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Zitat von Liucid:
Finde ich schwierig, weil .. wie will man sowas 'irgendwie allgemeingültig' beurteilen?.. was sollte da als 'mess- und vergleichbarer Parameter' herhalten?
Normalerweise wird hier ja der subjektive Geschmack eines Einzelnen auf Basis des subjektiven Geschmacks eines anderen Einzelnen bewertet und damit verglichen. Und dies ist ja auch kein 'fixer Zustand' .. beide 'Einzelne' sind doch über die Zeit hinweg einem steten Wandel oder einer Art 'Entwicklung' unterworfen, vielleicht beim einen umfänglicher als beim anderen, aber immerhin.

Wobei es ja auch oder eher so ist, dass dieser eine Punkt eine begrenzte Aussagekraft hat, aber wenn noch weitere dazu kommen: Kleidung, Bücher, Essen ... schimmert ja schon die Persönlichkeit eines Menschen mehr und mehr durch.
Vielleicht auch Krankheiten. Angstpatienten können sehr verschieden sein, haben aber in dem Erleben, was nur sie haben auch sehr viele Gemeinsamkeiten, die in der Form vielleicht nur Angstpatienten kennen können.

Kann auch sein, dass innerhalb einer Kultur, die Differenzierung zwischen den Individuen größer wird. Wenn Musik nicht die universale Sprache der Gefühle ist, dann sagt die intrakulturelle Differenz/Gemeinsamkeit aber vielleicht doch etwas aus.

Auf der einen Seite viellecht etwas über die zeittypische Prägung - Elvis ist für mich zu weit weg und zu Hip Hop habe ich keinen Bezug mehr, weil ich da zu alt war - aber ob Musik Lebensmittel oder unwesentliche Begleitung ist, ob man sich am Mainstream orientiert oder gerade nicht, in welche Richtung sich der Geschmack verändert und warum, das sind ja doch alles Aspekte der Persönlichkeit.

Z.B. ob, wann und in welchem Umfang man sich von Kitsch ansprechen lässt oder woran man wirklich eine musikalischer Weiterentwicklung erkennt.
Und wenn Musik auch nicht die universale Sprache der Gefühle ist, so ist es doch so, dass Musik emotional besetzte Szenen oder Phasen der eigenen Vergangenheit in besonderer Weise wieder hervorruft.
Mit Gerüchen geht das auch, aber Gerüche von damals sind heute oft nicht mehr verfügbar. Das Deo der ersten Liebe ist heute außer Mode, Bohnerwachs riecht man nicht mehr und da ist Musik einfach leichter verfügbar.

Zitat von Liucid:
landeten wir womöglch schlimmstenfalls wieder bei so verbreiteten Klischees wie Jazz- oder Klassik-Liebhaber sind intellektuell anspruchsvolle

Schon richtig. Andererseits finde ich den Umgang mir Klisches sehr unterhaltsam und recht oft stimmen sie auch. So hatte ich etwa zwei gleichgeschlechtliche Arbeitskollegen, deren Musikgeschmack irgendwo zwischen Roland Kaiser und Rosenstolz angesiedelt war. Obwohl sie einer Generation angehörten, die sich eher Techno oder Rap ( Hip hop?) widmet.

Bei einem Jazzliebhaber stelle ich mir einen bebrillten Typen im schwarzen Rollkragenpullover vor, der Existentialisten liest und Drucke von Miro an der Wand hat.
Das ist solange unproblematisch, solange man es spielerisch nimmt. Nach meiner Einschätzung muß man sein Urteil erstaunlich selten korrigieren.

Der Musikgeschmack ist ja irgendwo auch ein Zeichen von Gruppenzugehörigkeit.

