Vor vielen Jahren habe ich erstmals mit Angstsymptomen auf eine berufliche Überlastung reagiert: Angst zu versagen, die Anforderungen nicht zu erfüllen, das Gefühl gehetzt zu werden, ständig mit unlösbaren Aufgaben konfrontiert zu sein. Das entwickelte sich bis in eine soziale Phobie hinein, bei der ich am Ende Panikattacken bekam, wenn ich nur an der Supermarktkasse gefragt wurde, ob ich Kleingeld habe.
Es entwickelte sich also aus zunächst tatsächlich sehr anspannenden Situationen in immer trivialere hinein, bis es am Ende auch das Privatleben und gänzlich unkritische Situationen erreicht und erfasst hatte. Aus heutiger Sicht habe ich viel zu spät reagiert, viel zu lange versucht, dem allein mit Verhaltensänderungen beizukommen - unwissend auch über Ursachen und Hintergründe.
Ich habe die hier so oft beschriebenen Flucht- und Vermeidungsstrategien entwickelt, habe Ausflüchte gesucht, bin spezifische Situationen umgangen. Da mein berufliches Umfeld keinerlei Ahnung vom Hintergrund hatte, waren auch die dortigen Reaktionen typisch: Unverständnis, Verdacht auf Faulheit, Drücken vor Aufgaben. Irgendwann gab es keinen Ausweg mehr als die Offenlegung der Hintergründe - ich war der du musst dich beweisen und du kannst alles Typ, der diese Erkrankung selbst als Schwäche auslegte und unter allen Umständen vor Anderen verbergen wollte. Ich hatte Karriere gemacht, wurde als Überflieger gesehen und konnte nichts weniger gebrauchen als eine Angsterkrankung. Aber - wie Sinatra in My Way sagt: I bit off more than I could chew. Ich konnte das mir selbst aufgeladene Päckchen nicht mehr tragen.
Ich erhielt damals erste Hilfe und Rat von anderen Menschen mit ähnlichen Erfahrungen. Web-Foren wie dieses gab es noch nicht, aber es gab das Internet und Diskussionsgruppen über andere Dienste. Dort erfuhr ich erstmals, dass ich nicht eine undefinierbare und höchst peinliche Störung habe, sondern dass viele - sehr viele - Menschen an ähnlichen Krankheiten leiden - oft mit vergleichbaren Auslösern, häufig in viel stärkerer Ausprägung und doch voller Mut und Zuversicht. Daher Dank an alle, die sich hier engagieren - die Erkenntnis des nicht allein Seins ist ein ganz wichtiger erster Schritt.
Nachdem ich dem Ding einen Namen geben konnte, konnte ich auch gezielt Hilfe suchen. Der Arbeitgeber reagierte verständnisvoll und setzte mich auf eine Position, in der mir der auslösende Druck genommen wurde. Medikamente blockierten die Panikattacken in spezifischen Situationen, ich habe sie zunächst dauerhaft (etwa zwei Monate lang), später situativ eingesetzt, denn sie beruhigten binnen weniger Stunden. Ich erinnere Namen und Wirkstoffgruppe des Medikamentes nicht mehr, aber es war effektiv. Es bestand Suchtgefahr, die ich jedoch nicht erfahren habe. Eine Therapie begleitete die nachfolgende Zeit - aus heutiger Sicht habe ich sie nicht als hilfreich empfunden, denn sie erschien mir erschreckend distanziert. Umstände wie Ja, lassen Sie uns mal für nächsten Monat einen Termin machen und Wir sehen uns dann nächste Woche wieder haben mich bei der Suche nach schneller Hilfe eher weiter in die Hilfslosigkeit geschoben. Damals jedoch war es dann doch gut, einmal von Angesicht zu Angesicht mit jemandem sprechen zu können, der die Erkrankung und ihre Ursachen versteht. Ich weiß nicht mehr genau, wie häufig ich dort war, aber als es besser ging, hörte ich damit auf. Die Erforschung des Einflusses des „kleinen Timo“ auf das Verhalten und die Psyche des heutigen Erwachsenen erschien mir „gaga“ - ich konnte keinen Bezug zu meiner Erkrankung erkennen und erst recht fehlte mir die rasche Hilfe, die ich suchte. Natürlich weiß ich und wusste ich auch damals, dass eine Angsterkrankung sich nicht übers Wochenende entwickelt und auch nicht übers Wochenende wieder verschwindet. Weiter scheint ja auch erwiesen, dass frühe Erfahrungen und Erlebnisse hier stark prägen und beeinflussen. Die konkrete Therapie jedoch machte mir den Eindruck, als würde in Leerstellen auf einem vorbereiteten Diagnoseblatt lediglich mein Name eingetragen – mir fehlte der Bezug zu meiner konkreten Situation und das ist wohl der eigentliche Grund, warum ich diesen Teil als nicht entscheidend für die spätere Besserung betrachte.
Besser ging es mir dann, weil:
- Die ursächliche Situation durch die Versetzung aufgelöst wurde
- Die Symptome durch das Medikament bekämpft wurden und dadurch – weil die Erfahrung der Panikattacken ausblieb – letztlich geringer wurden.
Wirklich weg waren die Symptome jedoch nie, eine Angst vor Situationen, in denen ich im Mittelpunkt stand, blieb. Damit konnte ich leben, denn erstens waren diese Situationen selten und zweitens merkte ich selbst, dass ich mich zwar lange im Vorfeld mit einer konkreten Situation befasse (typisches Redeangst-Verhalten also), aber die Symptome in der Situation selbst dann recht bald verschwinden und am Ende das Gefühl einer gut überstandenen Herausforderung überwiegt. Ich hab’s dann unter „Lampenfieber“ abgetan und konnte gut damit leben. Allerdings bin ich in die zweite Reihe abgetaucht, ich war nicht mehr der Überflieger, der Frontmann, der „Macher“, sondern ich stand hinter diesen Leuten, arbeitete ihnen zu. Heute glaube ich, dass das falsch war, denn ich wog mich in einer Pseudo-Sicherheit, die nicht für immer Schutz bieten konnte.
