Zitat:An der Wand neben ihm lag ein verschlissener, großer Rucksack. Daneben stand eine
Flasche Wasser und eine Tüte, aus der ein Croissant herausragte.
Der Mann dort am Boden, schien sehr tief zu schlafen.
Ihr erster Impuls war: ich muss sofort die Polizei rufen!
Aber irgendwie schien, zumindest momentan, keine Gefahr von ihm auszugehen.
Was sollte sie nur tun? …………..
Der Mann grunzte leise im Schlaf. Sie überlegte nun fieberhaft. Durfte sie einfach an seinen Rucksack gehen und einen Blick hineinwerfen? Das war ja schon sehr übergriffig. Auch eine Art Einbruch oder Hausfriedensbruch, dachte sie. Der Rucksack beherbergte ja sein Leben, also das, was davon übrig geblieben schien. Ein kleines bisschen ekelte sie sich auch vor dem schmutzigen, olivgrünen Teil an der Wand. Es sah aus wie ein Armee-Rucksack. Ob darin ein Personaldokument war? Oder eine Waffe?
Ach, was soll's, murmelte sie und sprach sich selbst Mut zu, während sie ihre Gartenhandschuhe überstreifte, die in der Garage auf dem Riesensack mit Erde lagen. Sie griff tief in den Rucksack und holte ein Heft hervor. Abi-Zeitung 1982 stand auf dem zerfledderten Magazin. Und darunter Goethe-Gymnasium. Ihr entfuhr ein leises Stöhnen. Goethe-Gymnasium 1982? Oh mein Gott... Das war ihre alte Schule. Sie hatte dieses Heft auch aufgehoben und wie alle ihre Erinnerungsstücke in einem Koffer von ihrem Uropi aufbewahrt. Oben auf dem Speicher. War das ein früherer Mitschüler von ihr? Sie sah noch einmal das Gesicht des Mannes an. Bekannt kam er ihr nicht vor. Doch es war ja schon Jahrzehnte her, dass sie das Gymnasium verlassen hatte.
Der Mann grunzte erneut, diesmal lauter. Sie fuhr zusammen. Ein Blick auf ihre Uhr sagte ihr, dass sie nun mindestens eine halbe Stunde zu spät käme. Und dabei hatte sie immer noch nicht entschieden, was sie wegen des Mannes unternehmen sollte. Es war jetzt allerhöchste Zeit, in die Gänge zu kommen.
Du, Miri, ich habe hier zu Hause einen Notfall, sagte sie fast flüsternd zu ihrer Kollegin. Muss heute den Tag frei nehmen. Sorry, geht wirklich nicht anders! Sie sprach etwas lauter in ihr Mobiltelefon. Nein, natürlich nicht. Es war nicht abzusehen. Nein, ich bin nicht krank. Erzähle ich dir alles morgen. Sie legte auf. Miri würde sie beim Abteilungsleiter entschuldigen. Das war kein Problem, sie war so oft in Engpässen spontan eingesprungen. Und sie hatte irrwitzig viele Überstunden, die sie auch irgendwann einmal abbummeln musste, damit sie nicht verfielen. Das hätten wir, murmelte sie.
Der Mann fuhr hoch. Sie erschrak und ließ vor Schreck fast ihr Telefon fallen.
Wer sind Sie? fragte sie ihn und entfernte sich sicherheitshalber um einen halben Meter. Was machen Sie in meiner Garage? Ihr Stimme zitterte ganz leicht. Obwohl die Situation sehr schwer einzuschätzen war, hatte sie verhältnismäßig wenig Angst.
Bist du es wirklich? fragte der Mann. Ich habe so lange nach dir gesucht.
Nach mir? Ich verstehe nicht... Das nennt sich Einbruch, dass Sie sich einfach nachts Zugang zu meiner Garage verschaffen. Was denken Sie sich denn? Ich war schon nahe dran, die Polizei zu rufen.
Bitte keine Polizei, bitte nicht! flehte der Mann und wirkte den Tränen nahe.
Schon gut, ich habe ja noch nicht angerufen.
Du erkennst mich wirklich nicht mehr... sagte er mit einer tieftraurigen Stimme.
Nein, ich habe absolut keinen Schimmer, wer Sie sind.
Er griff nach dem Abi-Magazin, das sie vor Schreck fallen gelassen hatte, als er so hochfuhr. Mit zitternden Fingern öffnete er die Seite mit den Fotos und streckte sie ihr entgegegen.
Tobias Feldmann? rief sie ungläubig. Du bist Tobias?
Er nickte traurig. Sie sah ihn immer noch fassungslos an. Dieses ausgezehrte Gesicht brachte sie nicht mit dem ihrer ersten großen Liebe zusammen. Das sollte Tobi sein? Ihr Tobi? Der nach dem Abi in die USA gegangen war, um an einer Ivy-League-Universität zu studieren? Die Trennung war damals herzzerreißend gewesen. Ihre Pläne, ihm in die USA zu folgen, waren am Geld gescheitert. Sie konnte sich nicht vorstellen, so jung zu heiraten. Und das Geld seiner Familie war auch keine Option für sie.
Wie war aus diesem Jungen ein Tramp geworden, der auf der Straße lebt? Bei seinem Hintergrund? Den Chancen, die er allein durch seine Herkunft hatte. Was war ihm zugestoßen?
Komm erst einmal mit ins Haus, sagte sie. Was sie denken, fühlen, glauben sollte, wusste sie nicht. Ich mache dir erst einmal etwas zu essen. Und dann kannst du baden, wenn du magst. Ich habe auch saubere Kleidung für dich. Erst der Körper, dann folgt der Rest... Nach diesem Motto lebte sie selbst, seit ihr Mann im vergangenen Jahr gestorben war. Auch wenn Tobias viel dünner war, würden ihm einige seiner Kleidungsstücke schon irgendwie passen. Mit Gürtel. Sie hatte Angst, die Lebensgeschichte ihres Freundes aus Schulzeiten zu hören. Gleichzeitig war sie sehr interessiert daran, wie es ihm ergangen war. Und irgendetwas in ihr sagte leise: Es gibt keine Zufälle. Das war auch dieselbe Stimme, die sie abgehalten hatte, die Polizei zu rufen.
Auf das, was beim Aufwachen in der Luft gelegen hatte, wäre sie in einer Million Jahren nicht gekommen. Weil es einfach zu abgefahren war, seinen Ex aus einem anderen, längst vergangenen Leben morgens in der Garage vorzufinden...