Als Mensch, der ohne Liebe und emotionale Sicherheit aufwuchs, ist es existenziell notwendig, sich lebenslang das Fehlende zu substituieren, d. h. wir brauchen die erklärte und spürbare Zuneigung anderer. Jemand, der mit Liebe und emotionaler Sicherheit aufwuchs, braucht diesen Ersatz nicht und kann unabhängig von anderen nach seinen Bedürfnissen "ja" oder "nein" sagen, es ist kein Thema für ihn, denn er befürchtet nicht, das für ihn so Wichtige verlieren zu können, er ist selbstsicher, sprich: selbst sicher. Der emotional befürftige Mensch muss abschätzen, ob er "nein" sagen kann, ohne Gefahr. Das ist anstrengend und die Schwierigkeit, es richtig einschätzen zu können, ist Teil seines Lebensproblems. Man kann das weder durch "Ehrlichkeit" noch durch Radikalität lösen, es gibt da kein funktionierendes Konzept. Meiner Erfahrung nach kann man aber lernen:
a) bei einer Anfrage oder Einladung nie sofort antworten, das ist sehr wichtig, denn man muss sich den Raum, die Luft nehmen, um es in Ruhe und ganz nach der eigenen Maßgabe zu sortieren, dafür hat jeder Verständnis.
b) Im zweiten Schritt herausfinden, ob man es gerne machen würde, ob man Lust darauf hat oder ob man es nur machen würde, um zu gefallen und geliebt zu werden. Dabei kann auch herauskommen, dass man zwar keinen Bock darauf hat, es aber gerne für den Freund/Freundin machen möchte, das gehört dann zu den guten Entscheidungen, wie ein Geschenk für den anderen. Wenn man herausfindet, dass man es selbst überhaupt nicht machen will, sei es aus zeitlichen oder anderen Gründen, dann muss man - auch das ist sehr wichtig - sich bewusst machen, dass das völlig korrekt ist, dass es dein Recht ist, deine Autonomie und deine Zeit und Energie, auch dafür hat jeder Verständnis (außer Menschen, die andere ausnutzen und nicht respektieren).
c) "Nein" sagen. Das ist der dritte sehr schwierige Punkt für emotional zu kurz Gekommene. Aber es ist für jeden zu schaffen. "Nein" klingt hart, man kann es ersetzen durch "Absage". Das ist immer noch schwierig aber es beschreibt besser, was man vorhat: man will nicht den Freund/Freundin mit einem "Nein" zurückweisen sondern eine Tätigkeit, Aktion oder Einladung aus ganz eigenen Gründen absagen. Das ist heikel, auch unter ganz "normalen" Menschen, denn schließlich ist es das Nichterfüllen einer Erwartung und da schwingt ihmmer eine gewisse Enttäuschung mit. Deshalb sollte man die Kunst des diplomatischen Absagens erlernen. "Ehrlichkeit", die leider viel zu oft als eine Tugend schlechthin dargestellt wird, ist oft genau der falsche Weg und führt immer wieder zu Missstimmung (gerade das, was man vermeiden will). Diplomatisch abzusagen, heißt nicht lügen! "Man hatte Zeit, über alles zu schlafen", das ist schon einmal eine gute Aussage zum Beginn, dann vergewissert man den Freund/Freundin, das man gerne helfen/kommen würde, aber dass man - und jetzt legt man die wahren eigenen Gründe dar, es sind oft mehrere, so nachvollziehbar wie möglich und auf keinen Fall konfrontativ (also nicht: "deine Freundin XY ertrage ich nicht, deshalb komme ich nicht", sondern: "Ich würde mich nicht wohlfühlen in der Runde und wäre dann nicht unterhaltsam").
d) Manchmal ist es möglich, die angefragte Aufgabe so zu modifizieren, dass man gerne mitmacht, schließlich kann man mitgestalten. Bei einem Umzug, auf den man wegen der schweren Bücherkisten überhaupt keine Lust hat, was völlig legitim ist, kann man anstatt abzusagen, anbieten, die Brötchen für die Helfer zu schmieren oder die Kisten im LKW zu sortieren, damit gewinnt man Autonomie zurück und sagt nicht "ja" zu etwas, das man nicht will.
Das war jetzt etwas lang, aber ich hoffe, die Gedanken helfen dem einen oder der anderen, auch mal absagen zu können, ohne Angst, nicht mehr gemocht zu werden. Ich glaube, damit erwirbt man sich sogar eher Respekt und verbessert die Beziehungen.
15.06.2021 10:18 •
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