Es kann dann ganz schnell gehen und auf einmal steht man wieder in der ersten Reihe. Wo Vorträge früher die absolute Ausnahme sind, wurden sie auf einmal die Regel. Ich bin mit viel Skepsis und Angst an diese Sache herangegangen und habe erste Vorträge vor kleinen Gruppen gehalten – sehr nervös, aber gut vorbereitet. Der Erfolg hat mich beflügelt, niemand bemerkte meine Nervosität, es gab gutes Feedback. Ich traute mir mehr zu, die Gruppen wurden größer, später stand ich auf Veranstaltungsbühnen in Vortragsräumen. Ja, anfangs zitternd und haspelnd, trockener Mund und am Ende eines 1stündigen Vortrags total erschöpft, aber: auch das ging. Wer eine Angsterkrankung hat, erkennt die Symptome leichter auch bei anderen – ich habe gesehen und verstanden, dass Redeangst weit verbreitet ist und nicht nur ich, sondern die weitaus meisten Leute angespannt in einen freien Vortrag gehen.
Es ging wieder abwärts, als ich erstmals einen Vortrag halten musste, dessen Thema mir nur vage vertraut war. Die Angst zu versagen, als Depp dazustehen, der keine Rückfrage beantworten kann, schlug voll zu, fegte mich von der Bühne. Ich bekam kein Wort mehr heraus, musste den Vortrag abbrechen, mich setzen. 50 Augenpaare waren auf mich gerichtet, die Teilnehmer tuschelten untereinander, ansonsten herrschte Totenstille im Saal. Der Super-GAU! Zwar konnte ich später weitermachen, aber die Urängste der Folgen waren im vollen Umfang eingetreten: Reputationsverlust, Geringschätzung, Unverständnis. Erstmals machte ich die Erfahrung, dass diese maximale Auswirkung und Ursache der Ängste nicht nur ursächlich für die Panikattacke ist, sondern dass sich der Teufelskreis auch dahingehend fortsetzt, dass der befürchtete Effekt tatsächlich eintritt.
Im Folgenden hat sich diese Situation noch einige Male wiederholt – sämtlich bei kleineren Anlässen. Manchmal konnte ich rechtzeitig umlenken, einen anwesenden Kollegen einbeziehen bzw. das Wort noch rasch an ihn übergeben, bevor es mir gänzlich die Sprache verschlug. In solchen Situationen ist die Panikattacke nach zwei Minuten zu Ende und tritt im Verlauf des Anlasses auch nicht wieder auf. Ich kann mitmachen, auch wieder das Wort ergreifen und bin dann so locker und entspannt, wie ich mir das für den Beginn des Vortrags gewünscht hätte. Diesen Effekt empfinde ich als sehr interessant und zugleich unerklärlich. Andere Situationen wiederum gingen glücklich „über die Bühne“, sodass ich das tatsächliche Ursachenprinzip noch nicht wirklich durchschaut habe. Es hat aber unter anderem auch mit dem verfügbaren Raum zu tun. Eine große Bühne (=ein großer Raum) gibt mir Platz für Bewegungen, ich kann Präsentationsmedien wechseln, sitzen, stehen, gehen, kurz: In Bewegung bleiben. Wo das nicht geht, fühle ich mich „angenagelt“, ohne Fluchtweg, mit kurzer Distanz zum Zuhörer. Das verstärkt die Angst und löst die Panikattacke aus – soviel habe ich selbst herausgefunden.
Jetzt bin ich wieder da, wo es vor vielen Jahren begann. Ich schreibe dies zum einen, weil ich sicher bin, dass solche Berichte anderen helfen, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Schritte einzuleiten. Und zum anderen, um selbst nach Hilfe zu fragen, denn diesmal habe ich zumindest verstanden, dass Ausweichen, Vermeiden, Abwarten und Flüchten die Angst nicht bekämpfen, sondern im Gegenteil fördern. Nach ersten Recherchen in diesem Forum hat sich eine Menge getan auf dem Markt der Therapeuten und Medikamente. Ich hoffe, hier Hilfe zu finden, denn in meinem Umfeld wird das schwierig. Ein vom Hausarzt empfohlener Neurologe ließ mich wissen, dass wir gern im kommenden Frühjahr einen Termin vereinbaren können. Der Hausarzt sucht geeignete Mittelchen aus einem großen Buch heraus – viele Erfahrungen liegen hier nicht vor. Das lässt mich nach alternativen Wegen suchen, denn ich kann nicht gut ein halbes Jahr abwarten.
Meine Fragen:
- Wo gibt es Verzeichnisse von Psychotherapeuten, die diese konkrete Erkrankung (Redeangst, Logophobie) behandeln?
- Wird die betreffende Behandlung von der (gesetzlichen) Kasse getragen?
- Welche Mittel helfen kurzfristig, also direkt vor einem betreffenden Auftritt? Ich lese von Betablockern und Benzodiazepinen – was genau unterscheidet die und wer hat mit welchen gute Erfahrungen in ähnlicher Lage gemacht?
- Welche Mittel helfen langfristig, mindern also Symptome wie permanente Unruhe, Nicht-einschlafen-können wegen ständiger Beschäftigung mit dem Thema etc.?
Dank an alle, die bis hierher durchgehalten haben.
Viele Grüße
Timo
23.09.2010 12:38 • • 21.11.2010 #1