Schonmal einen lieben Dank an alle, die sich diesen Text durchlesen und vielleicht auch helfen werden.
Mein Bruder hat dieses Jahr das Abitur hinter sich gebracht. Der Weg zum Ziel war allerdings eine Qual - nicht nur für ihn, auch für meine Eltern und irgendwie auch für mich.
Zuerst sollte gesagt sein, dass mein Bruder (laut diverser Tests) hochbegabt ist. Und obwohl er eigentlich so klug ist, schafft er es nicht, sich zu organisieren. Er verpasst immer wichtige Termine, er wusste nie, wann Arbeiten geschrieben worden sind. Wir mussten ihm quasi immer hinterherrennen und ständig aufpassen, dass er auch alles mitbekommt, was wichtig ist.
Wirklich Probleme hat er etwa ab der 7./8. Klasse bekommen. Er beteiligte sich nie im Unterricht und versemmelte auch die ein oder andere Arbeit - gut. Das ist ja gar nicht sooo unnormal bei Hochbegabten, habe ich mir sagen lassen. Die sind dann unterfordert und gelangweilt, haben keine Lust, sich mit der Aufgabe zu beschäftigen usw.
Also haben wir versucht, ihn irgendwie mehr zu fordern - darauf hatte er aber eigentlich auch keinen Bock. Erst wollte er keine Klasse überspringen, und plötzlich hieß es, dass er fast sitzen bleiben müsste, weil seine Leistung so stark nachgelassen hat!
Natürlich sind meine Eltern regelmäßig mit ihm zum Klassenlehrer gerannt, weil es ständig Beschwerden gab: Er würde einschlafen im Unterricht. Er würde nie Hausaufgaben machen. Er würde sich nie melden. Eine Zeit lang hielt er anscheinend auch die Lehrer für dumm und zeigte sich ihnen gegenüber sehr respektlos (aber das hat er zum Glück dann in den Griff bekommen).
Ein weiteres Problem ist, dass er nie spricht. Also, er redet, klar. Aber er kann einfache Fragen nicht beantworten. Wenn man ihn also anspricht: Warum hast du denn deine Hausaufgaben nicht gemacht? kommt immer Weiß nicht Keine Ahnung Hm oder er guckt einfach nur geradeaus.
Wir haben schon so oft mit ihm gesprochen, ob er sich vielleicht unwohl fühlt in der Schule. Wir hatten erst Angst, er würde vielleicht geärgert werden, weil er sich auch nie privat mit irgendwem getroffen hat. Ich bin allerdings mit ihm auf die gleiche Schule gegangen und konnte ihn teilweise in den Pausen beobachten; er war nicht gerade unbeliebt! Er hatte so seine Freunde, mit denen er in der Schule gerne sprach und er wurde auch einige Male zu Geburtstagen eingeladen - aber entweder wollte er dann nicht gehen oder hat sie schlicht und einfach vergessen. Irgendwie wollte er sich nie mit jemandem treffen, aber gleichzeitig schien er traurig darüber zu sein.
Wenn man aber wieder fragt Warum fragst du nicht mal den und den, ob ihr euch treffen könnt?, kommt wieder ein Weiß nicht..
Aufgaben, für die man mehr Zeit bekommt (z.B. den Praktikumsbericht, die Facharbeit, Projektarbeiten usw.) scheinen ihm schwerer zu fallen, weil er sich nie aufraffen kann, an der Sache zu arbeiten. So schrieb er die Facharbeit am Abend davor, nachdem er die Tage vorher sich lieber quengelnd aufs Bett geschmissen hat, weil er einfach nicht wusste, wie und was er tun sollte. Meine Eltern müssen ihm bei sowas immer in Hintern treten (um's mal salopp zu sagen), damit überhaupt etwas zu Stande kommt. Wir bieten ihm ständig Hilfe an, er kann doch sagen, wenn er irgendwo nicht weiterkommt oder etwas nicht versteht - aber er nimmt die Hilfe nie in Anspruch.
Dieses Jahr wollte er eigentlich mit dem Studieren anfangen, er hatte sich schon eingeschrieben - und dann die Einführungsveranstaltungen verpasst. Er konnte seinen Stundenplan nicht rechtzeitig fertigstellen und jetzt ist es zu spät. Wir waren so happy, dass er bald Student sein wird - und dann so eine Enttäuschung. Meine Mutter ist natürlich total wütend geworden, als sie nach fünf Minuten googlen gesehen hat, dass die Vorlesungen schon längst angefangen haben. Mein Bruder wusste nichts davon...
Meine Mutter hat natürlich schon diverse Untersuchungen mit ihm machen lassen. Körperlich ist wohl alles in Ordnung. Manche Psychologen meinen, er wäre leicht autistisch veranlagt. Aber egal, ob er nun Autist ist, oder nicht - er will sich auch nicht helfen lassen.
Oder besser gesagt: Jede Sitzung mit einem Psychologen ist völlig verschwendet, denn auf die Fragen des Psychologen kommen ja nur bescheidene Antworten. Von sich aus erzählen tut er erst recht nichts. Jeder Psychologe hat ihn also dann wieder weggeschickt, mit den Worten Wenn er nicht sprechen möchte, ist das hier verschwendete Zeit.
Das ärgert uns alle enorm. Mein Bruder ist total witzig und nett, wenn man mit ihm redet. Er ist einer der witzigsten Menschen, die ich kenne. Er könnte so viel erreichen, aber er schafft es irgendwie einfach nicht! Er hat auch keine richtigen Interessen... er spielt sehr gerne Videospiele. Er macht einmal die Woche Kampfsport und geht einmal die Woche zum Schlagzeugunterricht. Beides kann er gut, aber eigentlich tut er es nur aus Gewohnheit. Zum Kampfsport geht er, weil ich früher dahin gegangen bin und ihn mitgezerrt habe - und zum Schlagzeug geht, weil mein Vater meinte, dass ihm das doch gefallen könnte.
Wir wissen inzwischen einfach nicht mehr weiter. Wir haben schon so vieles versucht, um ihn dazu zu kriegen, einfach mal selbstständig irgendetwas zu machen. Von sich aus zu sagen Ja, das will ich machen! oder auch Ne, das will ich nicht machen!.
Er scheint zwar nicht unglücklich... aber auch irgendwie nicht glücklich. Er ärgert sich sehr oft über sich selbst und ich habe das Gefühl, dass er sich manchmal für ziemlich dumm hält... und so wie er sich verhält, kann man natürlich nicht sagen, dass er sich klug anstellt.
Was ist denn nur los mit ihm? Wie kann ich ihm helfen?
27.10.2015 11:51 • • 28.10.2015 #1