Hallo @Benommen,
zuerst mein Beileid zum Verlust Deines Vaters und zum Verlust der Erinnerungs-DVDs!
Es tut mir sehr leid, was Dir widerfahren ist!
Ich kann vielleicht etwas nachempfinden, was Dir da passiert ist. Meine Situation ist so, dass ich inzwischen keine (Ursprungs)Familie mehr habe, es sind leider alle nahen Familienmitglieder verstorben, in einem sehr kurzen Zeitraum und als ich dafür noch recht jung war. Seit ich Mitte 30 bin, bin ich quasi ohne Familie, heute bin ich Mitte 40.
Ich kenne daher die Trauer, die Verlusterfahrung, die Ohnmachtsgefühle, auch die Gefühle von Überforderung und Überwältigung, dass bei der Nachlassabwicklung entstehen können, ebenso wie das Gefühl von erneutem Verlust, wenn man erleben muss, dass neben den wichtigen Personen auch noch wichtige Erinnerungsstücke verloren gehen.
Aus dieser Perspektive meine Gedanken zu Deiner Situation:
- Ich glaube, dass Du gerade Deine schwere Verlusterfahrung erneut durchlebst. Zuerst hat man Dir Deinen Vater genommen, und jetzt wurden Dir wichtige Erinnerungsstücke an ihn genommen. Die dabei entstehenden Trauer- und Ohnmachtsgefühle können sehr, sehr schmerzlich und überwältigend sein und sind für die Situation auch angemessen.
- Deine Mutter weiß das auch, sie wird Dir nicht übelgenommen haben, dass bei Dir Emotionen hochgekommen sind, und Du hast diese ja auch noch ihr gegenüber abgefedert. Und sie erlebt gerade diesen Verlustschmerz ebenfalls erneut, gemeinsam mit Dir, und zusätzlich hat sie Schuldgefühle wegen der DVDs.
- Ich glaube, Deine Mutter wusste, dass es irgendwann zu diesem Gespräch kommen würde. Und sie wird erwartet haben, dass bei Dir schmerzliche Verlust-Emotionen hochkommen. Es hätte sie vermutlich eher überrascht, wenn bei Dir keine Gefühle aufgekommen wären, es geht ja um Deinen Vater. Vielleicht hat sie auch verdrängt oder vergessen, dass die DVDs weg sind, aber das glaube ich eher nicht. Ich glaube eher, dass sie diese Schuldgefühle schon lange in sich trägt. Vielleicht ist sie sogar ein bisschen erleichtert, dass das Thema jetzt zur Sprache kam und sie dieses Geheimnis jetzt raus ist.
- Sie fühlt sich einerseits sehr, sehr schuldig Dir gegenüber, weil sie wusste, dass Dir die DVDs wichtig waren, und gleichzeitig erlebt auch sie eine Erneuerung ihrer Verlusterfahrung. Du hast Deinen Vater verloren, sie ihren geliebten Lebenspartner, vielleicht die Liebe ihres Lebens, und das wird jetzt alles durch die Thematisierung der DVDs wieder neu durchlebt. Da sind Tränen angemessen und auch wichtig.
- Dieser Schmerz über den furchtbaren Verlust vereint Euch. Ihr habt beide eine für Euch sehr wichtige Person verloren, und nun ist auch noch dieses wichtige Erinnerungsstück verloren, und ich könnte mir vorstellen, dass sie den Verlust der DVDs ebenso schmerzlich bedauert wie Du. Auch für sie wird der Verlust sehr schwer sein.
- Deiner Mutter gegenüber hast Du, denke ich, für die Situation auch angemessen reagiert. Du hast Deine Emotionen sogar noch etwas gezügelt, und sie wird gewusst haben, dass es bei dem Thema bei Dir zu großen Emotionen kommen wird. Du bist ihr Kind, es war Dein Vater, und sie weiß, wie wichtig er und diese DVDs Dir waren.
