Zitat von vogelfrei_:Hey, danke für eure rege Beteiligung!
Dito! Und einen schönen Urlaub an dieser Stelle!
Zitat von vogelfrei_:Meine Mutter war bekannt, ich hatte meine ganze Kindheit über mit dem Jugendamt zu tun. Wirklich geholfen hat das nicht.
Das stelle ich mir auch sehr schwierig vor. Kinder in solchen Verhältnissen sind ja öfter auch sozial benachteiligt, auf diversen Ebenen. Bei uns war hinter der eigentlich auch brüchigen Fassade war zwar alles ziemlich katastrophal, aber wahrscheinlich hat deshalb auch nie wer eingegriffen. Es gab eben so gut wie nichts, was ein normales Familienleben ausmacht. Dafür Vaters gerne auch gewalttätige Tyrannei. Unterstützung, Geborgenheit, Liebe, Vertrauen etc. waren ab der weiterführenden Schule Fremdwörter und ich habe von anderen Eltern mehr Lob und Zuspruch bekommen als im eigenen Elternhaus.
Zitat von vogelfrei_:Ich bin inzwischen selbst Sozialarbeiterin und rückblickend ist von institutioneller Seite sehr, sehr viel schief gelaufen. Darf ich fragen, wie alt du inzwischen bist?
Mittlerweile Ü35. Soziale Arbeit als Beruf hat mich übrigens auch über Jahre beschäftigt, wobei ich es dann doch nie umgesetzt habe. Der Zivildienst damals hat mir eigentlich viel Freude bereitet und wenn ich nicht ständig den Psychoterror im Elternhaus gehabt hätte, könnte es gut sein, dass meine Berufswahl in den Bereich gefallen wäre. Es war gar kein Platz für eine vernünftige berufliche Sondierung.
Zitat von vogelfrei_:Ich habe dahingehend aber oft das Gefühl, dass nicht das Aussehen an sich das Problem ist, sondern die.... ich nenne es mal Grenzenlosigkeit. Ich habe oft das Gefühl, dass die Grenzen zwischen mir und anderen Menschen nicht fest genug sind, Blicke dringen direkt durch. Das ist je nach Tagesform sehr unterschiedlich, aber ist doch als konstantes Gefühl fast immer da. Umso unperfekter ich mich fühle, umso eher gedenke ich, Blicke auf mich und auf meine Makel zu ziehen.
Das Gefühl, die Blicke auf sich zu ziehen, kann ich bestätigen. Geht mir ähnlich... Wobei ich schon den Eindruck habe, dass dabei die (vermeintlichen) Makel bewertet werden. Zum Beispiel bin ich schon immer eher blass, der Sommer ist ja sowieso nicht gerade die Lieblingszeit. Auf die Blässe wurde ich hier und da sogar schon angesprochen. In Deutschland habe ich öfter den Eindruck, dass die Menschen gerne mal ungeniert starren. Gerade auch im ÖPNV, weshalb ich mich schnell negativ bewertet und beobachtet fühle.
Zitat von vogelfrei_:Als ich deine Antwort gelesen habe, saß ich gerade im Bus und habe nochmal in mich reingehört, wann und inwiefern der ÖPVN bei mir mit sozialen Ängsten besetzt ist. Unwohl fühle ich mich nur, wenn ich leicht bekleidet bin, an heißen Sommertagen in kurzen Klamotten. Dann macht mich die räumliche Enge nervös, dann vermute ich, die anderen könnten zu viel von mir sehen, was ich selbst nicht mag. Und an manchen sehr durchlässigen Tagen stresst mich auch jeder Blick. Aber meistens fühle ich mich recht entspannt in der SBahn, ich höre oft Musik und träume vor mich hin, fühle mich durch die anderen nicht gestört. Da scheint mein Schutz irgendwie zu funktionieren...
Die Sommertage mit der räumlichen Enge sind bei mir echt problematisch. Wirklich entspannt bin ich im ÖPNV eigentlich nur, wenn die Bahnen und Busse überschaubar besetzt sind. Dann sind auch Ängste kaum vorhanden. Wenn an einer Station jedoch ganze Massen zusteigen, steigt auch die Anspannung wieder an. Im Herbst und Winter ist das Ganze deutlich entschärfter, weil tatsächlich die Kleidung schützt. Öfter hat man ja sogar noch eine Mütze auf und ist von Kopf bis Fuß gut eingepackt.
