Hallo Julia,
ich schreibe Dir von Betroffener-zu-Betroffener, ich bin auch emotional-instabil, allerdings 60.31, also Typ Borderline. Bei Deinen Zeilen sind mir tausend verschiedene Dinge durch den Kopf gegangen, und ein paar davon wollte ich Dir gerne schreiben, in der Hoffnung, Dir vielleicht einen etwas anderen und freundlicheren Blickwinkel auf Dich und Dein Verhalten zu geben. Nur vorweg (damit Du eine Vorstellung von mir bekommst): Ich bin, wie gesagt, selber auch emotional-instabil, habe über 10 Jahre Therapieerfahrung (ambulant und stationär), habe früher eine tiefenpsychologische Therapie gemacht (und zu Ende geführt), habe dann auf Verhaltenstherapie gewechselt, arbeite in diesem Rahmen (neben der Trauma-Therapie und deren Methoden) auch mit Schematherapie und viel dialektisch-behavioraler Therapie. Ich habe mehrere hundert emotional-instabile Patienten kennengelernt, weit über hundert Stunden Gruppentherapie mit ihnen zusammen gemacht, habe also viele Facetten dieser Störung kennengelernt (auch Patienten mit anderen Persönlichkeitsstörungen und ADHS). Auf Grundlage dieser Erfahrungen (persönliche Meinung, bin ja selber Patientin und keine Therapeutin) also hier mein Eindruck:
Du brauchst Dich wirklich nicht selber so abzuwerten. Du bist keine schwierige Patientin und im Rahmen Deiner Erkrankung schon gar kein schwerer Fall. Ja, die emotional-instabile PS liest man für mein Empfinden aus Deinen Zeilen sehr deutlich heraus, diese ist eine schwere Störung und sollte auch auf jeden Fall behandelt werden, aber im Rahmen der emotional-instabilen Patienten verhältst Du Dich total normal und sogar eher durchschnittlich (nicht negativ oder abwertend gemeint), da brauchst Du Dir wirklich keine Sorgen zu machen. Deine Therapeutin hat Dich mit dieser Diagnose als Patientin akzeptiert (es behandeln ja durchaus nicht alle Psychologen Persönlichkeitsstörungen), und im Rahmen dieser Störung hast Du bisher noch nichts gemacht, was sie da überraschen würde. Du verhältst Dich klassisch emotional-instabil, alles was Du so an schwierigen Gedanken, Einstellungen und Verhaltensweisen beschreibst ist völlig normal und Standard für emotional-instabile Patienten. Sie wirken vielleicht ungewöhnlich und extrem im Vergleich zur Normalbevölkerung, aber im Vergleich zu anderen emotional-instabilen Patienten ist das alles völlig normal. Von wirklich extremen Verhaltensweisen bist Du noch meilenweit entfernt, darum brauchst Du Dir auch keine Sorgen machen, dass Deine Therapeutin deswegen nicht mehr mit Dir arbeiten möchte. (Und ja, dass Du das trotzdem befürchtest und daran nicht glauben möchtest/kannst ist ebenfalls völlig normal )
Vielleicht solltest Du Dir von Deiner Therapeutin konkrete Fach-Literatur empfehlen lassen. Wenn sie Dir konkrete Empfehlungen gibt, kannst Du besser einordnen, auf welchen Prinzipien sie ihre Therapie aufbaut, welche Methoden sie anwendet und welchen therapeutisch-methodischen Grundprinzipien sie folgt. Das wird Dir helfen, ihre Reaktionen und Interventionen besser einordnen zu können.
Du bewegst Dich in der Therapie noch sehr auf der Spiel-Ebene im psychologischen Sinn (nicht negativ oder abwertend gemeint, sondern typisch bei emotional-instabilen Patienten), testest Deine Therapeutin sehr aus (auch typisch) und lässt Dich nicht wirklich auf die Therapie ein. Auch das ist zu diesem Zeitpunkt in der Therapie noch im normalen Rahmen, aber Du solltest zusehen, dass Du diese Ebene bald verlässt, damit Du bestmöglich von der Therapie profitieren kannst. Für Deine Therapeutin wird das nicht übermäßig problematisch sein, dass du Dich so verhältst, und wird Dich deswegen nicht fallenlassen, aber Du schadest Dir selber damit (auch typisch emotional-instabil) und verspielst durch Deine vielen Beziehungstests wertvolle Therapiezeit, die Dir am Ende der Therapie fehlen wird.
Die meisten Psychologen arbeiten bei emotional-instabilen Patienten mit der dialektisch-behavioralen Therapie (dort kommen auch die Skills her, die spielen dort eine zentrale Rolle), und von dem, was Du so erzählst, greift Deine Therapeutin viel auf Methoden dieser Therapieform zurück. Inzwischen wird diese oft mit Schematherapie kombiniert, das hat sich wohl gerade bei emotional-instabilen Patienten bewährt, da diese viel mit verschiedenen inneren Impulsen klarkommen müssen. Wenn die Arbeit mit Deinen verschiedenen Modi Dir aber nicht liegt, würde ich ihr das sagen, das sehe ich genauso wie einige der anderen User hier. Das ist wirklich nicht für jeden etwas.
Ich fürchte, dass das Thema Skills Dich noch sehr lange begleiten wird, die emotional-instabile Störung ist ja im Wesentlichen eine Emotion-Regulations-Störung und eine Interaktionsstörung. Gefühlsregulation wird wohl noch lange ein Thema sein, und Skills sind da das Mittel der Wahl. Das kann einen manchmal ganz schön nerven (ist zumindest bei mir so, es gibt Phasen, in denen ich dieses ganze Skills-Gerede echt verfluche, und so gut wie bei allen Mit-Patienten, die ich so kennengelernt habe, war das auch so), aber über die Jahre hinweg habe ich inzwischen gelernt, dass es ohne tatsächlich nicht geht.
Und ich fürchte, dass Du Dich vielleicht drauf einstellen musst, dass die Therapie noch eine ganze Zeit dauern wird. Es ist eine echt hartnäckige und tiefgreifende Störung, aber: Es wird mit der Zeit besser. Es braucht nur Geduld, Geduld, Geduld. Außerdem Frustrationstoleranz, da Du immer mit Rückschlägen, auch heftigen, rechnen musst. Und, ganz wichtig: radikale Akzeptanz. Aber über die Zeit wird es langsam aber sicher besser werden.
Ich wünsche Dir alles Gute!
LG Silver