Was Nick Hornby angeht, so gilt ihm nach wie vor meine uneingeschränkte Wertschätzung. In Fever Pitch , seinem zweiten Buch über eine große Leidenschaft - dem Fußball- errichtet er ein Denkmal für all diejenigen Fans, die ( wie ich) dem ganzen Zirkus still leidend ausgeliefert sind.
Eben nicht die Partytypen von der Gegengraden, die ansonsten am Ballermann unterwegs sind, die sich selber am allermeisten abfeiern und bei Spielen unverdrossen von der ersten bis zur letzten Minute dümmliche Melodien singen.
Sondern eben dem Typus des sich Grämenden, nach Niederlagen untröstlichen und traumatisierten Nerds.
Erst durch Hornby verlor ich das Gefühl, als Fußball- Fan irgendwie falsch zu sein.

Also wenn das kein Verdienst ist, weiß ich auch nicht.............

( Ich könnte noch eine Menge schreiben, z.B. über Hornbys Buch 31 Songs, aber ich komme ins Plaudern......)

A


Ist Musik eine Sprache?

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Zitat von Chingachgook:
Bei einem Jazzliebhaber stelle ich mir einen bebrillten Typen im schwarzen Rollkragenpullover vor, der Existentialisten liest und Drucke von Miro an der Wand hat.
Das ist solange unproblematisch, solange man es spielerisch nimmt. Nach meiner Einschätzung muß man sein Urteil erstaunlich selten korrigieren.

Interessant ist ja, ob der Jazzfan dabei einer inneren Notwendigkeit folgt, also weil man über eine Zunahme der Differenziertheit in einem Bereich mehr oder minder automatisch zur Zunahme derselben in anderen Bereichen gelangt oder ob er selbst Klischees folgt: Sich also mehr oder minder bemüht vom Mainstream absetzen will.

Vermutlich findet man das am ehesten heraus, wenn man Leute fragt, warum sie tun, was sie tun und wie und warum es in ihrer eigenen Darstellung zur Veränderung kam.

Zitat von Cbrastreifen:
Interessant ist ja, ob der Jazzfan dabei einer inneren Notwendigkeit folgt, also weil man über eine Zunahme der Differenziertheit in einem Bereich mehr oder minder automatisch zur Zunahme derselben in anderen Bereichen gelangt oder ob er selbst Klischees folgt: Sich also mehr oder minder bemüht vom Mainstream absetzen will.


Interessante These! Man folgt also, schlicht formuliert, der Nische und gestaltet diese andererseits auch mit (als Konsument). Das würde wiederum eine gewisse Beeinflussung der Musikrichtung bedeuten.

Bzgl. Jazz - als ich mal Jonas Hellborg und Shawn Lane laufen ließ, meinte ein Bekannter, Das muss Jazz sein, denn Musik ist es nicht. Er wollte mich zwar nur foppen, aber ich muss oft darüber nachdenken.

Da Jazz so ziemlich die einzige Musikrichtung ist, in der ich mich halbwegs auskenne, kann ich behaupten, dass die Bandbreite unglaublich riesig ist und ich denke, dass das - mal evtl. von Schlager abgesehen - insgesamt gilt. Was im Jazz jedoch sehr verbeitet ist (und war), sind die Jam Sessions, also das weitgehend unabgesprochene Zusammenspiel von Musikern nach den eigentlichen Konzerten. Und hier befruchtete sich der Jazz gegenseitig regelmäßig neu und vermischt sich mitunter auch gerne genreübergreifend. Inzwischen ist das auch in Pop, Rock und vor allem Folk und Country weitverbreitet.

Was mich bei solchen Events (die ich ja meist nur auf YT schaue/höre) am meisten begeistert, ist meine Begeisterung . Und zwar deshalb, weil ich merke, wie es mir musik-identitär erst mal gegen den Strich geht, wenn zwei meiner Helden, die eigentlich ziemlich unterschiedlich angesiedelt sind, auf einmal gemeinsam auf der Bühne stehen und einen Mischmasch produzieren, der mich von den Socken haut. Wenn sich das, was ich an der einen Country-Sängerin seit Jahrzehnten so anfassend finde, sich mit der Hammergitarre des Rockgiganten vereint. So z. B. hier:
Bei diesem Stück ist es unmöglich für mich, auch nur Sekunden keine Gänsehaut zu haben.

