Guten Abend zusammen, ich sitze hier gerade auf dem Sofa und muss irgendwie alles mal loswerden. Da dachte ich mir, so ein kleines Tagebuch zu führen könnte mir vielleicht helfen auch um einige Dinge für mich im Nachhinein besser reflektieren zu können.
Nun ja, wo fang ich an?
Ich bin Julia, 22 Jahre alt und wurde in Köln geboren.
Meine Kindheit lief problemlos und glücklich bis zu meinem 13. Lebensjahr.
Die Ehe meiner Eltern ging zu Bruch - Trennung - Rosenkrieg - mein Bruder und ich mittendrin.
Da begannen meine psychischen Probleme (zumindest vermutet mein Therapeut, dass bis dahin alles so weit in Ordnung verlief).
Das war 2012.
Im März 2013 zog mein Vater aus und meine Mutter musste sich allein um alles kümmern. Auch wenn ich damals nie so wirklich dankbar war (Ja auch mich hat die Pubertät ziemlich stark erwischt) bin ich es heute umso mehr.
Im Jahr 2015 schloss ich meine Mittlere Reife ab und besuchte ab da ein Berufskolleg zum Erlangen meiner Fachhochschulreife. Spoiler Alarm: Ich habe es nicht durchgezogen.
Und warum?
Dank meiner Panikattacken, die Anfang 2017 wieder stärker wurden. Durch die immensen Fehlzeiten musste ich mein Fachabitur abbrechen und war mit 18 das erste Mal arbeitslos.
Mitte 2017 kam dann der erste heftige Schlag. Mein damals 15-jähriger Bruder bekam die Diagnose Morbus Hodgkin, Ende Stadium 2. Sechs Monate Chemo und Bestrahlung folgten. Eine unfassbare psychische Belastung für die gesamte Familie.
Meinem Bruder galt selbstverständlich die volle Aufmerksamkeit der Familie, während ich mit meinen eigentlich extremen Bedürfnissen so nebenherlief.
Im Oktober 2017 fasste ich den Entschluss: Ich gehe in eine Klinik.
Meine Eltern waren zu dem Zeitpunkt nicht in der Lage, mir die nötige Aufmerksamkeit zu schenken bzw. mir zu helfen also brauchte ich Hilfe von außerhalb.
Insgesamt verbachte ich 12 Wochen in stationärer Therapie, ohne Medikamente, lediglich Therapie. Diese Zeit hat mir wahnsinnig geholfen, nicht nur meine Skills zu entdecken, sondern auch zu verstehen, wie die Psyche arbeitet und was sie alles verursachen kann.
Nach beenden der Therapie kam ich beinahe angstfrei nach Hause zurück und auch meinem Bruder ging es schon deutlich besser. Nicht nur mir hat die Therapie geholfen, meinen Eltern ebenfalls, die bis dato vollkommen überfordert waren mit psychischen Erkrankungen. Sie waren froh, zu wissen, dass auch mir geholfen wird auch wenn meine Erkrankung natürlich nicht so gut nachweisbar und sichtbar ist wie eine Krebserkrankung. Endlich brachten sie mir etwas mehr Offenheit und Akzeptanz gegenüber und unser Verhältnis begann sich zu entspannen.
Im März 2018 zog ich, aus wahrscheinlich unglaublicher Dummheit, zu meinem damaligen Freund in den Odenwald.
Er, damals 36 und Substanzabhängig, ich 18 mit Angsterkrankung.
Ich brauche euch sicherlich nicht zu erklären warum diese Beziehung nach zwei toxischen, für mich schlimmen Jahren endlich vorbei war.
Am 23.09.2019 stellte sich nämlich heraus, dass ein Hammerschlag des Schicksals nicht genügt: Nein es wollte mich bluten sehen.
Meine Mutter, mit der ich bis dahin ein wirklich liebevolles und sehr inniges Verhältnis aufgebaut hatte, bekam die Diagnose CUP-Syndrom. Vergrößerte, tumoröse Leber, keiner hatte eine Ahnung, wo dieser verdammte Haupttumor saß. Ihre Leber reichte bis zur Leiste, Metastasen rund um die Wirbelsäule. Prognose: 3 Monate.
Letztendlich starb meine Mutter nach einem kurzen, aber harten Kampf am 14.11.2019 im Hospiz.
Mein Leben war komplett zerstört. Einen Freund an meiner Seite, den das überhaupt nicht interessierte, der es nicht einmal für nötig erachtete, sich von der ,,behinderten‘‘ (Ja das waren seine Worte) zu verabschieden. Ich pendelte zwischen Köln und dem Odenwald um mich mit meinen letzten Kräften um meinen damals noch minderjährigen Bruder zu kümmern und meinem Vater, der soeben seine Beste Freundin verloren hatte, beizustehen.
Wir planten also die Beerdigung unserer Mutter, mit 17 und 20. Das sollten keine Kinder tun müssen. So früh sollte keiner sterben müssen. Aber nun war es so. Es galt für mich das geschehene aufzuarbeiten und meiner Mama, die von ihr explizit gewünschte, letzte ,,Party‘‘ zu ermöglichen.
Es klingt komisch das so zu schreiben, aber es war wirklich eine wahnsinnig schöne Beerdigung mit einer sehr persönlichen und emotionalen Rede, Musik ihrer Lieblingsband, bunter Kleidung und einem recht ausgelassenen Leichenschmaus.
Das war also überstanden und für mich ging es zurück in den Odenwald. Meine Scherben zusammen kleben, mein Leben neu ordnen.
Ich trennte mich direkt von meinem Ex Freund, trat einen Teilzeitjob im Verkauf an und begann mich aufzurappeln.
Im Juni 2020 lernte ich, wie der Zufall es so will, meinen Verlobten kennen. Einen Kunden, der sein Auto bei mir tankte und mich fragte: ,,Hast du gleich Feierabend? Wollen wir dann eine rauchen?‘‘
Wir verstanden uns sofort blendend und machten ein Date aus. Und gerade, wo ich das so schreibe, sitze ich hier und schaue ihm lächelnd beim Arbeiten zu.
Ich habe ihm viel zu verdanken.
Meine Ausbildung die ich endlich durchziehe.
Mein Fachabitur, dass ich nebenbei endlich durchziehe.
Ein Zuhause. Nicht nur eine Wohnung, sondern einen sicheren Rückzugsort.
Auch Zuhause ist nicht immer alles perfekt, aber ich werde geliebt und akzeptiert so wie ich bin.
Und das ist alles was zählt.
So und nun bin ich hungrig und müde.
Ich werde demnächst sicher daran anknüpfen, denn mittlerweile ist es 2022.
Habt einen schönen Abend ihr Lieben
Julia
09.02.2022 20:52 • • 17.06.2023 x 12 #1