Ich kann eh nicht schlafen … deshalb schreibe ich jetzt einfach mal auf, was in den letzten Jahren so bei mir los war. Ich weiß nicht ob überhaupt jemand Lust hat, das zu lesen, aber ich denke, es ist ganz gut, wenn ich das mal aufschreibe. Das sind eben alles so Dinge, über die ich normalerweise nicht spreche, weil ich mir denke, ok, andere hätten sich in dem Moment wahrscheinlich auch schlecht gefühlt, hätten es aber dann abgehakt und würden jetzt nicht Jahre später ein Drama daraus machen.
Also erstmal habe ich das Glück, aus einer eigentlich ziemlich normalen und stabilen Familie zu kommen. Zu meiner Mutter habe ich auch immer ein sehr gutes Verhältnis gehabt, weil sie mich einfach grundsätzlich immer ganz gut verstanden hat und mich nie unter Druck gesetzt hat und mir immer das Gefühl gegeben hat, dass sie mich so akzeptiert wie ich bin. Mit meinem Vater ist es etwas schwieriger … er hat eben immer gearbeitet als ich klein war, weshalb ich jahrelang keine richtige Bindung zu ihm aufbauen konnte. Meine Eltern haben leider manchmal ziemlich komplementäre Erziehungsmethoden, und während ich mit meiner Mutter gut zurecht kam, war mein Vater eher distanziert und er ist auch viel eher mal laut geworden und hat mir schon damals oft Dinge vorgehalten, die ich als Kind einfach noch nicht verstehen konnte. Bis zur Einschulung habe ich auch außerhalb meiner Familie nicht viele Kontakte gehabt, insbesondere nicht zu anderen Kindern. Ich bin nie im Kindergarten gewesen. In der Grundschule kam ich trotz mangelnder sozialer Erfahrungen gut zurecht, ich war nur eben immer recht still.
Ich bin dann aufs Gymnasium gekommen und da war auch soweit alles okay … mir fiel es wegen meiner Schüchternheit schwer, Anschluss zu finden, aber solange ich zwei, drei Freunde hatte, war das für mich ok. Ich war auch damals schon nicht so sozial eingestellt. Natürlich habe ich auch alle ein, zwei Wochen mit Freunden was unternommen, aber sonst habe ich einfach extrem viel gelesen, gemalt, habe mich allgemein lieber alleine beschäftigt. Mein Vater war dann immer der Meinung, ich müsse mehr rausgehen, müsse mir andere Hobbies suchen, müsse aktiver sein. Er hat eigentlich IMMER irgendetwas gefunden, was er an mir kritisieren konnte. Dass ich immer sehr ruhig war und an vielen Dingen einfach kein Interesse habe, hat er oft als Aufmüpfigkeit aufgefasst. In seinen Augen war ich immer kompliziert, faul, naiv, arrogant, rechthaberisch, humorlos, verklemmt, nicht männlich genug, zu weich, zu sensibel, und keine Ahnung was noch alles. Wir hatten einfach jahrelang ziemliche Kommunikationsschwierigkeiten, würde ich sagen, einfach weil wir grundverschieden sind und er mich deshalb nicht verstehen konnte. Und das führte eben dazu, dass er mich pausenlos kritisiert hat, was sich leider ziemlich negativ auf mein Selbstbewusstsein ausgeübt hat. Ich hatte irgendwann das Gefühl, dass ich einfach immer alles falsch mache und habe dann oft Dinge verweigert, einfach weil ich Angst davor hatte, etwas falsch zu machen. Das wiederum hat mein Vater dann natürlich wieder als Faulheit und Aufmüpfigkeit aufgefasst und mich dafür bestraft. Nach einigen Jahren haben wir es dann langsam auf die Reihe bekommen, besser miteinander zu kommunizieren, seitdem ist es auch besser geworden. Ich glaube aber, dass ziemlich viel von damals der Grund dafür ist, warum ich so ein mieses Selbstwertgefühl habe. Als Kind glaubt man eben, dass die Eltern immer recht haben … und wenn die dir sagen, alles was du tust ist falsch, dann glaubst du das natürlich. Auch wenn ich heute weiß, dass es anders ist, ist da immer noch diese Stimme in meinem Kopf, die mir permanent erzählt, dass ich falsch bin, dass ich nicht gut genug bin, dass ich mich nur anstelle, dass ich nutzlos und wertlos und zu nichts zu gebrauchen bin. Ich weiß, dass das nicht stimmt, und ich weiß auch, dass niemand das so sieht … auch mein Vater nicht … aber manchmal ist diese Stimme einfach verdammt laut.