Bei mir verändert sich dann logischerweise ein klein wenig meine Konsumsicht. Ich ahne, was die beiden Musiker (unsichtbar wie Pilzhyphen) verbindet und vollziehe diese Verbindung ein Stück weit mit. Und genau das geschieht m. E. in weitaus größerem Maßstab in der von @superstes angesprochenen Weltmusik.

Als hochinteressanten Gegenentwurf bewundere ich natürlich auch Musiker und Bands, die es tatsächlich fast schaffen, so etwas wie eine vollumfängliche Neuheit zu schaffen, wie es z. B. in der Sample-Szene anzutreffen ist. Da gibt es Klangwände, -abgründe, -schluchten und -schleichwege, die verstörend, wachrüttelnd und sogar therapeutisch durchaus vergleichbar belebend sein können wie alte Klassikmeister.

Und immer wieder lässt mich das staunend zurück: Es sind nur Frequenzen, Ohr und Hörbewusstsein, die da aufeinander treffen. Und trotzdem wird so viel daraus...

Zitat von moo:
Interessante These! Man folgt also, schlicht formuliert, der Nische und gestaltet diese andererseits auch mit (als Konsument). Das würde wiederum eine gewisse Beeinflussung der Musikrichtung bedeuten.

Kommt drauf an, auf welcher Seite vom oder (meiner Darstellung) man sich befindet. Wenn man eher folgt, schmückt man sich mit Accessoires des forschen Intellektuellen, wie @Chingachgook ihn skizzierte.

Folgt man einer inneren Notwendigkeit, weil einen bestimmte Musikstile, aber eben auch andere Stilistiken ergreifen, gestaltet man die Nische der Anhänger mit, muss aber vermutlich auch nicht jedes Klischee bedienen.

Zitat von moo:
Und immer wieder lässt mich das staunend zurück: Es sind nur Frequenzen, Ohr und Hörbewusstsein, die da aufeinander treffen. Und trotzdem wird so viel daraus...

Da werde ich immer skeptischer, was diese naturalistische Darstellung angeht.
Knappe Erläuterung: Der Naturalismus ist angetreten, um die Welt besser zu erklären und sein Siegeszug war vermutlich, dass man diese Erklärungen in der industriellen Revolution technisch umsetzen konnte, der Preis war der Verzicht, auf Sinn, Orientierung, Moral/Ethik und Beziehungen. Das meiste davon würden wir vielleicht als etwas ansehen, was in einer Form der Innerlichkeit erscheint und verhandelt wird. Der Naturalismus versucht diese nun seinerseits als Äußerlichkeit darzustellen, aber dabei büßt er seine erklärende Kraft dramatisch ein.
Keine dieser Innenwelten, die Du treffend als Klangwände, -abgründe, -schluchten und -schleichwege beschrieben hast, wird auch nur in Ansätzen erkennbar, wenn sie auf Frequenzen oder auch Hirnscans reduziert werden.
Man muss statt dessen diese Welten betreten, sich in ihnen umschauen, sie auf sich wirken lassen, sich in ihnen orientieren, um nachvollziehen zu können, was sich da zusammenfügt oder warum da ein Abgrund überwunden wurde oder was auch immer.

Eine der entscheidenden Einsichten Wittgensteins wird bis heute in ihrem ganzen Umfang zu selten verstanden: Dass wir nämlich keine irgendwie immer schon fertige Persönlichkeit sind, der es mit dem Spracherwerb gelingt, das was immer schon da war, nun auch endlich auszudrücken.
Vielmehr prägt der Spracherwerb und seine deutende, erziehende Erläuterung unser Bild von der Welt, auch von unserer Innenwelt. Wir erschließen uns unser eigenes Inneres durch Sprache.

Wie ist es nun mit eventuellen Sprache Musik? Legt die etwas in uns an? Finden Kinder Kinderlieder gut, weil man ihnen Kinderlieder vorspielt? Oder tut man es, weil sie eingängig und wenig komplex sind?

