Hallo Psychomum,
ich kenne es ähnlich, wie @cube_melon es sagt: In Lebensphasen, in denen es starke äußere Veränderungen gibt, wird keine intensive (sprich: konfrontative) Traumatherapie nach speziellen Trauma-Verfahren gemacht. Alle Traumatherapeuten, die ich kenne, machen das so. Der Grund: Wenn Du anfängst, Dich direkt mit Deinem Trauma zu konfrontieren (also in ein solches Verfahren wie z.B. EMDR einsteigst), brauchst Du dafür alle Kraft, die Du hast. Diese Verfahren wirken so gut wie immer destabilisierend, darum machen viele Patienten konfrontative Traumaverfahren auch nur stationär, weil sie da aufgefangen werden können, wenn es ganz schlimm wird. Dir werden in der Konfrontation ja die schlimmsten Erinnerungen nochmal vor Augen geführt.
Du brauchst nicht unbedingt ein voll funktionierendes soziales Umfeld, ich glaube, das haben tatsächlich sehr wenige Menschen. Aber Du brauchst Alltags-Stabilität im Sinne von:
- eine Wohnung, die Du kennst, in einer Stadt, die Du halbwegs kennst (also weißt, wo Supermarkt und Apotheke sind), einfach wissen, wo alles ist, gute örtliche Orientierung
- keinen Täterkontakt, das ist für konfrontative Trauma-Verfahren ein fast 100%iges Ausschlusskriterium
- einen Plan für den Fall, dass es Dir nach der Therapie schlecht geht, also Bedarfsmedikation und/oder eine eingespeicherte Handy-Nummer, die Du anrufen kannst, das muss kein Freund oder Familie sein (ist manchmal sogar besser, sich damit an professionelle Hilfe zu wenden), das kann auch einfach die Seelsorge o.ä. sein
- nicht gerade den Beruf wechseln oder wichtige Prüfungen haben
- nicht gerade mitten in einer Trennung stehen
- keine akute Substanzmittelmissbrauchsproblematik
- ...
Du hast in der Zeit der Trauma-Konfrontation einfach nicht die Ressourcen (weder mental noch emotional), Dich um irgendwelche zusätzlichen Dinge zu kümmern, die über die absoluten Alltags-Notwendigkeiten hinausgehen. Alleine diese aufrechtzuerhalten wird oftmals schon schwierig genug in dieser Zeit.
Aber:
Nicht alle Traumverfahren sind so intensiv und gehen so in die Tiefe, aber die meisten meinen die intensiveren Verfahren, wenn sie von Traumatherapie sprechen.
Man kann sich auch in normaler Gesprächstherapie vorsichtig den traumatischen Erinnerungen nähern, ohne dass es zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesen führen muss. Das können auch die normalen Therapeuten machen, die sind ja alle dafür ausgebildet, mit Leuten über schwierige Lebenserfahrungen zu sprechen. Wenn man von Traumatherapeuten spricht, sind das oftmals die, die eine gesonderte Ausbildung für speziellere Verfahren gemacht haben. Über die Qualität der Therapeuten sagt das noch nicht viel aus.
Was ich damit meine: Wenn Du Deiner Therapeutin vertraust, kannst Du auch mit ihr über Deine schwierigen Lebenserfahrungen sprechen. Das Vertrauen in den Therapeuten und die zwischenmenschlich gute Chemie sind oftmals sehr viel wichtiger als die Zusatzqualifikationen. Ein Grundwissen zum Thema Trauma hat ja jeder Therapeut.
Ich habe Traumatherapeuten kennengelernt, die richtig schlecht waren, die einfach keine Empathie hatten, kein Händchen für Gesprächsführung, die halt nur eine Zusatzausbildung gemacht hatten und dort gelernt haben, wie man ein bestimmtes Verfahren anwendet, aber das hat sie nicht zu guten Therapeuten gemacht.
Und ich habe Therapeuten kennengelernt, die sich offiziell nicht Traumatherapeuten nennen durften (weil: keine entsprechende Zusatzausbildung) , die aber einfach genial waren, begabt für den Beruf, sehr emphatisch, tolle Gesprächsführung.
Natürlich auch andersherum. Therapeuten sind halt alle individuelle Charaktere. Was ich damit meine: Ob man mit einem Therapeuten gut und effektiv arbeiten kann, hängt nicht unbedingt von seiner Qualifikation ab. Wenn Du mit Deiner Therapeutin zurechtkommst, ist das schonmal viel wert, dann kann es auch nebensächlich sein, welche Zusatzausbildung sie gemacht hat.
Du brauchst Dir keine Gedanken darüber machen, dass bei Dir keine Diagnostik in Richtig kPTBS gemacht wurde. Aktuell gibt es diese Diagnose offiziell noch gar nicht. Wir werden noch nach dem ICD 10 diagnostiziert, und da gibt es nur die Diagnose PTBS, egal ob komplex oder nicht, es ist alles eine Diagnoseziffer. Vielleicht wird mal ein Zusatz gemacht (so stand es bei mir mal in einem Bericht: F43.1 PTBS (komplex)), aber offiziell gibt es diese Diagnose noch nicht. Erst wenn das ICD 11 zur Anwendung kommt (so weit ich weiß ab 01.01.2022), kann man die Diagnose offiziell vergeben. Und auch erst dann kann eine Klinik offizielle Diagnostik in diese Richtung machen, da dafür ja auch zugelassene Diagnoseverfahren zur Anwendung kommen müssen, was aktuell rein praktisch noch gar nicht möglich ist.
Damit will ich jetzt auf keinen Fall die Versäumnisse Deiner aktuellen Klinik rechtfertigen oder verteidigen, auf gar keinen Fall!
Ich wollte Dir nur erklären, wie das eventuell zustandegekommen ist und das die Klinik eigentlich gar nicht die Möglichkeit hat, eine kPTBS zu diagnostizieren. (Es gibt trotzdem spezialisierte Traumakliniken, die diese Unterscheidung trotzdem auch jetzt schon berücksichtigen, auch wenn das quasi nur inoffiziell geht.) Bei allen Versäumnissen und Merkwürdigkeiten Deiner Reha-Klinik: In diesem Punkt hat die Klinik weitgehend nur in Übereinstimmung mit den offiziellen Diagnosemöglichkeiten gehandelt.
Lass' Dich nicht unterkriegen und kämpfe weiter für Dich und Deinen Sohn! Und wie Du ja auch schon an anderer Stelle geschrieben hast: Trotz allem fühlst Du Dich in der Reha schon etwas stabiler.
Ich wünsche Dir sehr, dass Du es weiterhin schaffst, auch positive Erfahrungen in der Reha zu machen (trotz aller Probleme), weiter Zeit mit Deinem Sohn verbringen zu können und die kleinen Lichtblicke, die es gibt, auch weiterhin sehen zu können!
LG Silver
13.08.2021 17:23 •
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