Hallo steffiii,
das ist ganz ganz viel, ich hab nen Buch drüber geschrieben, siehe unten, zunächst mal:
In Bad Bramstedt wurde auf meiner Station nach der dialektischen
Verhaltenstherapie gearbeitet. Für den Patienten geht es darum, einen
Weg zwischen dem Verstehen und Respektieren der Krankheit sowie
einer entsprechenden Veränderung zu finden. Wesentlich dabei sind
beispielsweise Strategien der Achtsamkeit und zwischenmenschliche
Fertigkeiten. Auch der Umgang mit Gefühlen sowie Stress- und
Selbsttoleranz sind wichtige Bestandteile der Therapie. Therapiert wurde
wesentlich in Gruppen, einmal die Woche fand eine Einzeltherapie statt.
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Neben der Definition eigener Ziele ging es zunächst in der
„Anspannungsgruppe“ darum, sich seiner eigener Anspannung bewusst
zu werden und diese beispielsweise durch die oben genannten „Skills“
abzubauen. Hilfreich war hierbei auch die „Achtsamkeitsgruppe“. Hier
galt es, die fünf Sinne Riechen, Schmecken, Hören, Fühlen und Sehen zu
schärfen, um sich ggf. zurück in die Realität zu holen und sich realistisch
einschätzen zu können. Nachdem ich erste Übungen geschafft hatte gab
es eine „Fleißkarte“. Zum Thema „Achtsamkeit“ stand auf dieser z.B.:
„Was nehme ich in diesem Moment in und um mich herum wahr? Ich
lasse es zu, halte es nicht fest und schiebe es nicht zur Seite. Ich bewerte
es nicht. Es gibt kein gut oder schlecht.“ Es geht in angstbesetzen
Situationen um einen „Realitätscheck“. Sich aus der Angstspirale
rausdenken und sich immer wieder zu fragen: „Hilft mir das aktuelle
Denken das zu fühlen und zu spüren, was ich möchte?“. Und immer
wieder: Versuchen, sich selbst nicht zu bewerten, versuchen sich selbst
nicht zu bewerten, versuchen sich selbst nicht zu bewerten, versuchen
sich selbst nicht zu bewerten…
Ein weiterer Lerneffekt: Nach schwierigen Expositionsübungen (z.B.
einem Gespräch in der Cafeteria) ist es wichtig, sich selbst zu belohnen.
Nach einer Übung etwas tun, was man sehr gerne tut, sich etwas gönnen,
irgendetwas, was eine kleine Besonderheit ist. Das ist ganz wichtig. Es
gleicht einer Konditionierung wie bei einem Hund. Es reicht nicht, wenn
man sich denkt: „Gut gemacht, das war ok.“ Es bedarf eines stärkeren
Konditionierungsreizes, damit auch das Unterbewusstsein merkt: Gut
gemacht, das war stark!
Sei nett zu Dir selber. Belohne Dich. Tue Dir und Deinem Körper etwas
Gutes. Ich nahm das ernst. Kein Kaffee mehr und mit dem schei.
Rauchen hörte ich von einem Tag auf den anderen wieder auf. Ich wollte
das nicht mehr. Das war nicht so ganz einfach. Aber wenn ich bedenke,
dass ich bis vor drei Monaten 10 Jahre überhaupt nicht geraucht hatte,
dann wird es Zeit wieder daran anzuknüpfen. Tue Deinem Körper etwas
Gutes, jeder Faser, jeder Zelle. Ich bin es wert. Gifte schädigen den
Körper und natürlich auch die Psyche. Es gab Patienten hier, welche als
Übung einen Entschuldigungsbrief an sich selber schreiben sollten, weil
sie sich jahrelang mit Dro. malträtiert hatten. Brutales selbstschädigendes
Verhalten, aber auch nachvollziehbar.
In der stationsübergreifenden „Soziale Phobie-Gruppe“ sollten die
Patienten dann im Gruppenrahmen Expositionsübungen durchführen.
Einen kurzen Vortrag halten oder beispielsweise sich vor der Gruppe
allgemeinen Fragen stellen. Erneut lernte ich, dass die Angst - in aller
Regel - nach außen gar nicht so stark sichtbar ist. Ich fühle die Angst,
also komme ich auch so rüber? Falsch!
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Wichtig und schwierig ist auch die „Entscheidung für einen neuen Weg.“
Aus alten Mustern und Verhaltensweisen ausbrechen, einen neuen Weg
ins Dickicht schlagen, ab ins Ungewisse. Den Dschungel stutzen, die
Lianen abschlagen und versuchen, einen Weg der Angstfreiheit zu
erreichen. Auf dem alten Pfad, mit den alten Denkmustern geht das nicht,
das habe ich nun 20 Jahre lang erfahren. Es geht nur über einen neuen
Weg. Ich trage die volle Verantwortung für mein jetziges Leben! Die
Vergangenheit ist vorbei. Sicherlich habe ich einen schweren Rucksack
mitbekommen, aber es liegt nun an mir, wie ich der Last begegne. Ich
bin selbst verantwortlich, ich möchte niemandem mehr die Schuld für die
Phobie und die Depressionen geben. Ich nehme die Bürde jetzt an.
Radikale Akzeptanz. Ich versuche, Last loszuwerden und verbleibenden
Ballast zu akzeptieren. Das Leben ist so wie es ist. Es ist unumgänglich,
sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen. Und gleichzeitig bedeutet
das, achtsam mit sich umzugehen. Man kann eine Verhaltensänderung
nicht allein mit dem Willen herbeiführen. Mit dem Kopf durch die Wand
funktioniert nicht. Ist man völlig k.o., hat man kaum noch Energie, dann
sollte man sich tunlichst nicht zwingen, wieder in eine angstauslösende
Situation hineinzugehen. Das geht schief, man leidet und braucht wieder
eine Weile um aufzustehen. Rücksichtsvolles Umgehen mit sich selbst,
das ist wichtig.
