Sterben und Tod waren für mich bis Mitte 20 sehr unheimlich. Wie viele hatte ich Angst davor. Ich erinnere mich z.B. dass ich schon als Kind immer mit Herzklopfen zu meinen Großeltern ins Wohnzimmer ging, wenn sie Mittagsschläfchen hielten. Ich hatte tierische Angst, dass ich sie tot finde. Auch mit trauernden Schulkameraden konnte ich nicht umgehen. Ich wusste nicht, wie ich mich da verhalten soll, wollte nicht weinen und sie noch weiter runter ziehen. Deshalb ging ich ihnen aus dem Weg. Gedanken an den eigenen Tod hatte ich keine, obwohl ich auch Grabsteine malte und so ne Wannabe-Goth-Phase hatte, wo ich nur schwarz trug, düstere Lieder hörte und todtraurige Gedichte schrieb.
An meiner ersten Beerdigung nahm ich mit 22 Jahren teil. Die Mutter eines Schulkameraden war gestorben, die ich mochte. Nur wenige Wochen später verstarb meine Oma. Das war furchtbar. Ein ganz schwieriger Trauerprozess, auch weil ich ein schlechtes Gewissen hatte und das Gefühl Trauer so ganz anders war als normale Traurigkeit. Ein schlechtes Gewissen hatte ich, weil sich schon angebahnt hatte, dass sie sterben würde. Sie war stark depressiv und sehr gebrechlich geworden, machte auch teilweise unter sich. Ich konnte das nicht gut ertragen, wollte es nicht wahrhaben und habe sie ehrlich gesagt als Enkelin im Stich gelassen. Gleichzeitig hatte ich seltsame Erlebnisse. In der Nacht von ihrem 80. Geburtstag ein halbes Jahr vor ihrem Tod, hatte ich geträumt dass sie gestorben war. Ich lief in diesem Traum davon. Komischerweise war es dann real sehr ähnlich wie in meinem Traum, nur lief nicht ich davon, sondern mein Bruder. Irgendwie fand ich auch das sehr unheimlich. Solche Träume haben sich dann bei anderen Angehörigen und zuletzt bei meinem Hund wiederholt. Ich denke es ist ein unterdrückter Instinkt, der sich da bei mir meldet.
Meine Oma hatte auch Angst vorm Tod. Sie wollte nicht, dass ich sie im Sarg sehe. Daran hatte ich mich gehalten. Das war im Nachhinein falsch. Ich hatte Schwierigkeiten ihren Tod für mich zu realisieren, zu begreifen und hatte immer so die haben sich geirrt, die haben sie verwechselt und jetzt liegt sie im Krankenhaus und wartet auf uns-Gedanken.
Der Trauerprozess dauerte extrem lange. Über 3 Jahre.
Meinen ersten Toten habe ich dann im Vikariat während der Lehrpfarrer-Vertretung gesehen. Ich musste eine Aussegnung an einer Verstorbenen durchführen. Da MUSSTE ich dann durch. Ich hatte enorm großen Bammel davor, hatte schon einige Beerdigungen vollzogen und hatte mich mit trauernden Angehörigen auseinandergesetzt, aber eben noch nie einen Leichnam gesehen. Komischerweise war der Anblick auch überhaupt nicht schlimm. Ins Aussegnungsritual gehört auch der sogenannte Valet-Segen, ein Abschieds-Ritual, zu dem auch die dreimalige Zeichnung des Leichnams mit dem Kreuz auf Stirn, Brust und Händen gehört. Ich hatte natürlich Scheu davor, aber in der Situation war das für mich eine segensreiche Erfahrung. Mit den Händen zu spüren, da ist kein Leben mehr, da ist wirklich nur noch eine Hülle. (Heute fasse ich allerdings keine Toten mehr an, aus hygienischen Gründen, wegen des MRSA-Keims und anderer Krankenhaus-Keime. Ein befreundeter Medizin-Hygieniker hat mir dazu geraten.)