Aber es gibt noch die andere Seite, die auch @moo erwähnte. Klänge, Rhythmen und Bedeutungen werden ja nicht nur wie ein Algorithmus in uns implantiert, sondern wir schreiben aktiv (vielleicht nicht immer, aber oft auch bewusst) an der Ausgestaltung oder Interpretation dieser Grundmuster mit.
Das ist es vielleicht auch, was Improvisationen so spannend macht, ein mehr oder weniger festes Grundgerüst steht und darin tobt man sich dann aus, manchmal auch darüber hinaus. Und doch erkennt man immer den typischen Mark Knopfler Sound, ich erkenne Blackmore auch immer, zumindest wenn er E-Gitarre spielt.
Andererseits erkennt man typische Handschriften auch in der Klassik (ich jetzt seltener, mangels Übung), obwohl die Vorgaben da eng sind.

Zitat von Cbrastreifen:
Keine dieser Innenwelten, die Du treffend als Klangwände, -abgründe, -schluchten und -schleichwege beschrieben hast, wird auch nur in Ansätzen erkennbar, wenn sie auf Frequenzen oder auch Hirnscans reduziert werden.

Sehe ich letztlich auch so.

Zitat von Cbrastreifen:
Eine der entscheidenden Einsichten Wittgensteins wird bis heute in ihrem ganzen Umfang zu selten verstanden: Dass wir nämlich keine irgendwie immer schon fertige Persönlichkeit sind, der es mit dem Spracherwerb gelingt, das was immer schon da war, nun auch endlich auszudrücken.
Vielmehr prägt der Spracherwerb und seine deutende, erziehende Erläuterung unser Bild von der Welt, auch von unserer Innenwelt. Wir erschließen uns unser eigenes Inneres durch Sprache.


Das war auch mein Ansinnen bei der Threaderöffnung: über das Kontemplieren unseres Musik-Erlebens die letztendliche Hinfälligkeit der Definition Klang und Harmonie zu erahnen. Und aus dieser Einsicht (oder zumindest Ahnung) einen Schritt weiter zu gehen, hin zu Farbe und Form, Sprache und Bewusstsein, Ich und Welt.

Zitat von Cbrastreifen:
Man muss statt dessen diese Welten betreten, sich in ihnen umschauen, sie auf sich wirken lassen, sich in ihnen orientieren, um nachvollziehen zu können, was sich da zusammenfügt oder warum da ein Abgrund überwunden wurde oder was auch immer.

Toll formuliert!

Zitat von moo:
Das war auch mein Ansinnen bei der Threaderöffnung: über das Kontemplieren unseres Musik-Erlebens die letztendliche Hinfälligkeit der Definition Klang und Harmonie zu erahnen. Und aus dieser Einsicht (oder zumindest Ahnung) einen Schritt weiter zu gehen, hin zu Farbe und Form, Sprache und Bewusstsein, Ich und Welt.

Im Ich fließt ja auch wundersame Weise alles zusammen und wird dort geordnet. Von mir aus auch im Bewusstsein, weil Ich ja in gewisser Weise eine Abgrenzung ist, von der fraglich ist, ob sie letztendlich aufrecht erhalten werden kann.
Ich glaube von hier aus muss man weiter gehen, wir alle leben zwar in unserer eigenen Welt, aber auch als Konsequenz aus dem vorher Geschriebenen, ist es nicht so, dass wir zur Welt der anderen (deren reale Existenz m.E. eine logisch zwingende Forderung ist) gar keine Verbindung haben.
Es bilden sich bestimmte Cluster heraus, in denen Themen verhandelt werden, die auf einer bestimmten Stufe der Komplexität als wichtig angesehen werden. Auch wenn man inhaltlich absolut konträrer Meinung ist, ist da doch die Gemeinsamkeit, dass man genau dieses Thema als bedeutsam ansieht. (Ich hoffe, dass das nicht zu komprimiert war, ich könnte es weiter ausfalten, falls es in den Thread passt.)
Vielleicht bilden sich diese Komplexitätsgrade auch in der Musik ab.

