Der Terror undefinierten SeinsWenn wir die Natur des Erlebens irgendeines Phänomens erforschen, bemerken wir vielleicht, wenn das
Gefühl der Identität erscheint – ein „Ich“, das sich fürchtet, ein „Ich“, das verliebt ist, ein „Ich“, das ein Problem zu lösen hat – etwas im Herzen „
mag“ dieses Gefühl. Selbst bei einem unangenehmen Zustand wie etwa Ärger oder Furcht ist das Gefühl von „Ich bin“, das Gefühl eines
definierten Seins, etwas das der Geist erfasst und genießt. Ein Gefühl tiefer Befriedigung taucht auf, selbst wenn das Erlebnis äußerlich angeblich „unerwünscht“ ist, wie etwa ein Problem, eine Schwierigkeit oder ein Kampf. Etwas im Herzen sagt, „Puh! Nun habe ich etwas, um zu
sein!“
Sei es nun in Bezug auf Sinnesvergnügen, Aufregung, Aversion, Empörung, Furcht, Zweifel oder Verwirrung: Der Geist arbeitet auf die gleiche Weise. Es mag sein, dass wir dadurch einen Nervenkitzel bekommen, indem wir eine Regelverletzung begehen und etwas tun, was wir nicht tun sollten. Es mag sein, dass wir uns am lebendigsten fühlen, wenn wir Angst davor haben, geschnappt zu werden oder wenn wir auf jemanden wütend sind oder wenn wir uns im Zustand der Eifersucht befinden oder einfach nur wenn wir uns beschweren. Oberflächlich betrachtet mögen diese Zustände als wenig ansprechend erscheinen – wer möchte sich schon so fühlen? – aber Tatsache ist, dass dies keine ungewöhnlichen Erfahrungen sind.
Einige Leute machen es zu ihrem Beruf (oder zumindest zu einem Lebensstil), Fehler bei anderen zu finden, sich über Ungerechtigkeit aufzuregen oder sich selbst dafür zu hassen, dass sie einen unverzeihlichen Fehler begangen haben, oder sie streben nach Rache für ein empfundenes Unrecht.
Der Geist versucht einen Weg zu finden,
um das Gefühl dieses definierten Daseins aufrecht zu erhalten, zu füttern oder zu wiederholen. Ihr mögt euch fragen: „Warum gerate ich immer wieder in Streit?“ oder „Warum finde ich immer wieder Dinge, um die ich mich sorge?“ Von den Betrachtungen meines eigenen Geistes her würde ich sagen, es liegt an dieser
Ansicht von definiertem Dasein. Die Menschen kämpfen und beklagen sich oft gewohnheitsmäßig, weil sie sich am lebendigsten fühlen, wenn sie anderen etwas rein drücken können. Sie halten nach Streit Ausschau, nur damit sie den Nervenkitzel
aufrechterhalten können. Wir bringen uns vielleicht ständig in bestimmte Situationen,
weil wir uns da am lebendigsten fühlen.
Hier ein Beispiel, das euch vielleicht vertraut ist: Ihr seid eingebunden in irgendeine Aufgabe und wenn ihr sie schließlich vollendet, gibt es einen Moment der Entspannung. Ihr lasst euch auf´s Sofa fallen und sagt: „Gott sei Dank ist das erledigt!“ Aber nach ein paar Sekunden taucht eine
tiefe Unruhe auf und ihr beginnt nach etwas Neuem zu suchen, das ihr tun könnt oder womit ihr
Jemand neu sein könnt oder nach etwas,
um in Bezug dazu zu existieren. Ihr erkennt dann, dass ihr andere Probleme oder Aufgaben in Angriffe zu nehmen habt – „Genau, ich muss zehn E-mails beantworten“ oder „Ich habe diesen Rechtsstreit mit meinen Nachbarn!“ – und es erscheint ein irgendwie bizarres
Gefühl der Erleichterung. Die „Freuden-Chemikalie“ wird im Gehirn freigesetzt. „Ah! Phantastisch!