Zitat von vogelfrei_:Ich bin durchaus auch ein geselliger Mensch, zumindest im kleineren Kreis. Kurz vor dem ersten Lockdown hatte ich eine Trennung, was mir danach gut tat war viel unterwegs zu sein. Das ging dann von heute auf morgen nicht mehr. Insgesamt hat mir der erste Lockdown aber auch sehr geholfen, mehr bei mir selbst zu sein und mich selbst besser zu strukturieren. Ich denke aber, dass die Corona Maßnahmen insgesamt zu einer Verstärkung meiner sozialen Ängste beigetragen haben, weil es so viel leichter war, über längere Zeiträume zu vermeiden. Und eben wegen der Masken, die mir helfen, mich geschützt zu fühlen, aber dann plötzlich fehlen, wenn ich sie nicht trage...
Kann ich gut nachvollziehen, insbesondere mit der Vorgeschichte der Trennung und bei sozialem Anschluss. Meiner Geselligkeit hat Corona keinen Abbruch getan, weil ich die hier sowieso kaum auslebe bzw. ausleben kann. Ein soziales Umfeld ist vor Ort quasi nicht existent, was wiederum bezüglich der Angstproblematik nicht gerade förderlich ist. Mit der Maske finde ich es gerade im öffentlich Raum hilfreich. Also ÖPNV, Supermarkt, Wartezimmer... Wenn ich noch auf meiner vorherigen Stelle wäre, würde es mich auch ohne Maske nicht wirklich stören, weil ich diesen Personenkreise kenne. Sobald mir das Umfeld einigermaßen vertraut ist, bin ich meistens auch relativ entspannt.
Zitat von vogelfrei_:Gibt es denn aktuell Menschen, die dich öfter mal zumindest in den Park begleiten?
Das stelle ich mir sehr belastend vor, alleine nicht in den Park zu können/ zu wollen. Gehst du dann gar nicht alleine spazieren, oder gehts da speziell um Parks?
Lustigerweise habe ich mich jüngst mit einem mir bis dato unbekannten Nachbarn unterhalten und dann sind wir spontan kurz in den Stadtpark... Im Sommer würde ich solche Parks generell meiden, einfach aufgrund der Menschenmassen. Selbst ohne Angstproblematik. Im Herbst/Winter unternehme ich durchaus alleine Spaziergänge, meide aber Orte, an denen ein gewisses Sozialleben stattfindet. Irgendwie empfinde ich das alleine sein - zumindest in der Freizeit - schon als Makel, der dann in meiner Vorstellung zu negativer Bewertung seitens anderer führt. Beim Spazierengehen geht das gerade noch so, aber ich würde sicher nicht alleine in eine Kneipe oder ins Theater etc.
Zitat von vogelfrei_:Für mich sind WG Situationen oft sehr unangenehm. Also vor allem, wenn ich andere Menschen in WGs besuche und dann Kontakt zu Mitbewohner:innen entsteht. Irgendwie hemmt mich diese Mischung aus der einerseits sehr privaten Situation und dass man sich aber andererseits kaum kennt und man sich eher auf einer Smalltalk Ebene begegnet. Das sind oft die Situationen, die mir am schwersten fallen, da weiß ich dann oft gar nicht, was ich sagen soll/ will, bin verkrampft, schwitze extrem und mir ist das dann super peinlich.
Das kenne ich noch aus der Studienzeit... Jedoch war es immer von der Größe der WG abhängig. Das Wissen, einige MitbewohnerInnen zu kennen, gab mir auch immer eine gewisse Sicherheit. Andererseits war es etwa bei WG-Partys öfter eine Überwindung, dort hinzugehen und auf fremde Menschen zu treffen. Meistens ging es dann jedoch, die Angespanntheit war sicher auch unter dem Einfluss des ein oder anderen Getränks recht schnell verflogen. Aber an sich finde ich diese Smalltalk-Ebene auch verdammt schwierig, insbesondere im beruflichen Kontext und dann speziell in Gruppensituationen. Da hat mir schon diverse sehr unangenehme Erlebnisse beschert.
