Liebe Julia,
Dass du dich deinem Lehrer anvertraut hast, finde ich sehr richtig und Hut ab, dass du über dein Problem dich sprechen getraut hast.
Deinem Hausarzt kann ich auf gar keinen Fall folgen, warum er dir von einer Therapie abgeraten hat.
Das wäre jetzt bei dir höchst wichtig, bevor sich eventuell eine Essstörung voll entwickeln kann.
Was würde ein Therapeut mit dir machen:
In einer Therapie, insbesondere in einer kognitiven Verhaltenstherapie, könntest du lernen, mit der Angst, dass dir übel wird und du erbrechen könntest, umzugehen.
Dies werden dir viele Emetophobiker bestätigen. Was erwartet dich in einer Therapie?
Zusammen mit Ihrem Therapeutenwirst vermutlich zunächst schauen, ob sich in deiner Vergangenheit eine Erklärung für deine Erkrankung finden lässt.
Möglich, dass du hierbei fündig werden. Es kann aber auch sein, dass nicht.
Wie auch immer die Suche ausgeht, für deine Therapie hat das keine großen praktischen Konsequenzen.
Ein Schwerpunkt deiner Therapie wird nämlich darin bestehen, die Prinzipien der Angstentstehung und Bewältigung kennenzulernen und anzuwenden.
D.h. Ihr Therapeut wird sich mit dir über das Wesen der Angst unterhalten: wie du diese erzeugst, wie du diese verstärken und wie du diese mental bewältigen und kontrollieren kannst.
Da alle Theorie grau ist, liegt ein weiterer Schwerpunkt deiner Therapie darin, sich deiner Angst zu stellen. Angst kann man nur besiegen, wenn wir uns ihr stellen, wenn sie auftritt.
Wenn wir flüchten, wenn wir uns ablenken, können wir nicht lernen, mit der Angst umzugehen. D.h. dein Therapeut wird dich auffordern, sich mit deinerr Angst zu konfrontieren und sie zu spüren.
Konkret bedeutet das: Du wirst sich in die Situationen begeben, die du aus Angst vor dem Erbrechen gemieden hast. Du musst dir die Chance geben, zu erleben, dass die Übelkeit eine Begleitung deiner Angst ist und deine Angst, zu erbrechen, unbegründet ist.
Und selbst wenn du erbrechen sollten, kannst du lernen, damit umzugehen. Das gibt Selbstvertrauen. Schließlich würdest du doch auch nach einem Autounfall weiter Auto fahren, oder?
Vielleicht wird dir dein Therapeut auch Bilder mit Menschen zeigen, die erbrechen oder dich in der Realität mit solchen Situationen konfrontieren.
Du wirst diese Bilder so lange ansehen, bis diese dir gleichgültig sind und du bei deren Anblick nichts mehr empfinden – außer vielleicht einem kleinen Ekel, der aber völlig normal ist. D.h.
du musst eine Menge unangenehmer Gefühle und Gedanken in Kauf nehmen – aber das ttust du ja bereits jetzt schon.
Dein Therapeut wird dich vermutlich auch auffordern, dein Sicherheitsdenken und Verhalten aufzugeben, sprich, ohne Kotztüte oder Medikamente aus dem Haus zu gehen, oder gänzlich auf die Einnahme von Antibrechmitteln zu verzichten.
Vielleicht wird dein Therapeut mit dir auch über deine Angst vor dem Kontrollverlust sprechen. Warum hast du Angst, die Kontrolle zu verlieren?
Kontrolle ist ein Ausdruck von Misstrauen. Letztlich geht es um Vertrauen, um den Verlust der inneren Sicherheit.
Warum fehlt dir dieses Vertrauen? Schritt für Schritt ein Vertrauen aufbauen, und so das übersteigerte Kontrollbedürfnis in puncto Erbrechen aufgeben.
Je nach deiner psychischen Verfassung, wird dein Therapeut mit dir auch über Ihr Selbstvertrauen sprechen und dir zeigen, wie du dieses stärken können.
Vielleicht sind auch Selbstbewusstsein und selbstsicheres Auftreten ein Thema, denn wie ich bereits gesagt habe: die Angst zu erbrechen ist vielleicht nur ein Schutz. Dahinter verbergen sich möglicherweise andere Ängste.
Wenn man ständig Angst hat – und sei es nur unbewusst – dann ist das für den Körper ein Dauerstress.
Verständlich wenn einem irgendwann dieser Stress auf den Magen schlägt und es einem übel wird und das erst recht, wenn man sich dann noch unregelmäßig ernährt oder zu wenig isst oder bei jedem Bissen Angst hat, man könnte etwas essen, von dem einem schlecht werden könnte.
Wenn selbst jeder Bissen eine Gefahr darstellt, - weil einem übel werden könnte - man nicht mehr unbeschwert essen und trinken kann, dann ist das ein zusätzlicher Stressfaktor, der auf den Magen schlägt.
Deshalb wird Ihr Therapeut dir sicherlich empfehlen, ein Entspannungsverfahren wie die Progressive Muskelentspannung zum Beispiel nach Jacobsson zu erlernen, um die durch deine ständige Angst im Körper hervorgerufenen Stressreaktionen abzubauen.
Mein Vorschlag letztendlich: Sprich bitte noch einmal mit deiner Mutter, damit sie dich zu einem Psychiater begleitet. Wenn deine Mutter noch immer glaubt, dein Problem ist nicht so groß, gehe noch einmal zu deinem Lehrer mit deiner Freundin, dieser kann dich dann deinem Schularzt vorstellen und dieser kann dich dann beraten, wie du am besten zu einem Psychiater kommen kannst.
So jetzt hab ich dich auch mit einem langen Text konfrontiert, lies ihn, überlege und gegebenenfalls lies ihn noch einmal.
Ich denke, meine Zeilen sind für deine weitere Vorgangsweise eine Hilfe.
Liebe Julia, halt die Ohren steif, es wird wieder, davon bin ich überzeugt, und lass dich nicht von etwaigen Rückschlägen einschüchtern, die passieren leider immer wieder. Aber es ist doch schon ein Erfolg 3 Stufen aufwärts zu gehen und gelegentlich eine Stufe zurück zu fallen.
Wenn du was los werden willst, oder sprechen willst, schreib einfach, ich bin für dich da!
Liebe Grüße und alles Gute
Gerd
13.09.2014 10:48 •
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