Ich habe ein Problem. Ich habe eine andere echte Sache, um die ich mir Sorgen machen
kann – es gibt
ein Ich und eine Sache, die ich angehen kann. Puh!“ Wenn wir genau hinsehen, entdecken wir vielleicht, dass ein
undefiniertes Dasein das ist, was uns Angst einjagt. Wir haben das Gefühl,
etwas sein zu müssen.
Bezüglich des Wunsches nach diesem Gefühl von definiertem Dasein gilt:
je unbefriedigender das Ziel, desto besser. Eine Liebe, die
niemals erwidert werden kann, etwas Zerbrochenes, das
niemals mehr repariert werden kann, ein Ziel, das
immer außer Reichweite ist – das sind Erfahrungen, von denen wir wirklich besessen sein können. Wir empfinden eine perverse
Erleichterung darin, weil wir so garantiert
immer ein unerreichbares Ziel haben. Dieses Ziel zu haben ist genug,
um uns zu definieren, und wenn es unerreichbar ist, werden wir nie von diesem gähnenden Abgrund des „Na und?“ verraten. Wie Marilyn Monroe in
Blondinen bevorzugt sang, „Wenn du kriegst was du willst, willst du es nicht mehr. / Gäb ich dir den Mond, würde er dich bald langweilen.“
Ich habe es für mich sehr interessant und befreiend gefunden, meine verschiedenen Obsessionen und Ängste zu betrachten. Ich habe enorme Zeit meines Lebens damit verbracht, mir Sorgen zu machen. Ich war ein Weltklasse-Sorgen-Macher. Es war so normal für mich, dass ich es nicht einmal bemerkte,
dass ich es tat. Ich bemerkte erst später, dass besorgt zu sein etwas war, das ich tat, um mich so zu fühlen,
als wäre ich jemand, und
dass ein besorgtes „Ich“ wesentlich erstrebenswerter war als ein undefiniertes „Ich“. Das war eine große Offenbarung.
Untersucht also
euren Geist, das Feld des Erlebens – die Dinge, die ihr fürchtet, die Dinge, die ihr hasst, die Dinge, die ihr liebt und die Dinge, von denen ihr glaubt,
sie zu sein. Prüft euren Geist, um zu sehen, ob das, was ich sage, überhaupt eine Gültigkeit hat oder nicht. Bemerkt den Effekt dieser Untersuchung; was ist der Wert dieser Erforschung? Wie
verändert sie die Art, mit der sich der Geist zu Klängen, Anblicken, Geschmäckern, Ideen, Ängsten, Visionen, Beses-senheiten, unerwiderter Liebe, unverzeihlichen Fehlern
in Beziehung setzt?
Vielleicht gibt es eine besondere Obsession, die für euch wertvoll ist, aber wenn das Festhalten daran nachlässt, wird das Herz stattdessen inspiriert,
sich an dieser undefinierten Qualität zu erfreuen. Mit dieser Entspannung sagt das Herz, „Oh! Was für eine
Erleichterung!“ Lasst diese Veränderung im Herzen zu. Seht, was es für einen Unterschied macht, weil diese Art von Raum gebender Erleichterung sich völlig von der oberflächlichen Befriedigung unterscheidet, die mit dem Anklammern an irgendein definiertes Gefühl von Sein verbunden ist. Es ist die
tiefgründige Erleichterung des Herzens, das frei von Ergreifen ist, frei von der Identifikation mit irgendetwas – natürlich, grenzenlos, selbstlos, hell,
(viññānaṁ anidassanaṁ anantaṁ sabbatopabhaṁ). Ihr werdet vielleicht entdecken, dass in einem Herzen, welches frei von solchen Besessenheiten und
frei von Selbst-Ansicht ist, die Welt deutlich weiter ist.
Zitat aus dem Buch Auf den Geist kommt´s an - Ajahn Amaro - deutsche Übersetzung 2022 -
Quelle: https://amaravati.org/dhamma-books/auf-...kommts-an/
(Kursiv- u. Fettdruck von mir)