....Ich war erstaunt, als mir erzählt wurde, dass im Laufe eines Jahres eine
ganze Menge Menschen in die Klinik kommen, um solch einen
Medikamentenentzug durchzuführen. Mir wurde gesagt: „Machen sie
sich keine Sorgen, das kriegen wir schon hin.“ Das hoffte ich, ehrlich
gesagt ging ich von einer Dauer von zwei Wochen aus. So schlimm
würde der Entzug schon nicht werden - was für eine grandiose
Fehleinschätzung.
Die erste Woche war noch ganz annehmbar. Ich wurde langsam
herunterdosiert und bekam zusätzlich Medikationen gegen mögliche
auftretende Krampfanfälle. Diese sind in der Regel eine Nebenwirkung
eines solchen Entzugs und können lebensbedrohliche Auswirkungen
haben. Es ist also dringendst (!) davon abzuraten, einen Lorazepam-
Entzug alleine zu Hause durchzuführen.
Ein Therapeutengespräch hatte ich in der Woche und ab und an
Ergotherapie, ein paar Bilder malen. Die Therapeutin - noch ganz jung -
war sehr nett und tat alles, um wieder einen Funken Stabilität in meine
Seele zu bringen. Dafür dass sie scheinbar „frisch von der Uni“ kam
hatte sie eine ganze Menge auf dem Kasten. Auch der Bezugspfleger,
Herr Hollen, war ein Ar. in seinem Bereich. Ein Mensch mit viel
Einfühlungsvermögen, der zudem den Patienten wirklich helfen wollte
und sie nicht nur als bloße Ziffer im System betrachtete. Ich habe oft
Glück mit meinen Therapeuten und Pflegern. Ich ging viel spazieren
oder plauderte mit meinen Mitpatienten. Das ging noch, denn ich erhielt
ja noch eine reduzierte Menge Lorazepam.
Ab Tag Nummer 11
erwischte mich dann die Krähe im Sturzflug. Der Körper schrie nach
dem Medikament. Die Rezeptoren glaubten, es würde ihnen weiter
zugeführt werden. Doch da kam nichts, beziehungsweise nur noch eine
ganz kleine Menge von 0,5 Milligramm pro Tag. „Alarmstufe Rot“,
Gewitter, Sturm, Raketen, Maschinengewehrsalven in meinem Kopf. Ein
kopfähnliches Ding, das von oben bis unten durchgeschüttelt wurde. Ein
Tornado, Erdbeben, Tsunami, glühende Kohlen zwischen Stirn und
Amygdala. Die Hölle auf meinen Schultern, die Welt ist tot, wer bin ich
noch? Ein Abklatsch eines Menschen. Ein Nichts in einem zugigen,
nassen und kalten Erdloch. Bomben fallen, Volltreffer! In strömendem
Regen und stinkendem Matsch. Zwischen Tag 11 und Tag 31 ging ich
durch die Hölle. Schlaflosigkeit, Albträume, fürchterliche Depressionen,
Kraftlosigkeit und abgrundtiefe, brutale Angst. Schlief ich, dann hatte ich
Albträume, wachte ich auf, dann hatte ich eine massive Angst - kurz
vorm Kotzen. Es dauerte manchmal Stunden, bis ich einigermaßen ruhig
wurde und mich aus meinem Zimmer traute. Man spricht von einem
sogenannten „Rebound“-Effekt. Die Angst kommt stärker zu Tage, als
jemals zuvor. Ein Jahr lang hatte ich nun Lorazepam genommen, an ganz
schlimmen Tagen 4-5 Milligramm. Das Zeug lagert sich irgendwann in
den Fettzellen ab, deswegen dauert ein Entzug auch so fürchterlich lange
und die Nebenwirkungen kommen in Schüben. Ging ich nur den Flur
entlang, die Wahrscheinlichkeit bestand, dass ich jemanden treffe, bekam
ich panikartige Zustände. Ich stand permanent kurz vorm Heulen, hatte
eine fürchterliche Sorge, dass es immer so bleiben würde. Ich war völlig
panisch und apathisch zugleich, ja existierte kaum noch.
Hiiiillllfffffeeeeee! Ich erhielt zudem Atosil, ein Beruhigungsmittel,
welches mich teilweise wie ein Geist über die Gänge schlurfen ließ, ein
Roboter im Schlafanzug. Ich wunderte mich zu Anfang immer, wieso die
Menschen in der Psychiatrie so neben sich stehen, so langsam sind. Nun
war ich ein Teil von ihnen, langsam, apathisch, freudlos, verzweifelt. Ich
fühlte mich teilweise völlig „plemmplemm“. Eigentlich bin ich
Nichtraucher, in der Psychiatrie rauchte ich an harten Tagen eine ganze
Schachtel.
Insgesamt war ich fünf Wochen in der Klinik bis ich stabil genug war,
überhaupt in einen Zug zu steigen und nach Hause zu fahren. Und ich
wusste: Die Entzugssymptome und die verstärkte Angst würden noch
mehrere Wochen so weitergehen, zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit.
Es gibt Tavor-Entwöhnungen, welche sich über ein halbes Jahr
oder länger strecken, bei einigen Menschen wiederum dauert es nur
einige Wochen, sicher ist: Das Elend geht vorbei, auch wenn man es
manchmal selber nicht mehr glaubt.
Ein Kumpel, der in der Vergangenheit sehr viel mit Dro. zu tun hatte,
erzählte mir, dass ein Heroin-Entzug nichts gegen eine Tavor-
Entwöhnung sei. Dieses hätten damals mehrere Heroin-Tavor-Abhängige
erzählt. Ein Tavor-Entzug gehört zu den härtesten Suchtbefreiungen
überhaupt.
Insgesamt dauert der Entzug, mit „Flash-Backs“ und Rebound-Effekten
wohl ca. zwei Monate, puh, ein Meilenstein. Wer das geschafft hat, den
kann eigentlich kaum noch etwas schrecken. Wer das geschafft hat, der
verdient ein Denkmal aus purem Gold. Das Denkmal setzt einem nur
leider keiner.
Ich habe es geschafft, das größte, massivste Leidenstal zu durchschreiten,
welches ich jemals erlebt habe. Ich hatte dem Teufel ins Gesicht
geschaut und mich dann abgewandt. Der Entzug war überstanden und
zudem hatte ich fünf Wochen lang keinen Tropfen B. angerührt.
Außerdem war ich nun 8 Kilo leichter, ich konnte einfach in der Zeit
kaum etwas essen. Ich war nun auf ein Medikament eingestellt
(Paroxetin), welches die Depressionen sehr stark linderte und auch die
soziale Phobie etwas abschwächte. Thank god, nach zwei Jahren auf der
Suche schlug nun endlich ein modernes Antidepressivum an. Was für
eine Erleichterung, damit hatte ich nicht mehr gerechnet. Danke an wen
auch immer, dass diese fürchterlichen Entzugserscheinungen aufgehört
haben, niemals wieder Tavor!
Auszus aus: Soziale Phobie. Die Krähe und der Papagei.
Autor: Mutiger Angsthase. 2015, S.93-97