Zitat von Ja02: Dennoch muss es doch bereits in deiner früheren Kindheit konkrete Anzeichen gegeben haben, welche auf entsprechende Herausforderungen hingewiesen haben, oder nicht?
Hm. Ja, schon, aber eher subtiler Art. Die Emotionsregulierung war schon immer recht auffällig, dh dass ich sehr sensibel war, leicht von Klassenkameraden provoziert werden konnte und zB beim Fußball ein sehr schlechter Verlierer war - im Sinne von 120% gespielt und trotzdem verloren = sehr traurig und wütend auf mich selbst.
Dass ich diese, von anderen ausgemachte Schwäche irgendwann - glaub es war die 5. oder 6. Klasse auf dem Gymnasium - mit gewalttätigen Gegenreaktionen kompensiert habe (also mich so gewehrt hab, dass es sich nicht mehr getraut wurde) war dann vermutlich der pubertierende Wandel durch Testosteron, zumal ich durch die 120%-Einstellung auch nicht von mehreren Mitschülern kleinzukriegen war.
Aber ansonsten: Nein. Mir persönlich ist nur in Erinnerung, dass ich die 3. Klasse überspringen sollte, aber meine Mutter - die übrigens auch Pädagogin ist - Angst hatte, dass ich den älteren Mitschülern dann ausgeliefert sei, weshalb das nicht erfolgt ist.
In den Zeugnissen stand von Klasse 1 bis 4 bzgl. ADHS nur, dass ich sehr verträumt, zurückhaltend und schüchtern sei, bei gleichzeitiger emotionaler Labilität für Misserfolge und Streitigkeiten mit Mitschülern. Ansonsten nichts konkretes.
Zitat von Ja02: Womöglich sind Kindern, welche an stillem ADS leiden, ihre eigenen Kompensationsstrategien gar nicht immer so bewusst.
Richtig. Als kleines Kind kapiert man ja nicht, dass das was man gerne macht - bei halt extrem viel Sport, von 6 bis 6 toben, ohne Mittag zu essen, abends 4 Stunden malen oder Klavier spielen, Theaterstücke mit Indianer-Figuren proben usw - alles schon kleine Bewältigungsstrategien waren, um die kognitive Überlastung durch körperliche oder geistige Überbeschäftigung abzulassen.
Ich hab's gemacht, weil ich mich dann besser gefühlt habe, nicht weil ich wusste, ich mache das, weil mein geringer Dopaminspiegel nach neuen Abenteuern schreit.
Zitat von Ja02: In meinem Fall stellt sich mir die Frage, welche Coping-Strategien ich mir angeeignet haben könnte, um ähnlich mit belastenden Situationen umzugehen. Könnte meine übertriebene Hinwendung zu sportlicher Betätigung eine potentielle Coping-Strategie sein?
Ja. Exzessiver Sport ist so eine typische Sache, aber auch eine extrem hohe Kreativität, die sich auch in sehr abstrakten Gedankenkonstrukten oder eine sehr schrägen Humor zeigen kann.
Im Grunde kann man es darauf runterbrechen, was im Gehirn neurologisch passiert, um darüber die Konsequenzen und verhaltenstechnischen Gegenreaktionen zu schlussfolgern.
Das chronische Ungleichgewicht der Neurotransmitter sorgt dafür, dass das Gehirn immer beschäftigt werden will, um keinen Leerlauf zu haben, der sich wie eine Qual anfühlt. Das heißt, alles was Futter für das Gehirn ist (dH was die Synthese von Dopamin und Noradrenalin organisch durch die Selbstbeschäftigung anfeuert) ist bei ADHS auffällig exzessiv. Sport, Kunst, Wissen, Musik, Abenteuerlust, Neugierde. Nicht zwingend alles zusammen, aber in jedem Fall auffällig
viel.
Zitat von Ja02: Wie haben sich die Medikamente auf dich und deine Stimmung ausgewirkt?
Nicht gut. Ich wurde davon extrem agitiert. Es hat nicht mehr viel gefehlt, und ich hätte *beep* und laut lachend auf dem Marktplatz getanzt. Hypomanisch.
Zitat von Ja02: Hast du bei der Einnahme von SSRI’s ebenfalls starke Erstverschlimmerungssymptome erlebt, oder war der Übergang eher mild?
Ich hab gedacht, ich hätte D rogen genommen oder 3 Kaffee auf Ex getrunken.
Zitat von Ja02: Ich frage, weil ich nach dem ersten Horrortrip selbst bislang keinen spürbaren Effekt wahrnehme, weiterhin unter Depressionen leide und mich frage, ob dies normal ist.
Du bist immernoch bei Esci auf 10 oder hat sich an der Dosis mittlerweile was geändert?
Ich glaub wir hatten auch mal über nen Wechsel zu Duloxetin geschrieben oder?
Es gibt halt Patienten, die ADHS und Depressionen haben, bei denen funktioniert die Kombination mit Noradrenalin besser, weil das Dopamin kontern will, aber normalerweise sind die typischem Medikamente nur für ADHS reine Noradrenalin- und Dopamin-Modulatoren, was eben dann sehr beruhigend, fast sedierend wirkt, wenn das Rauschen plötzlich still ist.
Zitat von Ja02: Einen nicht unerheblichen Anteil an diesem kognitiven Overload trage ich jedoch selbst bei, indem ich mich fortwährend mit einer nahezu endlosen Flut an Informationen konfrontiere. Dabei setze ich mich, selbst in den vermeintlich ruhigsten Momenten, wie etwa in meiner eigenen Wohnung und trotz der Abwesenheit anderer Menschen, einer Vielzahl von Reizen aus, die meine mentale Kapazität offenbar überfordern und meine Fähigkeit zu innerer Ruhe erheblich beeinträchtigen. Dieses ständige Überstimulieren meiner Sinne scheint sich in einem Teufelskreis zu manifestieren, in dem ich den Drang verspüre, immer mehr zu konsumieren: Handy und Laptop als Informationsquelle, zum Schachspielen, gelegentlich auch zum Zocken. Nebenbei wird eine Serie geguckt oder ein Buch gelesen. Dann bin ich hier im Forum aktiv, höre zeitgleich Musik, rechne, lese noch ein weiteres Buch, bearbeite meine Duolingo-App,…
Mjo. Das ist so ein typischer ADHS-Move, sag ich mal so. 5 Baustellen gleichzeitig. Oder wie ich immer sage: Ein Zirkusjongleur in Shorts - weil vorher die Hose anzuziehen halt nicht so wichtig ist, wenn man eine neue, gute Idee hat, die sofort umgesetzt werden muss️
Zitat von Ja02: Angesichts der Informationen, welche du über mich und meine Schilderungen hast, würdest du eine Zuordnung meiner Eigenschaften in den Bereich der Neurodiversität in Erwägung ziehen?
Zumindest würde ich dir raten, es mal richtig abklären zu lassen, denn wenn es
nicht so ist, dann hast du eine mögliche Ursache ausgeschlossen und
wenn so ist, kann man dir dabei helfen, diesen inneren Druck abzukühlen.
Es gibt uA sehr viele medikamentöse Varianten - von stimulierend bis nicht-stimulierend oder atypisch, aber auch spezielle Mediationsübungen, Körpertherapie, Ernährungsratschläge (Essen bzw. Gluten, Zuckerarten, Fette, Alk. usw spielt auch ne wichtige Rolle) und Verhaltenstherapien, die konkret auf ADHS zugeschnitten sind.
Nur muss man dafür erstmal die Diagnose haben.