Es gibt in der neueren Forschung interessante Ergebnisse zum Verhältnis von Mythos und Ritus schon in den frühesten menschlichen Kulturen. Man ist uneinig, aber eine starke Strömung geht davon aus, dass der Ritus vorangegangen sein kann. Der Mythos ist in dieser frühen Form eine Geschichte (und Praxis), die von 'unserer' Eigen- und Andersartigkeit berichtet und diese auch praktisch festschreibt und der Ritus ist vielleicht der vorangegangene Ausdruck, durchaus ein Ausdruck in Form von Tanz und Musik.

Die Gedanken referiert Habermas in seinem dicken zweibändigen Buch „Auch eine Geschichte der Philosophie“ und darin führt er den genialen Ausdruck des 'Außeralltäglichen' ein. In sich immer wiederholenden und damit neu aufladenden Riten tritt die Verbindung der Gemeinschaft ein, bzw. so wird sie aufrecht erhalten und zugleich sind diese Riten damit ungeheuer bedeutsam. Ich bin sicher, dass es während dieser rituellen Gestaltungen auch zu Erfahrungen der Verschmelzung/Einheit kam und dies ist nahezu alles vom Funktionalismus, der m.E. eine Konsequenz aus dem Siegeszug des Naturalismus ist, kassiert worden und heute ist unser Leben in vielerlei Hinsicht oft nur noch Alltag und Funktionieren. Unsere großen rituellen Feste verlieren an Bedeutung, an die Stelle treten Jahresurlaub und Internetgemeinschaft, in denen heute aber vor allem das betont wird, was uns von anderen trennt. So kommt es zu keiner Verschmelzungserfahrung.

Wobei man noch in der blödesten Verschwörungstheorie den Wunsch erahnen kann, eine verlorene Gemeinschaft wieder zu erreichten. Und Musik hat vielleicht auch deshalb eine weit reichende Bedeutung, weil sie stets Teil einer Gemeinschaft war und die Verschmelzungserfahrung erleichtert.

Zitat von Cbrastreifen:
(Ich hoffe, dass das nicht zu komprimiert war, ich könnte es weiter ausfalten, falls es in den Thread passt.)

Unbedingt! Wenn Du mal Zeit und Muße hast.

Wäre es dann sehr verstiegen, etwas flapsig zu verallgemeinern: Musik vereint, Sprache trennt?
Wobei - mir fallen hierbei die Fangesänge bei Mannschaftssportarten ein - dort vereint man sich, indem man sich (vom Gegner) singend abgrenzt....

Zitat von moo:
Unbedingt! Wenn Du mal Zeit und Muße hast.

Danke, ist auch für mich gut das immer wieder neu zu ordnen und tiefer zu durchdringen, ich glaube sogar, dass, wenn das breiter verstanden wird, klar werden kann, was bei uns gerade schief läuft, dass es das tut, leugnen ja inzwischen immer weniger.
Psychologisch folge ich gerne Otto Kernberg, der von Organisationsebenen der Persönlichkeit spricht, also einer Variante der Stufentheorien. Die mag man bei uns oft nicht, weil man skeptisch gegenüber Hierarchien eingestellt ist und gerne pluralistisch sein möchte, aber dieser Pluralismus strotzt nur so von Selbstwidersprüchen und in schönster Klarheit hat Ken Wilber das vor einem Viertel Jahrhundert dargestellt, in „Eros Kosmos Logos“, nur wird Wilber in der Regel wenig beachtet, weil Spiritualität bei uns irgendwie suspekt ist. Wilber ist auch Stufenfetischist.

Genau damit sind wir also schon mitten in den Stufentheorien, denn diese reduzierende, szientistische Lesart hat sich durchgesetzt und ist inzwischen in einigen Bereichen an ihrem Ende angekommen. Es erklärt einfach nichts mehr. Der kühle Funktionalismus, in dem Anpassung alles ist und primärer Zweck der Systemerhalt, kommt m.E. aus dem Naturalismus und befeuert dann auch den heute so oft kritisierten Kapitalismus, ich glaube nur, dass Letzterer eine Konsequenz des Ersteren ist.
Signifikant ist auf jeden Fall der großzügige Verzicht auf alle Arten der Innerlichkeit, die allenfalls noch privates Spiel sind und der Hang, so gut wie alles, auch Innerlichkeit, über äußere Ursachen, von Armut bis Neurotransmitter erklären zu wollen.