Zitat von vogelfrei_:Was ist bei dir vorgefallen, als sich deine sozialen Ängste zu zeigen begannen?
Das Ende der Schulzeit war zunächst eine große Befreiung. Ich war übrigens so eine Art integrierter Außenseiter und habe mich - abgesehen von den Mobbingerfahrungen - teils auch bewusst von anderen distanziert. Das Aufwachsen in der Provinz war an sich nicht wirklich förderlich. Habe dann zunächst eine Ausbildung gemacht und in jener Zeit sehr viel überkompensiert. In diesem neuen Umfeld war ich durchaus integriert. Da aber weder der Beruf meinen Interessen entsprochen hat, noch mein an einen partywütigen Langzeitstudenten erinnerndes Verhalten zu einer Übernahme führen konnten, war das ein erster tiefer beruflicher Einschnitt. Die Kommentare von Vater waren natürlich entsprechend, das musste ich mir alles auch schon in der Schulzeit ständig anhören. Nun also die offizielle Bestätigung, ein Taugenichts zu sein. Ich würde mal sagen, das hat wesentlich und zum ersten Mal zum Ausbruch der sicher schon vorhandenen Angstproblematik geführt.
Zitat von vogelfrei_:Ich finde tatsächlich auch sehr wichtig, sich selbst nicht losgelöst von gesellschaftlichen Strukturen zu betrachten. Das ist auch eine Kritik, die ich an verhaltenstherapeutisch orientierten Ansätzen habe. Ich finde logisch, dass Gesellschaft und Individuum in beständiger Wechselwirkung zueinander stehen und gesellschaftliche Strukturen sehr stark auf Menschen wirken können.
Absolut, so sehe und erlebe ich das auch. Es gibt ja offenbar unter Psychiatern und Psychologen generell einen Konflikt zwischen denjenigen, die immer nur die Hirnchemie und biologische Faktoren erkennen wollen und anderen, die eben auch klar die gesellschaftlichen Verhältnisse als Problemursachen benennen. Dass zum Beispiel die Fehlzeiten aufgrund psych. Erkrankungen massiv zugenommen haben, hängt glaube ich tatsächlich auch mit der Arbeitswelt, dem ständig wachsenden Druck und Versagensängsten zusammen.
Zitat von vogelfrei_:Ich selbst habe da ein Stück weit großes Glück gehabt. Mein Interesse lag schon lange in der Sozialen Arbeit, ich habe jetzt kürzlich meinen Master abgeschlossen. Das Studium fiel mir immer sehr leicht aber ich hatte immer große Angst vor der Praxis, weil sie natürlich der soziale overkill ist. Ich hatte jetzt das Glück, die Peer-Arbeit für mich zu entdecken, also Arbeit, in der selbst Betroffene andere Betroffene beraten und habe eine sehr gute Stelle gefunden, in der ich als Sozialarbeiterin bezahlt werde, aber eben verstärkt aus der Peer-Perspektive berate. Mir hilft das sehr in Bezug auf meine sozialen Ängste, weil ich offen damit umgehen kann. Ich muss nicht perfekt funktionieren, sondern meine psychischen Schwierigkeiten sind in dem Bereich auch meine Stärke, eine wichtige Ressource, die ich nutzen kann.
Aber in vielen anderen Jobs habe ich mich oft sehr schlecht und wertlos gefühlt. Das hat natürlich mit meinem inneren Erleben zu tun, aber auch mit äußeren Realitäten, mit Leistungserwartungen, mit Druck.
Glückwunsch, das klingt tatsächlich so, als wärst du beruflich angekommen. So etwas könnte ich mir ehrlich gesagt auch gut vorstellen. Bei mir war es bislang eine Mixtur aus den beschriebenen Versagensängsten und einem Gefühl, eigentlich gar nicht so falsch auf der jeweiligen Stelle zu sein. Leistung habe ich dann immer gebracht. Aber positiv niedergeschlagen hat sich das leider nicht, es waren eben immer befristete Stellen. An sich bin ich mit meinen Studium in einem Bereich tätig, der durch und durch von sehr selbstbewussten und mitunter auch Egomanen beherrscht wird, was mir damals gar nicht so bewusst war. Zumal sich die Stellensituation insgesamt dramatisch verschlechtert hat. Es kommt also vieles zusammen.