Meine kleine Stadt hat es nie bis zur Großstadt geschafft. So gehört sie noch immer zum Kreis Recklinghausen.
Ich würde sagen, sie liegt am Rande vom Ruhrgebiet.
Hier bin ich groß geworden. Hier habe ich meine Kindheit verbracht. In meiner Siedlung auf den Straßen gespielt.
Unsere Siedlung hatte den Namen Blumensiedlung. Und auch dort war es der Rand unserer Stadt.
Es grenzten Felder und weiter entfernt, aber sichtbar, Wälder an ihr.
Hier bin ich durch die Felder gelaufen, habe Mohn - und Kornblumen gepflückt.
Aus den Gänseblümchen Haarkränze geflochten. Den Grashüpfern beim Springen zugesehen. Und in den Wiesen blühte es überall.
Alles was vier Pfoten hatte, schleppte ich nach Hause. Wahrscheinlich zum Leidwesen meiner Eltern.
Ich glaube, ich überspringe alle diese Zeiten. Die Menschen, die ich damit verbinde. Unser Haus, wo meine Wurzeln lagen.
Ich überspringe alle Erinnerungen. Die schmerzlichen, wie die schönen.
Einige Zeit lebte ich in einer nahen Stadt. Das war mehr dörflich gelegen, und nie fühlte ich mich heimisch. Weder in der Stadt, die eigentlich sehr hübsch war, noch bei allen Menschen.
Im August 2013 zog ich zurück in meine Stadt.
Nie wollte ich in den Stadtkern, noch in einige Stadtgebiete. Ich wäre auch da fremd gewesen.
Ich hatte Glück. Genau gegenüber der Altstadt bin ich in ein Hochhaus gezogen.
Gute Busanbindungen, Rewe über die Kreuzung, das Krankenhaus direkt neben mir.
Erst war es nur eine 64 qm große Wohnung mit einem 8 Meter langen Balkon. Fast fremd kam ich mir vor.
Ich vermisste die unglaubliche V.ogelvielfalt, die ich auf dem Dorf hatte.
Und dann stand ich ziemlich am Anfang auf meinem Balkon, um eine Pause während der Renovierung zu machen, als plötzlich ein Schwarm Kanadagänse an meinem Balkon vorbeiflog.
Ich hätte vor Glück heulen können. Da kam zum ersten Mal seit langem etwas wie ein Zuhause auf.
Meine Angst zog natürlich mit.
Jetzt lebe ich schon neun Jahre hier und habe mich, gerade in den Anfangsjahren durch alles gekämpft.
Ich weiß wie es ist, nichts zu haben, und jeden Abend durchzuatmen, dass der Tag vorbei ist.
Stück für Stück meine Wohnung so zu gestalten, dass ich glücklich war, wenigstens für einen Moment, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Monatelang neben Kisten zu schlafen, die bis zur Decke reichten, bis auch das endlich fertig war.
Jeden Cent umzudrehen, mir nicht einmal einen Kaffee leisten konnte, weil ich es sonst nicht geschafft hätte.
In meinen alten Wohnort zurückzukehren, um bei einer ehemaligen Nachbarin zu bügeln. Eineinhalb Stunden hin, als auch zurück. Nicht mehr viel übrig blieb.
Weder vom Geld, noch von mir.
Du fragst nach Heimat. Ich bin mal wieder einmal mehr abgeschweift.
Es ist die Aussicht von meinem Balkon. Im sechsten Stock scheint es mir so, als wäre ich dem Himmel nahe.
Ich blicke über meinen Stadtteil und vereinzelt nur sehe ich die Häuser die sich zwischen den Bäumen ducken.
Soweit mein Auge reicht sind Bäume.
Immer das Gleiche? Nein.
Der Blick verändert sich. Im Frühling sprießen die Blätter, alles fängt an zu blühen. Im Sommer stehen sie im satten Grün.
Veränderbar, denn mit jedem Sonnenstrahl, mit jeder Tageszeit habe ich ein anderes Bild.
Ich sehe die Sonne nicht aufgehen, aber ihr Licht in allen rot und orange Tönen hat sich schon in den Himmel gelegt.
Das lässt die Farben der Bäume anders erscheinen.
Und mein Himmel ist einmal strahlend Blau, dann wieder durchzogen von kleinen Wolkengebilden.
Der Sonnenuntergang belohnt mich mit aller Wärme.
Am liebsten ist mir der Herbst. Ich kann auf einen Indian Summer blicken. Langsam geben die Bäume ihre Blätter frei.
Und wenn sich am Morgen noch der Nebel über alles legt, bin ich gefangen davon.
Alles wird plötzlich stiller. Alles hörst du nur noch wie durch Watte.
Nichts Lautes mehr. Nichts Hektisches. Selbst der Straßenverkehr dringt leiser durch diese Wand. Nichts, was bedrängt. Du bist nur du.
Selbst der Winter hat etwas für mich. Schneebedeckte Dächer. Oder Raureif auf ihnen. Aus den kleinen Schornsteinen dringt Rauch in die kühle Luft.
Die Bäume sind inzwischen teilweise kahl. Und auch diese blattlosen Zweige sprechen mich an.
Ist dadurch ihre Schönheit weg? Nein. Sie zeigen sich ohne Schmuck, aber sie stehen stark, bereit eines Tages wieder ihr Kleid zu tragen. Ihre Zweige nenne ich filigran.
In der Straße, die zum Pub führt, stehen zwischen Neubauten, noch alte, denkmalgeschützte Häuser.
Am Ende der Straße steht eine Kirche.
Abends ist der Kirchturm beleuchtet. Ich höre die Glocken läuten.
Aber das Licht ist wie ein Stück Zuhause. Wie eine Wärme für dein Inneres.
Und wie oft ist mein Abend und Nachthimmel voller Sterne. Sterne mit Glanz. Sternschnuppen. Eine wunderbare stille Welt.
Meine V.ögel, die ihre Lieder singen. Ein jeder. So empfinde ich das. Besonders schön in der Morgen - und Abenddämmerung.
Ein Künstler könnte all das besser beschreiben, als ich es je könnte.
Aber dieser Ausblick, diese Stille in einer immer lauter werdenden Welt, genau das ist ein Stück Heimat für mich.
Heimat ist ein Gefühl.
Ein Gefühl, dass Wurzeln schlagen kann. Auch bei manchen Menschen.
Über Menschen schreibe ich vielleicht noch einmal, denn auch einige wenige, können Heimat sein.
Vielen Dank lieber @moo
28.10.2022 13:11 •
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