Der Pluralismus ist in seiner besten Variante einen Schritt weiter, weil er die Frage danach stellt, wie man sich dabei eigentlich fühlt, wenn man funktionieren muss und marginalisierte Gruppen in den Blick nimmt (Innerlichkeit spielt also wieder eine Rolle), aber leider dominiert oft die reine Opferperspektive und die Formulierung 'alte weiße Männer' ist der uneingestandene Ausdruck all dessen, was auch bei unterstellt guter Absicht schief gehen kann, eine flotte Dreifachdiskriminierung einer Bewegung, die genau das explizit aufweichen will, so viel Betriebsblindheit muss man erst mal hinbekommen.
Zeigt aber, in Wilbers Worten, dass es keine an sich guten und schlechten Stufen gibt (wie Pluralisten in der Regel glauben), sondern, dass jede Stufe gute und schlechte Formen, Pathologien, Übertreibungen hat.

Unterhalb der rationalen oder wissenschaftlich-technisch-funktionalen-('kapitalistischen') Gesellschaft liegt, da ist man sich relativ einig, die mythische Gesellschaft, die vollgestopft mit Sinn und Orientierung ist. Reckwitz (populärer Soziologe, der mit den Singularitäten) sagt zwar, auch die rationale Gesellschaft sei voll mit Sinnangeboten (und die mythische oft sehr rational), was in gewisser Weise stimmt, aber der Sinn unserer Gesellschaft ist die Vereinzelung, das singuläre Ereignis, was vor allem ich miterlebt habe, weshalb ich so einzigartig bin.
Ich habe neulich eine Philosophin im Radio gehört, die die interessante These aufstellte, dass wir uns als Gesellschaft erstmalig nicht mehr dem Über-Ich (moralischen Normen, die für alle gelten) unterwerfen, sondern dem Ich-Ideal, das sich durch Einzigartigkeit und den Zwang zur Konkurrenz auszeichnet.

Oberhalb des Pluralismus sieht Wilber eine integrale Bewusstseinsstufe, die ihre notorische Hierarchiefeindlichkeit verliert und die erste Stufe ist, die nicht will, dass sich alle auf ihr versammeln sollen, sondern anerkennt, dass die Menschen verschieden und verschieden weit entwickelt sind – mit Schwerpunkten auf ganz unterschiedlichen Entwicklungslinien: Intelligenz, Empathiefähiglkeit, Ästhetik, inneres Wertesystem – und die besten Seiten der jeweiligen Stufen bergen, bewahren und integrieren will und die Übertreibungen hinter sich lassen.
Daraus folgt, dass es nicht sonderlich entscheidend ist, daraus eine Massenbewegung zu machen, sondern viel mehr, einzelne Menschen weiter zu führen, die mit einem integralen Bewusstsein dann schon von selbst Motive entwickeln helfen zu wollen und auch Wege finden, es auf ihre Weise zu tun.

Die Musik und was für eine Rolle sie in unserem und anderen Leben spielt, legt ihre Spur vermutlich sehr früh in der Menschheitsgeschichte und ist daher vermutlich von fundamentaler Bedeutung, bis heute. Die Versuche sie Entwicklungsstufen zuzuordnen, finde ich, besonders auf den höheren Stufen nicht so überzeugend, aber vielleicht kommen wir hier bei dieser Betrachtung ja weiter.

