Zitat von Häkelini: Ich kenne mich im Prinzip mit diesen Dingen nicht aus. Aber ich denke aus der kompletten Forschung und auch der therapeutischen Arbeit, wird er das wohl fundiert abgeleitet haben.
Er gilt nicht wenigen als die Autorität auf dem Gebiet der schweren Persönlichkeitsstörungen schlechthin.
Die schweren Persönlichkeitsstörungen waren lange Zeit eine kaum berücksichtigte Erscheinung der Psyche, man kannte im Grunde die Psychosen als schwere Störungen und die Neurosen.
Ab und zu bemerkte man, dass sich manches nicht so richtig zuordnen ließ, so kam es auch zum Begriff Borderline, man dachte, dass sei eine schmale Linie, irgendwo zwischen Psychose und Neurose, als leichte.
Auch wenn im Narzissmus oder der Hysterie schon Symptome der schweren Persönlichkeitsstörungen beschrieben wurden, so konnte man sie theoretisch nciht erfassen. Das änderte sich mit der Objektbeziehunsgtheorie, von Melanie Klein, Donald Winnicott und anderen, Kernberg baute u.a. auf diesem Wissen auf und vertiefete es, heute weiß man, dass schweren Persönlichkeitsstörungen ein eigenes großes Reich sind und auf eigene Weise behandelt werden muss.
Er und andere entwickelten eine eigene 'übertragungszentrierte Psychotherapie' (TFP), die speziell bei schweren Persönlichkeitsstörungen sehr effektiv ist, zu denen die Borderline PST, die paranoide PST, die narzisstische PST, die schizoide PST, die hypomanische PST, die dependente PST und weiterere zählen, ich weiß nicht, was davon aktuell gestrichen wurde, alles ist im Umbau.
Sehr ungewöhnlich ist, dass Kernberg zwar einerseits Psychoanalytiker ist und lange Jahre Chef der größten amerikanische Vereinigung für Psychoanalyse war, sich zugleich aber auch als Mann der Wissenschaft (Psychiatreiprofessor) sieht, seine Kolleginnen damit gequält hat und so gelang es, Wissenschaft und Psychoanalyse zu vereinen.
Man hört bis heute das Vorurteil, die Psychoanalyse sei ja ganz nett, aber eben nicht wissenschaftlich, eine EInschätzung bei der oft der Philosoph Popper Pate steht, wer das behauptet, hat die letzten 50 Jahre einfach verschlafen, in denen Kernberg den Laden gründlich umgekrempelt hat, auch wenn es hier und da noch orthodoxe Psychoanalytiker gibt, die mit der Wissenschaft nichts zu tun haben wollen.
Also Wirksamkeitsstudien, fMRT und dergleichen, das gibt es bei Kernberg seit Jahrzehten, er ist extrem an der Hirnforschung interessiert und schätzte Gerhard Roth, aber er sieht auch die Grenzen dieser Theorien, siehe seine Bemerkungen über Kandel (Hirnforscher und Nobelpreisträger) und Dawkins (Evolutionsbiologe und antireligiöser Hetzer) in dem Buch, was Du lesen wirst.
Kernberg sorgte wesentlich mit dafür, dass wir heute Krankheiten aus dem Gebiet der schweren Persönlichkeitsstörungen therapeutisch erreichen, die wir nicht behandeln konnten und die als untherapierbar galten.
Zitat von Häkelini: Ist es nicht aber oft so, dass es eine Zeit braucht, bis Erkenntnisse aus Amerika hier etabliert werden? Ich meine das habe ich mal gelesen.
Das hat nicht unbedingt was mit Amerika zu tun, sondern mit der Trägheit von Institutionen. Die Bücher müssen umgeschireben werden, die Lehrer und Dozenten müssen verstehen, was sich warum getan hat und zuletzt muss das bis in die Praxis durchdringen, wo oft Menschen sitzten, die etwas seit 30 Jahren machen und meinen, selbst am besten zu wissen, was klappt und was nicht.
Das klingt dann oft überzeugend, ohne es in allen Fällen zu sein. Der Konflikt zwischen evidenzbasierten Statistikern und Praktikern mit langer Berufserfahrung ist aber an sich sehr interessant. Die Statisiker meinen, Praktiker seien notgedrungen betriebsblind, weil sie immer nur ihre Brille aufhaben und statitstisch eben mehr erfasst wird, während die Praktiker den Statistikern eine offt allzugroße Oberflächlichkeit vorwerfen.
Man kann nicht in allen Fällen erfassen ob nun Akupunktur oder Hyaluronsäure helfen, wenn sie von 90% der Anwender falsch oder mindestens suboptimal angewendet werden. Da kommt es dann zu einer Verzerrung durch die große Zahl, ein Effekt, der sich durch Weiterbildung und Abrechnung oft vergrößert.
D.h. statistisch ist es zwar so, dass Du eine Studie mit 34 Teilnehmern im Grunde sofort durchs Klo spülen kannst (und Kahneman erklärt Dir warum), aber andererseits kann eine Langweitstudie mit 30.000 Teilnehmern über 20 Jahre auch verzerren, zumal da wieder ins Spiel kommt, dass der Patient am Ende dann doch wieder ein Individuum ist. Also work in progress, Kernberg hat da für die psychologische Theorie und therapeutische Praxis Großes geleistet.