Liebe Manu,
ich weiss, wie Du Dich fühlst, denn ich habe in vielen Phasen meines Lebens die tiefen Abgünde meiner eigenen Seele ausgelotet und viele Ängste und Depressionen ausgestanden, bin immer wieder aufgestanden und weitergegangen. Und je älter ich werde, desto schwieriger ist es, mich selbst in manchen Situationen anzunehmen, in denen ich meinen eigenen Ansprüchen nicht genüge. Auch heute. Ich war gerade erst 17 und bin jetzt 34. Ich bin zum zweiten mal Vater geworden und habe seit drei Monaten einen wirklich guten Job als Programmierer. Und was passiert ? Ich breche zusammen, kann nicht mehr Auto fahren, habe Angst alles zu verlieren, warum ? Weil ich versucht habe, allen anderen gerecht zu werden, den Erwartungsdruck auszuhalten. Weil ich auf meine wahren Bedürfnisse immer noch nicht genug Acht gebe. Weil ich mich immer schon irgendwie falsch gefühlt habe, hetze ich immerzu irgendetwas hinterher, das ich nicht glaube zu sein. -
Manu, es ist schwer in den Spiegel zu schauen, für mich, für Dich, für ganz viele Menschen. Du erschreckst Dich über das, was Du zu erkennen glaubst. Dennoch weisst Du gar nicht mit dem Verstand zu erfassen, was Dich an Dir selbst eigentlich erschreckt, denn dazu ist der Verstand alleine nicht fähig. Das permanente Nachdenken treibt jeden gesunden Menschen in eine Katastrophe, weil der Verstand alleine nicht fähig ist, zu verstehen, das er eigentlich im Weg ist, wenn es darum geht, Vertrauen und Liebe zu Dir selbst und zum Leben wiederzufinden. Du hast Angst, Dich zu verlieren, doch nur deshalb, weil all die vielen Gedanken gar nicht wirklich etwas mit Deinen unerlösten Gefühlen zu tun haben. Wenn Du Dich traust, Dein verletztes Herz nur ein kleines bischen zu öffnen, dass ja einfach nur geliebt werden wollte, und erkennst, dass Du Dich selbst nicht genug lieb hast, weil Du verletzt worden bist und es Dir und anderen nicht verzeihen kannst, weil Du auf andere gehört hast, die gesagt haben, dass Du nicht richtig bist und irgendwann vor Dir selbst erschrocken und weggelaufen bist, weil Du schon solange nicht mehr an Dich glaubst, dass Du Dich nun bereits nach dem Tod sehnst, wo das pralle Leben auf Dich wartet, dann erlebst Du vielleicht einen kleinen Moment der Wahrheit, den Du aber nicht festhalten kannst, nicht mit den Gedanken. Wenn Du es zulassen kannst, fühle den Schmerz tief in Dir drin, der Dich quält, und lasse ihn ein bischen zu, nur ein bischen, und hab' Geduld mit Dir selbst. Du hast es verdient, dass Du gut zu Dir bist und Du darfst Dir auch leid tun, aber hör auf Dich zu martern. Du hast es verdient, dass Du selbst gut zu Dir bist. Du bist ein einzigartiger, individueller Ausdruck dessen, was ein Mensch sein kann. Hör auf Dich mit anderen zu vergleichen. Du bist wertvoll mit all Deinen Fehlern und Schwächen, Ängsten und Depressionen. Du bist ein Mensch. Und zeige mir einen einzigen Menschen, vor dem Du Dich nicht erschrecken würdest, wenn Du wirklich in ihn hineinschauen könntest. Wir sind komplexe Wesen, voller Triebe, voller Wünsche, voller Sehnsüchte und jeder hat sein Leid, jeder versagt irgendwo, jeder ist irgendwo Täter und wo anders Opfer, jeder hat Angst, wenn er sich den Dingen stellt, mit denen er noch nicht vertraut ist, aber wir alle sind unterwegs und lernen ...
Ich glaube an Dich, Manu. Und soll ich Dir nochwas sagen ? Ich möchte keine Stunde meines Lebens mehr gegen schönere eintauschen, weil ich mich durch all das Leid so gut kennengelernt habe, dass ich mich heute davon befreien kann. Sicher. Ich falle auch immer wieder mal hin und mich kotzen auch manchmal die Menschen an, mit denen ich zu tun habe, manchmal hasse ich das Leben, wenn ich aufstehe, aber ich habe mich selbst in meinem Herzen auf eine Weise wiedergefunden, dass ich all das aushalten kann. Ich konnte nichts mehr lieben, bevor ich nicht mich selbst lieben gelernt habe und verstanden habe, dass ich all die Jahre viel zu hart mit mir umgegangen bin. Ich konnte mir vieles nicht verzeihen und habe mir eingebildet, alle müßten jederzeit erkennen, wie wertlos ich bin. Doch das war alles Einbildung ... Heute habe ich eine starke Frau und zwei sonnige Kinder, eine schwere temporäre Angststörung, was soll's ? Ich habe mich lieb. Und Du solltest Dich jetzt auch lieb haben.
Ich mache übrigens eine Therapie und die hat mir sehr geholfen, meinen Schmerz zu erkennen und mit dem Herzen anzunehmen. Aber ich habe lange gesucht, bis ich die Therapeutin gefunden habe, die zu mir passt. Lass Dir nichts einreden, das Dir Angst macht und Dir ein schlechtes Gefühl gibt ! Du mußt auf niemanden hören, wenn Dein Bauch "nein" sagt. Doch vertraue Dich jemandem an, der gut zu Dir ist, gib nicht auf, bis Du ihn gefunden hast, es lohnt sich ...
Ich wünsche Dir ganz viel Erfolg, Stärke und Frieden
Rudi
18.04.2002 00:21 •
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