Als Seelsorgerin bin ich auch in KSA (Klinischer Seelsorge) und Palliative Care ausgebildet und in Trauerbegleitung. Ich habe inzwischen viele Menschen auf dem Sterbebett und ihre Angehörigen begleitet. In den allermeisten Fällen war das - auch wenn man es kaum glauben mag - eine sehr schöne Erfahrung und eine sehr dankbare Aufgabe. Von allen Amtshandlungen mache ich auch Beerdigungen am allerliebsten, nicht weil ich irgendwie morbid bin, sondern weil ich das Gefühl habe, da was geben zu können, was nur ich in meinem Amt geben kann und etwas absolut Sinnvolles zu tun. Manchmal ist es leider so, dass Menschen einen sehr qualvollen Tod erleiden. Ich habe auch Menschen begleitet, die - insbesondere vorm Palliativgesetz von 2006 - nicht gestorben sind, sondern elendig verreckt. Das war sehr schlimm mit anzuschauen und das sind Prozesse die mir immer sehr, sehr lange nachgehen, auch weil die Angehörigen, für die das alles ja noch vielfach schlimmer ist, oft eine besondere seelsorgerliche Nachbetreuung brauchen.
Persönlich habe ich mittlerweile alle meine Großeltern verabschieden müssen. Beim Sterben eines Großvaters war ich dabei. Und obwohl der Tod da zwar nicht unerwartet aber sehr plötzlich kam und ich ihn sehr lieb hatte, war das ein sehr schöner Moment. Ich erinnere mich auch noch, wie ich zu ihm sagte wenn du gehen musst, dann geh, wir kommen nach. Auch da war der Trauerprozess intensiv, aber nicht so schmerzhaft wie bei seiner Frau, meiner Oma. Bei den anderen Großeltern war etwas mehr Distanz da.
Ich bin Pfarrerin einer kleinen Landgemeinde, betreue 5 kleine Dörfer. Was mich dort immer wieder fasziniert, sind die alten Trauerrituale, die dort noch praktiziert werden und in denen viel Weisheit steckt.
Man geht ja davon aus, dass Sterben und auch Trauer in ähnlichen Prozessen abläuft (Elisabeth Kübler-Ross, Verena Kast und Yorick Spiegel seien hier genannt). Man teilt diese in 5 oder 4 Phasen ein. Beim Sterbeprozess z.B.: 1. Nicht-wahrhaben-Wollen und Isolierung; 2. Zorn/Ärger; 3. Verhandeln; 4. Depressive Phase; 5. Akzeptanz.
Genau diese Phasen erkenne ich in den uralten Ritualen der Kirche wieder. Sowohl das Aussegnungs-Ritual, als auch das Trauergespräch mit dem Pfarrer, der Beisetzungs-Gottesdienst oder die eigentliche Beisetzung und auch die Trauerzeit übers Kirchenjahr, mit den Gedenkterminen oder sogar die oft verpönten gesellschaftlichen Normen, wie lange man sich schwarz anzieht und was man zu welchem Zeitpunkt erledigt (Grabschmuck, Grabumrandung, Grabstein) nehmen diese Phasen immer wieder auf und durchlaufen diese immer einmal komplett, so als wollten sie die Angehörigen darin trainieren, durch diese Phasen hindurchzugehen. Ich finde die alten Rituale im Trauerprozess sehr hilfreich, auch wenn man vieles heute übersetzen muss, damit es die Menschen nicht als Gängelung empfinden.
Jedenfalls hat der Tod für mich seither seinen Schrecken verloren. Ich kann ihn akzeptieren, finde es nicht schlimm, eines Tages nicht mehr im Diesseits zu sein. Ich habe vor meiner Existenz schon Jahrmillionen verpasst, ich finde es auch nicht schlimm, danach was zu verpassen, zumal ich als Christin darauf hoffe, dann etwas sehr viel Schöneres leben zu dürfen.
Vorm Sterben habe ich höchsten Respekt und natürlich wäre mir ein plötzliches, sanftes Einschlafen ohne Krankheitsphase, langes Abschiednehmen auch am liebsten.
28.07.2014 19:46 •
x 1 #14