Mir ging es dann eigentlich auch jahrelang gut, bis auf ein paar minimale Probleme. Ich war halt immer eher ein Außenseiter und hatte nicht viele Freunde. Ich bin nie gemobbt worden, aber ich war einfach zu unsicher um auf andere zuzugehen. Ich glaube, ich habe auch damals irgendwie ein Problem damit gehabt, meine Gefühle wirklich zu definieren und auszuleben. Ich kann das nicht so gut erklären … als ich so 13/14 war wusste ich z. B. nicht, was es bedeutet, wütend zu sein. Ich kannte Emotion nur von anderen, habe das aber selbst nie empfinden können. Dafür hatte ich oft so ein Leeregefühl in mir. Ich hatte manchmal so Phasen, da habe ich mich komplett emotionslos gefühlt. Ich war nicht einmal traurig, ich habe einfach GAR NICHTS gefühlt. Das ging dann zum Glück irgendwann weg … irgendwann habe ich dann auch gelernt, wütend zu sein. Also alles ganz normal eigentlich.
Ich weiß auch nicht wirklich, ab wann die Dinge dann anfingen, schief zu gehen … ich denke, ich habe schon länger Probleme gehabt, ohne mir dessen bewusst zu sein … einfach weil meine Bewältigungsstrategien damals besser funktioniert haben. Ich habe das einfach nie realisiert, eben weil es mir ja nie schlecht ging.
Ich denke im Nachhinein, dass das so vor drei Jahren ca. angefangen haben muss. Ich bin damals (10. Klasse) für ein paar Monate ins Ausland gegangen (England) und irgendwie ist das nicht ganz so gelaufen wie ich es mir vorgestellt hatte. In erster Linie war das Verhältnis zu meiner Gastfamilie einfach nicht ganz so gut … die waren nett, aber es gab einfach immer wieder Situationen, die ich nicht einordnen konnte und die mich verunsichert haben. Hinzu kam, dass ich dort verdammt alleine war und damit nicht so gut zurechtgekommen bin. Meiner Familie in Deutschland habe ich dann immer vorgelogen, wie toll doch alles wäre, weil ich nicht zugeben wollte, dass das nicht der Fall war … vor allen Dingen auch, weil ich immer mir die Schuld an jeglichen Konflikten gegeben habe. Ich habe dann dort auch irgendwie Probleme mit dem Essen bekommen. Das hing einfach damit zusammen, dass einige dieser Situationen, von denen ich vorhin sprach, mit Essen zu tun hatten, und das hat mich mit meinem angeknacksten Selbstbewusstsein einfach verunsichert. So dass ich es dann irgendwann vermieden habe, mit meiner Gastfamilie zu essen. Frust, Einsamkeit und Verunsicherung haben dann oft zu regelrechten Ess-Anfällen geführt … mit meiner Gastfamilie zu Abend essen konnte ich ja nicht, also habe ich dann oft Unmengen an Schokolade oder Keksen gegessen, natürlich heimlich. Als ich dann wieder in Deutschland war, hat sich mein Essverhalten dann wieder sehr schnell normalisiert. Ohne dass es einen konkreten Auslöser dafür gegeben hätte, habe ich dann im Januar 2013 beschlossen, weniger zu essen. Ich denke, das lag einfach daran, dass ich Essen wegen der Situation vorher mit Kontrollverlust assoziierte, und über IRGENDETWAS wollte ich dann eben die Kontrolle haben. Ich habe dann versucht, nur dann zu essen, wenn ich wirklich Hunger hatte. Irgendwann gewöhnte ich mir dann an, mittags einen Joghurt oder so zu essen, und dann eben abends zusammen mit meiner Familie … das ist natürlich nicht so extrem viel, deshalb bin ich dann auch recht schnell ins Untergewicht gerutscht. Mir ging es dann auch lange wirklich gut, ich war ausgeglichen, selbstbewusster, aktiver … alles war wirklich super. Bis zu diesem Sommer.
