Guten Morgen Linus,
Zitat von Linus42: das Loch wird immer schwärzer und größer, in das ich gefallen bin.
Mir hat (irgendwann) geholfen, zu realisieren, dass diese dunklen Welten im Endeffekt auch einfach nur Erlebens
bereiche sind, auf die ich bis dahin nicht einjustiert war. Je nach aktueller Entwicklung unseres Ich-und-Welt-Gefüges können wir manche Bereiche schlicht nicht empfangen (= wahrnehmen). Manchmal fliegt uns zwar eine Ahnung an, dass es diese Bereiche gibt, aber idR wollen wir sie nicht (möglichst
niemals in unserem Leben) wahrnehmen. Wenn es dann plötzlich passiert, sind wir nicht darauf vorbereitet. Es erschlägt uns - in Wirklichkeit wird nur unser Komfortzonen-Ich-und-Welt-Bild
erweitert. Erweitert um eine zumindest vorerst ziemlich unkomfortable Zone.
Zitat von Linus42: Um mich ein wenig abzulenken, stürze ich mich in die Arbeit.
Kann man machen und wird von vielen Betroffenen so praktiziert. Um den Schmerz ein wenig aushaltbarer zu machen ist das sicher OK, aber mittelfristig ist es Verdrängung. Jede Trauer ist eine große Möglichkeit,
mehr über unser Dasein zu erfahren. Es kann auch dazu führen, die eigene Restlaufzeit besser zu schätzen, sie besser zu nutzen.
Zitat von Linus42: Meine Arbeitskollegen sind aber alle total lieb, drücken einen... und ja, dann geht das Geheule wieder los. Ich kann es einfach nicht zurückhalten.
Du scheinst feine Kollegen zu haben. Und Deine offene Art, die Trauer zu zeigen, wird letzten Endes auch die Kollegen mit ihrem ein oder anderen blinden Fleck in Kontakt bringen. Für den einen mag es zum ersten Mal sein, für den anderen ist es die Erinnerung an eigene Verluste und Krisenphasen. Solches verbindet die Menschen letztlich miteinander.
Leid wird nicht geteilt, wie man so oft hört. Es wird gemeinsam jedoch greifbarer, besser zu verstehen und ergo leichter verkraftbar. Ein großer Teil des Leids ist tatsächlich seine
Unfassbarkeit...so auch hier ersehbar:
Zitat von Linus42: Egal, wo ich hinkomme, ob Nachbarschaft oder Supermarkt oder Tankstelle. Hey, wie geht es der Mama? Zack, geht das Weinen wieder los. Die Leute fallen aus allen Wolken, wenn sie das hören.
Als mal ein sehr liebenswerter Kunde von mir starb, saß ich im Außendienst Wochen später mit seiner Witwe im Büro und heulte meinerseits frei von der Leber weg. Zunächst habe ich mich etwas geschämt dafür. Heute sehe ich das als absolut angemessene Reaktion. Wer weinen muss,
will eigentlich weinen. Tränen verliert man nicht, man
gibt sie.
Zitat von Linus42: Und egal, wo ich bin, ich heule nur rum. Ist das normal? Sogar heute im Stau auf der Autobahn. Im Radio eine traurige Musik und es geht los.
Bestimmt ein halbes Jahr nachdem mein Vater starb, saß ich mit meiner Freundin im Bistro einer Sauna. Der Kaffee war prima, der Kuchen fein und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich keine Eltern mehr habe. Das überraschend lange Weinen war sehr befreiend, egal was die Leute sich außenrum wohl (wenn überhaupt) gedacht haben.
Zitat von Linus42: Ich werde überall dort hingehen, wo Mama gerne war. Ob das eine gute Idee ist, weiss ich nicht. Alleine die Fahrt dorthin - genau ALLEINE - ohne quasseln mit der Mama.
Also ich finde das gut. Es wird garantiert ungewohnt, aber mit offenem Visier sicher einsichtsfördernd. Und was ist Trauern, wenn nicht Einsicht gewinnen?...
Zitat von Linus42: Was für eine völlig unwirkliche Situation. Alles, was vorher völlig selbstverständlich war, ist es nicht mehr...
Genau darum geht es. Es war dem Selbst (Ego) verständlich. Doch es gibt Bereiche im Leben, die zunächst ungewohnt, unverständlich sind. Wie eine neue Sprache oder einen neuen Dialekt müssen wir uns daran gewöhnen,
uns darin einwohnen.
Nimm dieses neue, andere Leben an. Du hast (gerade) nur dieses.