Über die Loslösung von den inzestuösen Bindungen an die Familie und die Natur bin ich auch gestolpert, aber ich kann mich aus dem Deutsch-Unterricht noch an ein paar Texte zu den moderneren Epochen und auch zu Fromm erinnern, und ich meine, dass man den Satz im zeitgenössischen Kontext betrachten muss, der da war:
Der Mensch lebt in einer entfremdeten Beziehung zur Natur, weil er zur Transzendenz fähig ist. Diese Entwicklung wurde von Fromm -und auch von anderen zeitgenössischen Denkern- oft auch als der größte Fluch des Menschen gesehen; der Mensch als Anomalie der Natur, der Mensch behaftet mit dem Problem seiner eigenen Existenz.
Weiter dachte man damals, dass der Mensch nicht mehr in Harmonie mit der Natur leben kann, und dass diese kaputte Beziehung zur Natur eine große innere Leere und Hilflosigkeit schaffe, aus der heraus dann allerlei Übel wachse, zum Beispiel Gewaltbereitschaft, Aggressivität und eben psychische Krankheiten.
(Ähnlich wie man in früheren Epochen davon ausging, dass ein Riss durch Mensch und Welt gehe den man heilen müsse.)
Wikipedia sagt dazu sehr schön:
Zitat:Durch die besondere Rolle des Menschen zur Natur, die ihn zu einer gewissen Heimatlosigkeit verdammt, ist es für den Menschen besonders wichtig, einen Weg zu finden, sich in der Welt zu orientieren und so in eine neue Beziehung mit ihr zu treten. Alle Leidenschaften des Menschen dienen letztlich dem Ziel, die Heimatlosigkeit zu verringern.[qu
Und das ist auch der springende Punkt: Oft sucht der Mensch nach Alternativen zu seiner Verwurzelung, er sucht sich die Sicherheit, die ihm fehlt, wo anders, zum Beispiel in der Familie. Fromm betrachtete den inz. aus einem ganz anderen Blickwinkel:
Zitat:Um den Verlust der natürlichen Wurzeln zu überwinden braucht der Mensch neue menschliche Wurzeln, um sich in der Welt wieder zu Hause fühlen zu können. In dieser Hinsicht bietet die Mutter-Kind-Beziehung den höchsten Grad möglicher Verwurzelung. Die Tiefe des Gefühls von Sicherheit, Wärme und Schutz ist hier so stark, dass auch im Erwachsenenalter eine Sehnsucht danach bestehen bleibt. Letztendlich übernehmen Institutionen wie der Staat, die Kirche, die Gruppe usw. im Erwachsenalter für den Einzelnen die Funktion, ein Gefühl der Verwurzelung zu ermöglichen, sodass der Mensch sich als Teil einer Einheit statt als isoliertes Individuum wahrnehmen kann.
Die Abnabelung von der Mutter ist ein beängstigender, doch notwendiger Prozess zur Menschwerdung des Einzelnen. Nur so ist es dem Menschen möglich, Fortschritte zu machen und sich zu entwickeln. Im Gegensatz zu Freud deutet Fromm die Mutterbindung und den Ödipuskomplex auf emotionaler statt auf sexueller Ebene. In dieser Hinsicht erhält das Inzesttabu insgesamt eine neue Bedeutung, da es nicht nur ein sexuelles Verlangen des Kindes zu einem Elternteil untersagt, sondern auch das Verharren im schützenden mütterlichen Bereich, was eine kulturelle Entwicklung unmöglich machen würde.
Aus meiner Sicht meint Fromm in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass der Mensch sich lösen muss von seiner Vergangenheit, dass er sich frei machen muss von dieser unerfüllbaren Sehnsucht, in Harmonie mit Familie und Natur leben zu können. Dass er quasi ein selbstbestimmtes Leben führen soll.
Die Natur könnte aber auch die eigene Natur des Menschen sein (etwa die Loslösung der verzweifelten Suche nach neuen Wurzeln und der Schritt in die selbstbestimmte Freiheit), und muss gar nichts mit den Bäumen, Blumen und Bienen zu tun haben, wie man auf den ersten Blick meinen würde. Aber dagegen spricht die Tatsache, dass das Thema Natur und Entfremdung von der Natur damals für die Menschen so wichtig war.
Hier hab ich übrigens etwas das Gesicht verzogen:
Zitat:Der seelisch gesunde Mensch ist ein Mensch, der aus seiner Liebe, seiner Vernunft und seinem Glauben heraus lebt
Glaube im Sinne von Gottesglaube ist meiner Meinung nach keine Voraussetzung für einen seelisch gesunden Menschen. Im Gegenteil: Glaube kann fanatisch und gefährlich sein, und im Namen des Glaubens wurden an der Menschheit schon zahllose Verbrechen begangen. Wenn der Mensch sich laut Fromm aus der Beziehung zu Natur und Familie lösen soll, wieso soll ihm dann eine Beziehung zum Glauben und zu Gott helfen? Ich dachte, das Ideal sei die Selbstbestimmung und Freiheit. Aber Glaube macht meiner Meinung nach nicht frei.
Worüber ich schmunzeln musste:
Zitat:denn Gefühle sind doch ganz einfach
Das finde ich nicht. Gefühle sind mit das komplizierteste, das der Mensch zu bieten hat, mal ganz davon abgesehen, dass er eh ein Wunderwerk ist, genau so wie die meisten Wesen auf unserem Planeten oder die Tatsache an sich, dass es unseren Planeten überhaupt gibt.
Alles in Allem ein schöner Text, aber man muss den Text auch in seinem geschichtlichen Zusammenhang sehen: Zu der Zeit hatte man von der Psyche des Menschen ein ganz anderes Bild als man es heute hat.
Am Ende muss wohl trotzdem jeder für sich selbst heraus finden, wie er sein Leben meistert, ein psychisch gesunder Mensch wird, ist, und bleibt. Aber ich denke, dass einem verzweifelten, ratsuchenden Menschen die Worte von Fromm zu abgehoben sind, um ihm in der momentanen Situation tatsächlich helfen zu können.
Liebe Grüße,
Bianca