9. GruppenkohäsionGruppenkohäsion wird definiert als die Anziehungskraft, durch die sich einzelne Mitglieder in die Gruppe eingebunden fühlen und die sie mit anderen Mitgliedern verbindet.
Mitglieder einer kohäsiven Gruppe akzeptieren und unterstützen einander besser, sind mehr geneigt, innerhalb der Gruppe Beziehungen von Gewicht einzugehen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Bindung an die Gruppe scheint für ein gutes Ergebnis der Gruppentherapie ein signifikanter Faktor zu sein.
Unter Bedingungen des wechselseitigen Annehmens und Verstehens sind Patienten eher bereit,
- sich zu äußern und zu erforschen,
- bisher unannehmbare Wesenszüge sich bewusst zu machen und zu integrieren,
- tiefer zueinander in Beziehung zu treten.
Auch die Selbstachtung wird durch die Rolle des Patienten in einer kohäsiven Gruppe stark beeinflusst. Das soziale Verhalten, welches für die Mitglieder erforderlich ist, damit sie von der Gruppe geachtet werden, dient dem Individuum außerhalb der Gruppe zur sozialen Anpassung.
Je kohäsiver Gruppen sind, desto stabiler; die Teilnahme ist regelmäßiger und es gibt weniger Wechsel. Für den Therapieerfolg sind beide Faktoren äußerst wichtig. Insofern ist eine bestmögliche Gruppenkohäsion seitens des Therapeuten und der Mitglieder anzustreben.
Die Kohäsion begünstigt überdies
- Selbstoffenbarung
- Risikobereitschaft
- konstruktive Offenlegung von Konflikten in der Gruppe;
all dies fördert wiederum den Therapieerfolg.
Bei hoher Gruppenkohäsion kommt es vor, dass Patienten die Gruppe
internalisieren: Es ist, als ob die Gruppe auf meiner Schulter sitzt und mir zuschaut. Ich frage mich immer wieder, was würde die Gruppe zu diesem und jenem sagen? Oft bleiben therapeutische Veränderungen erhalten und können sich konsolidieren, weil die Gruppenmitglieder die Gruppe selbst
nach Jahren nicht enttäuschen wollen! Insofern kann man gewissermaßen von einer Selbst-Kohäsion aufgrund internalisierter Gruppenkohäsion sprechen.
Abschließend kann man weitgehend davon ausgehen, dass viele Psychiatriepatienten in ihrer Kindheit auf ständiges, verlässliches Angenommenwerden von Gleichaltrigen verzichten mussten, weshalb für viele von ihnen eine Bestätigung durch andere Gruppenmitglieder eine neue und grundlegende Erfahrung ist. Die in einer Gruppe sich entwickelnde Intimität kann in einer technologisch getriebenen Kultur, die in jeder Hinsicht - sozial, beruflich, wohnsitzmäßig, freizeitmäßig - menschliche Beziehungen erbarmungslos enthumanisiert, als Gegenkraft angesehen werden.
10. KatharsisPsychologisch definiert bedeutet Katharsis die
Befreiung von psychischen bzw. seelischen Konflikten im Zuge einer emotionalen Handlung. Bereits Freud und alle seine Anhänger der dynamischen Psychotherapie haben jedoch festgestellt, dass Katharsis
alleine nicht ausreicht. Ein emotionales Erleben hat eben nicht zwangsweise eine interpersonelle Veränderung zur Folge.
In der Gruppentherapie hingegen wird das kathartische Erlebnis durch wesentliche Einsichten begleitet, wie folgende Aussagen von Gruppenmitgliedern darlegen:
Ich habe gelernt, dass und wie ich meine Gefühle äußern kann.
Es war befreiend, sagen zu können, was mich gestört hat, anstatt es für mich zu behalten.
Das Äußern negativer bzw. positiver Gefühle gegenüber einem anderen Gruppenmitglied war eine bemerkenswerte Angelegenheit.
Endlich konnte ich mir etwas mich belastendes von der Seele reden.
Die quasi
eigentherapeutische Draufsicht ist es, die die emotionale Handlung
wirkungsvoll ergänzt!
11. Existenzielle FaktorenYalom und Kollegen haben als existenzielle Faktoren die folgenden Punkte erarbeitet, welche wesentliche Erkenntnisse für das engagierte Mitglied einer Therapiegruppe zum Ausdruck bringen:
a) Das Leben ist manchmal unfair und ungerecht.
b) Gewissen Nöten des Lebens und dem Tod kann man nicht entgehen.
c) So nah ich anderen auch kommen mag - dem Leben muss ich dennoch allein gegenübertreten.
d) Ich muss mich den Grundfragen meines Lebens und meines Todes stellen und dadurch mein Leben ehrlicher leben und mich weniger von Belanglosigkeiten einfangen lassen.
e) Ich muss die letzte Verantwortung für die Art, wie ich mein Leben lebe, übernehmen; gleichgültig, wieviel Anleitung und Unterstützung ich von anderen bekomme.
