verschiedenen Ebenen und Verständnisweisen von Privilegien und des Ableismus einsteigen. Wir leben z.B. vermutlich alle in Westeuropa, werden in Deutschland durch ein (fehlerhaftes) GKV-System unterstützt und können HarztIV beziehen. Auch das sind Privilegien. Ist es aber bereits ein zu hoher Anspruch, trotz diverser Hürden und einfach großen Frust mehr zu wollen als das, was der Sozialstaat uns bietet, obwohl das ja Privilegien sind? Ist man dann gleich undankbar? Glaube ich irgendwie nicht dran.
28.06.2016 15:21 •
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