Dass sie geweint hat, finde ich nur natürlich, denn auch in ihr ist ja dieser riesige Schmerz über den Verlust des Partners, und als Mutter spürt sie zusätzlich noch den Schmerz ihres Kindes über den Verlust seines Vaters. Da sind Tränen eine sehr angemessene Reaktion, ebenso wie Dein Schmerz angemessen war.
Was folgt vielleicht daraus?
- Ich finde, Du hast einen guten Weg gewählt, mit der Situation umzugehen. Du sprichst hier mit uns darüber, Du sprichst mit Deiner Therapeutin darüber, und an beiden Stellen kannst Du Deinen Schmerz und Deinen Ärger herauslassen. Ich glaube, dass es wichtig für Deinen Heilungsprozess ist, diese Emotionen zuzulassen und zu durchleben, Schmerz möchte leider durchlebt werden, sonst lässt er einen nicht los. Und gerade ein Therapie-Setting ist dafür bestens geeignet.
- Ich glaube, dass es Dir helfen könnte, wenn Du Dir einerseits selber keine Vorwürfe machst, dass Du ihr gegenüber einen Teil Deiner Emotionen gezeigt hast, und andererseits weiterhin an anderer Stelle (hier, Therapeutin etc.) auch Deinen Ärger herauslässt und darüber sprichst.
Dein Schmerz und Dein Ärger sind ja, denke ich, zum großen Teil eher gegen die Welt/ das Universum gerichtet, dass Dir Dein Vater genommen wurde, und die DVDs stehen ja zu großen Teilen nur sinnbildlich dafür.
- Inzwischen bin ich an einem Punkt, wo ich nicht mehr über verlorengegangene Erinnerungsstücke trauere. Das war nicht immer so, es hat eine Zeit gedauert. Aber heute vermisse ich etwas viel schmerzlicher:
Nämlich die Tatsache, dass ich niemanden mehr habe, mit dem ich die Erinnerungen an meine verstorbenen Verwandten teilen kann. Niemanden mehr, mit dem ich darüber reden kann.
Denn mit der Zeit verblasste bei mir die Bedeutung von Erinnerungsgegenständen.
- Deine Erinnerungen an Deinen Vater sind alle in Dir. Vielleicht erinnerst Du Dich nicht mehr bewusst an alles, aber alle diese Erinnerungen sind in Dir, denn sie haben Dich zu der Person gemacht, die Du heute bist.
- Gib' Dir Zeit und erlaube Dir Deine Gefühle.
Trauer ist ein langwieriger Prozess, und er verläuft in Phasen und Schüben. Es dauert manchmal sehr lange, bis der Schmerz abebbt.
Versuche Deiner Mutter zu verzeihen. Sie wird es nicht mit Absicht getan haben, und ich kann aus Erfahrung sagen: Nachlassabwicklung kann sehr chaotisch sein. Da passieren solche Sachen.
Halte Dir vor Augen, dass Ihr beide in Eurer Trauer um einen geliebten Menschen vereint seid. Rede mit ihr, unterhaltet Euch über die Vergangenheit, vielleicht gibt es ja noch Photos o.ä., die dabei helfen, oft sind ja nicht alle Gegenstände verloren.
Es ist der Verlust von Menschen, der all solche Erlebnisse so schmerzhaft macht, weniger der Verlust von Erinnerungsgegenständen. Die Erinnerung ist in Dir.
Teile Deine Erinnerungen mit Deiner Mutter, redet über Deinen Vater, wenn es Euch beiden irgendwann möglich ist.
Ich habe auch wichtige Videokassetten verloren (oder: man hat sie mir genommen), aber heute, nach etwas über 10 Jahren, ist mein Schmerz darüber abgeklungen. Was schmerzt, ist der Punkt, keine Familie mehr zu haben, niemanden, mit dem ich über die alten Zeiten sprechen kann.
Noch hast Du Deine Mutter. Nutze die Zeit, redet miteinander, auch über Deinen Vater, auch, wenn es schmerzlich ist.
Denn irgendwann wird es diese Möglichkeit nicht mehr geben.
Ich sende Dir ganz viel Kraft und viele liebe Gedanken,
Alles Gute Dir,
LG Silver
16.09.2023 18:41 •
x 8 #18