Diese fünf Einsichten ausführlich zu skizzieren, würde den Rahmen dieser kurzen Abhandlung sprengen. Zu erwähnen wäre jedoch, dass sie sozusagen
automatisch im Zuge einer
erfolgreichen Gruppentherapie zumindest ansatzweise entstehen oder sich sogar ziemlich weit entwickeln können. Da sie auch sehr subjektiv angegangen (oder eben
nicht angegangen!) werden, muss man natürlich die kulturellen und gesellschaftlichen Hintergründe der jeweiligen Person berücksichtigen.
Ich möchte lediglich festhalten, dass dieser Faktor 11 nichtsdestotrotz den
existenziellen Hintergrund einer jeglichen Psychotherapie darstellen sollte. Inwieweit die Aufhellung dieses Daseinshorizontes eintritt, ist in höchstem Maße individuell. Wer sich über Yaloms Ansichten und Forschungsergebnisse hierzu näher einlesen möchte, dem empfehle ich sein Hauptwerk Existenzielle Psychotherapie.
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Die Informationen für die in diesem Thread bislang dargelegten Ausführungen stammen vollumfänglich aus Irvin D. Yaloms Lehrbuch
Theorie und Praxis der Gruppenpsychologie (4. völlig überarbeitete und erweiterte Auflage 1996, J. Pfeiffer Verlag, München).
In den letzten knapp zwei Wochen als ich an diesem Thema arbeitete, wurde mir wieder mal klar, wie wertvoll meine Suchttherapie gerade aufgrund dieser Gruppen-Wirkfaktoren für mich war. Mein Therapeut empfahl mir dieses Buch am Ende unseres Abschlussgesprächs, weil ich so fasziniert von den Effekten bei mir und den anderen Mitglieder war. Da ich schon mehrere Bücher von ihm gelesen hatte und ich von der Person Yalom schon seit Jahren begeistert bin, war ich überrascht, dass seine Wirkfaktoren anscheinend heute noch, nach mehreren Jahrzehnten, ein Standardwerk für Gruppentherapeuten ist.
Mir ist bewusst, dass Gruppentherapien, die über einen längeren Zeitraum von mindestens sechs Monaten in Deutschland eher selten praktikabel (und finanzierbar) sind. Immerhin kommen jedoch viele Patienten in psychosomatischen Kliniken in den Genuss einer solchen Erfahrung über einen Zeitraum von meisten 6-9 Wochen, was nicht zu unterschätzen ist.
Da ich selber weiterhin in einer Selbsthilfegruppe aktiv bin und auch dort immer wieder eine Bestätigung der Wirksamkeit dieser Faktoren in unserer Gemeinschaft erfahre - und dies auch kundtue - wollte ich zumindest das Prinzip auch im Rahmen unseres Forums kurz beleuchten.
Die Wirkfaktoren könnten für all jene, die das Forum wirklich längerfristig und therapeutisch nutzen wollen, eine Art Orientierungshilfe bieten. Gerade im Bezug auf unsere hier oft eskalierend anmutenden Dissonanzen kann es enorm von Wert sein, das mit derlei Konflikten korrelierende
Einsichtspotenzial zu sehen.
Auch hier im Forum bekomme ich regelmäßig mit, wie Teilnehmer in länger gehenden
intensiven Threads oder auch Tagebüchern
existenziell lernen, gerade wenn es emotional wird und wenn man sich genügend Zeit nimmt, über das eigene und das Verhalten anderer nachzudenken. Selbst wenn es eine stille Einsicht ist, die eine kleine aber immerhin wirksame Veränderung in Richtung Selbsterkenntnis bewirkt, ist es m. E. definitiv den Aufwand wert.
Insofern sehe ich viele hier im Forum auch als meine Gruppe an... Und an dieser Stelle vielen Dank an Euch dafür - und für´s Lesen...
Jegliche Kritiken, Anmerkungen, Beispiele, Fragen etc. sind willkommen. Vielleicht möchten sich auch hier angemeldete Therapeuten und Therapeutinnen zu Wort melden, die mit Gruppen arbeiten. Ich selber kann nur als ehemaliger Teilnehmer meine Erfahrungen kundtun.