Nach dem Abi war ich eigentlich voller Zuversicht und habe mich aufs Studium und auf die Zukunft gefreut … ich wollte endlich alleine leben, endlich aus meiner gewohnten Umgebung raus, neue Leute kennenlernen, mich nicht mehr mit Schulstoff rumschlagen müssen, der mich nicht interessiert. Ich bin dann auch an meiner Wunsch-Uni zugelassen worden und habe einen Platz im Studentenwohnheim bekommen (was im Übrigen absolut nicht so schlecht ist wie immer behauptet wird). Ich bin von zuhause ausgezogen und dann ist plötzlich alles den Bach runtergegangen. Erst einmal hatte ich einfach NICHTS zu tun … also verdammt viel Zeit zum Nachdenken. Keinen geregelten Tagesablauf mehr, Freunde alle woanders … und plötzlich war einfach alles nur noch schwarz. Vor ein paar Monaten ging es mir noch super, aber dann war ich plötzlich mit mir selbst alleine … und scheinbar komme ich damit absolut nicht zurecht. Ich habe plötzlich extreme Stimmungsschwankungen entwickelt, konnte nicht mehr schlafen, habe meinen eigenen Gedanken Angst bekommen. Ich habe ständig nur noch daran denken können, wie ich mir selbst schaden könnte, wie ich Selbstmord begehen könnte, wie ich sterben könnte, was dann passieren würde … das waren einfach extrem düstere und selbstzerstörerische Gedanken. Ich war und bin nicht suizidal, deshalb habe ich keine Ahnung, woher diese Gedanken kamen. (Ich glaube, das nennt man „intrusive thoughts“ und das ist wohl an sich auch recht normal … nur bei mir hat es dann kurzzeitig etwas extreme Ausmaße angenommen.) Etwa zu dem Zeitpunkt habe ich dann auch gemerkt, dass mein Essverhalten nicht so ganz in Ordnung ist. Und damit wurde es erst zum Problem, weil ich einfach nicht mehr wusste, ob ich jetzt mehr essen sollte oder weniger und war dann am Ende total verunsichert. Gerade versuche ich, wieder mehr zu essen … das klappt so mehr oder weniger. Einerseits habe ich keine Lust mehr, mein Selbstwertgefühl über Essen zu definieren, andererseits bin ich ja froh, wenn ich über überhaupt irgendetwas die Kontrolle habe. Ich hungere nicht, zähle auch keine Kalorien oder so, aber ich merke schon, dass ich irgendwie ein gestörtes Verhältnis zu Essen habe.
Im Moment komme ich auch wieder ganz gut zurecht, jetzt wo das Semester begonnen hat und ich etwas zu tun habe. Aber lebe im Grunde in völliger Isolation. Klar habe ich Freunde, bei denen ich mich melden könnte, genug Leute an der Uni, mit denen ich mich anfreunden könnte ... meine Eltern beschweren sich auch schon, weil ich so selten nach Hause komme. Aber ich finde das einfach so schwer gerade, ich kann andere Menschen einfach nicht etragen. Ich will alleine sein, weiß aber auch, dass mir das absolut nicht gut tut.
Und dann kommen da eben solche Situationen dabei heraus, wie das ich hier abends mit einer Rasierklinge sitze und mir die Arme aufritze, weil dann der Druck endlich weg ist und ich nicht mehr das Gefühl habe, jeden Moment durchzudrehen.