Die gemeinsame Wurzel der Kunst und Religion oder des Sakralen sieht Habermas gegeben und immer wieder wurde ja auch versucht, die Ästhetik religiös zu überfrachten. Was beiden jedoch gemeinsam ist, ist das außeralltägliche Element, Kunst und Sakrales entziehen sich recht beharrlich der (m.E. schaurig verkürzten) Perspektive der Nutzenorientierung der heutigen Zeit. Das passt auch zu den Erkenntnissen der Objektbeziehungstheoretiker (der modernen Psychoanalyse), die eine Ausdifferenzierung der Psyche in der Individualentwicklung beschreibt, in der die Quelle zu Religion, Kunst, Liebe, Wissenschaft und Werten zur gleichen Zeit erscheinen. Wir müssen die Innerlichkeit in all Komplexität – das sind jeweils eigene Kosmen – wieder entdecken und vor allem wieder verbindende und verbindliche Praktiken des 'Wir' einführen. Dieses exklusive Charakter wird zwar gefürchtet, aber wenn man diesen Weg weiter geht, kommt man, bspw. auf den Wegen der Spiritualität ja auch zu Erfahrungen die über schnöde Nationalismen und dergleichen hinaus reichen und über Verschmelzungen und Einheitserfahrungen lohnt es sich nicht zu diskutieren, man muss sie erleben.

Die auf Unverständnis und Ressentiments beruhende Aversion vieler, die sich als links ansehen, gegenüber Praktiken der Innerlichkeit und ihrer Interpretation, ist ein tiefer Fehler, der überwunden werden muss. Der Linken weht heute m.E. zurecht ein scharfer Wind ins Gesicht, aber leider ist die Kritik oft von so erbärmlicher Qualität, dass man sich mit den rechten Theoretikern und ihren fast durchweg regressiven Angeboten, bishin zum offenen Faschismus, nun erst recht nicht ins Boot setzen will. Aber das große Versäumnis der Linken, alles am Kapitalismus fest zu machen und Innerlichkeit unbeachtet zu lassen und ihre fast pathologische Hierarchiefeindlichkeit müssen wir hinter uns lassen. Und offenbar müssen eben buchstäblich wir das machen und zwar jetzt. Dass die Rolle des Individuums (war ja auch mal die Idee der Aufklärung) wieder unterstrichen werden muss, ergibt sich daraus. Das 'Lied' was heute gesungen wird, klingt aber oft nach: Ach, ich alleine, was kann ich denn schon ausrichten, selbst wenn ich wollte? Nicht mal mehr am eigenen Leben oder eigenen Entscheidungen scheint man beteiligt und dann wundert man sich, warum so viele Angst haben.

Zitat von moo:
Wäre es dann sehr verstiegen, etwas flapsig zu verallgemeinern: Musik vereint, Sprache trennt?
Wobei - mir fallen hierbei die Fangesänge bei Mannschaftssportarten ein - dort vereint man sich, indem man sich (vom Gegner) singend abgrenzt....

Ist ja beides dasselbe. Wir zu sagen, heißt ja zugleich andere aus diesem Wir auszusperren.
Der rational größte Rahmen funktioniert zwar, weil die Formulierung dass es 'das Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen' (Sellars/Brandom) ist, was uns Menschen verbindet, aber die Einsicht in diese Universalität ist noch nicht universal.
Ich habe aber auch gelesen, dass allein der Mensch Rhythmus haben soll.
Naja und auch Internetforen.

Anders zu sein und sich abzugrenzen finde ich weder individuell noch kollektiv verwerflich, gerade dann, wenn man die Vielfalt des Menschseins wirklich als Stärke erkennt und das nicht nur ein brav aufgesagtes Sprüchlein ist.

Zitat von Cbrastreifen:
Das 'Lied' was heute gesungen wird, klingt aber oft nach: Ach, ich alleine, was kann ich denn schon ausrichten, selbst wenn ich wollte? Nicht mal mehr am eigenen Leben oder eigenen Entscheidungen scheint man beteiligt und dann wundert man sich, warum so viele Angst haben.

Guten Morgen und herzlichen Dank für Deine hochinteressanten Ausführungen!

Zitat von Cbrastreifen:
Anders zu sein und sich abzugrenzen finde ich weder individuell noch kollektiv verwerflich, gerade dann, wenn man die Vielfalt des Menschseins wirklich als Stärke erkennt und das nicht nur ein brav aufgesagtes Sprüchlein ist.