Wieder und wieder vollzog ich Expositionsübungen. Einkaufen, zum
Sport gehen, mich mit Mitpatienten unterhalten. Ich machte kleine
Fortschritte, begann mir etwas mehr zuzutrauen. „Ohne Druck bin ich in
der Situation. Ich akzeptiere meine derzeitigen Grenzen. Ich beobachte
achtsam die Umgebung und bleibe in der Realität. Wenn ich angespannt
bin nehme ich es wahr, ohne Bewertung. Die Situation ist harmlos.“
Ich übte immer wieder von Neuem, bis es mir zu den Ohren heraushing
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Ich versuchte, alte, tiefgründige Grundannahmen wie z.B. „Ich bin
anders als Andere. Ich bin nicht liebenswert“ oder „Ich kann das nicht.
Ich bin nicht fähig.“, „Ich muss mehr tun als Andere um liebenswert zu
sein.“ durch positive Muster zu ersetzen. Dafür schrieb ich mir eigene
Eigenschaften auf, die ich als positiv erachte, und las sie mir wieder und
wieder vor.
Eine Angststörung wird durch Selbstwertarbeit gemildert, ohne diese
Arbeit wird es schwierig.
Ich hielt mir jeden Tag mehrfach meine Stärken vor Augen. Ich stellte
mir vor, dass mein „innerer Kritiker“ einen Nichtangriffspakt mit
meinem „Befürworter“ schließt. Wann immer der Kritiker sich mit alt
bekannten Leitsätzen meldete: „Du wirst abgelehnt.“, „Du musst viel
leisten um akzeptiert zu werden.“ sagte ich: „Stop!“. Ich tauschte diese
Muster durch positive Sätze und positives Feedback aus. Du bist
wertvoll. Du hast es nicht nötig, Angst zu haben. Du kannst viel und bist
viel. Du bist ok, wie Du bist. Ich merkte manchmal wie sich ein wohliges
Gefühl in der Magengegend ausbreitete. Ich bin ok, ohne Leistung,
einfach nur durch eigenes Sein. Auch Shame-Attacks führte ich durch:
Fremden Menschen ein Kompliment machen, im Foyer einem
Mitpatienten laut etwas zurufen.
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Es gab viele Rückschritte bei den Übungen. Nicht immer klappte das,
was ich mir vorgenommen hatte (z.B. Gespräche beim Essen, Austausch
in der Sitzgruppe etc.). Manchmal trat die Angst auch in Situationen
wieder auf, welche ich schon zigmal gemeistert hatte.
Oft war ich nachmittags so kaputt, dass ich mich nur noch ins Bett legen
konnte. Arbeit an der Angst und an sich selbst ist furchtbar anstrengend.
Besserung kommt nur langsam und nicht linienförmig sondern eher als
eine auf- und absteigende Kurve. Es reicht nicht, diese Arbeit nur
theoretisch, ausschließlich im Kopf, durch eigenes Denken
durchzuführen. Es ist wichtig, Übungen aufzuschreiben und sich regelmäßig
und oft schriftlich mit ihnen zu beschäftigen. Und diese
Situationen gilt es selbstverständlich auch in der realen Welt zu erleben.
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Und ganz langsam, tröpfchenweise, merkte ich, wie sich soziale
Situationen veränderten. Als ob ein Eisblock schmilzt, als ob die Sonne
einen schneebedeckten Hang bescheint.
Manchmal merkte ich in einem Gespräch für einige Minuten, dass ich
sicherer wurde, manchmal auch für eine ganze Stunde. Danach schneite
und fror es wieder, aber das Licht bewegte sich der Dunkelheit unaufhörlich
entgegen. Wärme ersetzte Kälte. Ein leichter und warmer Wind
wehte über das Eisfeld, langsam, ganz langsam und bedächtig. Ein leiser,
filigraner Klang schwebte zu mir herüber.
Ich arbeitete weiter. Jeden Tag schrieb ich auf, was gut geklappt hatte.
Ein Lob von sich selbst oder ein positives Feedback kann definitiv das
Selbstvertrauen stärken. Hilfreich ist es auch, sich sinnvolle und
realistische Ziele für den Tag zu setzen. Es gibt ein gutes Gefühl und
stärkt das eigene Ich wenn man seine eigenen Vorgaben erreicht. Den
eigenen Befürworter und das eigene Selbstbewusstsein bitte bei einer
psychischen Erkrankung niemals unterschätzen. Es sind wertvolle
Partner der Genesung.
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Jeden Tag von Neuem ein ähnliches Programm. Expositionsübungen,
Kurzvorträge halten, mit anderen Menschen sprechen. Das
Sicherheitsverhalten reduzierte ich immer weiter, bis ich mich quasi
„*beep*“ präsentierte. „Kehle zeigen“ immer wieder. Sich selber loben
und belohnen. Das kleine Ich hegen und pflegen und ihm endlich die
Aufmerksamkeit geben, welche ihm so lange vorenthalten wurde. Eigene
Wertschätzung ist Wasser auf verstaubte Mühlen der Lebensfreude.
Halbtot, in der Wüste, die Kehle ganz trocken. Eisgekühltes Wasser, so
viel wie ich will, endlich!
Der innere Befürworter sorgt dafür, dass das kleine Wesen größer und
stabiler wird. Es wächst, und wie es wächst. Es schießt richtig empor und
ernährt sich gut und gesund. Es kriegt jetzt alles, was es will.