Definitiv - unsere Individualität ist das, was uns im Grunde vereint (bzw. vereinen könnte).

Danke @Cbrastreifen, Danke @moo, für die guten Gedanken und Texte die uns eine wichtige Quintessenz für unser Menschsein zeigt.
Das Anders zu sein ....im Leben, im Alltag Umwege zu gehen (müssen) hat mich viel Kraft gekostet und auch des öfteren verzweifeln lassen...(warum...in aller Welt...kannst du nicht normal sein). Nie...hätte ich all diese andere Welt die Vielfalt des Menschsein kennenlernen dürfen. Dafür bin ich sehr dankbar.
Das Ausgegrenztwerden hat mich schon in jungen Jahren der allumfassenden Kunst zugeführt.. Das lesen, das malen, vor allem das musizieren alleine und mit anderen, hat mich im Laufe meines Lebens wunderbaren und wertvollen Menschen begegnen lassen.

Zitat von superstes:
Das Anders zu sein ....im Leben, im Alltag Umwege zu gehen (müssen) hat mich viel Kraft gekostet und auch des öfteren verzweifeln lassen...(warum...in aller Welt...kannst du nicht normal sein). Nie...hätte ich all diese andere Welt die Vielfalt des Menschsein kennenlernen dürfen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Hm, meine große Sorge war es, in den Strudel der Normalität gerissen zu werden. Ich konnte mit den konventionellen Lebensentwürfen und auch mit ihren Verlockungen und Versprechungen immer wenig anfangen, manches war angenehm, mehr aber auch nicht.

So habe ich - im Grunde bis heute - eine Affinität zu Außenseitern und seltsamen Leuten entwickelt, egal ob irre oder genial, was allerdings dazu führte, mich im Kontrast schrecklich normal zu fühlen. Aber auch ich bin für viele dieser Begegnungen dankbar.

Zitat von superstes:
Das Ausgegrenztwerden hat mich schon in jungen Jahren der allumfassenden Kunst zugeführt.. Das lesen, das malen, vor allem das musizieren alleine und mit anderen, hat mich im Laufe meines Lebens wunderbaren und wertvollen Menschen begegnen lassen.

Ja, das ist ein schöner Spielplatz für Sonderlinge. Ich meine viel in Carl Spitzwegs Bildern davon gesehen zu haben, der für den konventionellen Weg auch irgendwie nicht vorgesehen war, dass diese sozialen Nischen, die er immer wieder meisterhaft, mit liebevoll ironischer Distanz dargestellt hat, eigentlich weit über die Zuschreibung der Kompensation hinaus reichen.

Soll heißen, vielleicht begibt man sich in eine dieser Nischen, vielleicht, weil man aus irgendwelchen Gründen für die Normalität nicht geschaffen ist, aber inmitten dieser Schrulligkeit kann sich ein eigener Kosmos eröffnen und am Ende stellt sich die Frage, ob nicht in vielen Fällen der Exzentriker der mit dem glücklicheren Leben ist.

Zitat von superstes:
Das Ausgegrenztwerden hat mich schon in jungen Jahren der allumfassenden Kunst zugeführt.. Das lesen, das malen, vor allem das musizieren alleine und mit anderen, hat mich im Laufe meines Lebens wunderbaren und wertvollen Menschen begegnen lassen.

...und ich traue mich zu behaupten, dass Du ebenfalls zu einem solchen geworden bist...
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Jazz ist x verschiedne Arten,Jazz aus verschieden US Staaten.

Da gibt es nicht,ich mag keinen Jazz.
Sondern Ich mag zB keinen free/modern Jazz.
Wenn ich Jazz zuhause via CD gespielt habe,mochten das alle.

@superstes,und die anderen Jungs.....



Und @superstes?
Bekommst das hin mit ner halbacoustic?/ Vid plz.

Fast ein Jahr ist es nun her seit dem letzten Beitrag hier. Beim Anhören dieses Covers wurde mir wieder bewusst, welch transformierende Kraft Musik, Melodie und vor allem auch Stimme ist...



Kommt gut durch all den Wahnsinn.

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