ich bin seit längerem ein stiller Mitleser dieses Forums und habe jetzt endlich die Zeit gefunden, mich anzumelden und auch einmal zu schreiben. Ich bin 52 Jahre alt, verheiratet und habe einen 22jährigen Sohn. Ich leide schon seit längerem an einer Generalisierten Angststörung, einer somatoformen Störung (Reizdarm und Reizblase) aufgrund eines komplett durcheinander geratenen vegetativen Nervensystems. Ich habe mich hauptsächlich hier angemeldet, weil ich einmal ein paar Gedankenanstöße und meinen Erfahrungsbericht einbringen möchte, mit Dingen, die mir gut geholfen haben. Vielleicht ist ja für dein ein oder anderen was dabei
Zu meinem "Werdegang":
Ich litt schon als Kind unter einem "Pippiproblem". Egal wo es hin ging, ich musste immer erst schauen, ob es dort eine Toilette gab. In der Grundschule hatte ich immer Angst vor der Busfahrt nach Hause auf Klo zu gehen, da ich Angst hatte, den Bus zu verpassen. Ich war generell von Beginn ein sehr fantasievolles, aber auch sehr ängstliches Kind. Ich hatte Angst vorm allein sein, vorm allein schlafen, Angst entführt zu werden, Angst vor Spinnen
Das Pippiproblem legte sich irgendwann und flammte in verschiedenen Lebensphasen immer mal wieder auf, verschwand dann auch immer wieder. Vor ca. 10 Jahren fing es dann an, dass es mir schleichend immer schlechter ging. Mal Übelkeit, vermehrte Blähungen, immer mal wieder Durchfall bei Aufregung (wobei der Anlass der Aufregung immer "geringer" wurde), ständiger Harndrang wenn ich aus dem Haus ging, damit einhergehend Angst zu reisen, vermehrte Anspannung und Nervosität. Wenn sich das über Jahre schleichend verschlechtert, kann man erst aus der Retrospektive erkennen, wie schlecht es mir damals schon ging.
Irgendwann machte ich dann eine tiefenpsychologische Gesprächstherapie das war zwar interessant, hat auch in einigen Aspekten geholfen, den Kern der Sache traf es aber nicht. Zwei Jahre später hatte ich dann fast permanent Blähungen, vor jedem Popel-Termin Durchfall und erkannte mich selbst nicht mehr mein Körper war mir fremd geworden, nichts funktionierte mehr, das alltägliche Leben kostete mich soviel Energie, dass ich spätestens um 17.00 Uhr auf dem Sofa lag und schlief, ich vertrug immer mehr Lebensmittel nicht mehr, zog mich komplett aus allem zurück, weil mir alles zu anstrengend war.
Im Job bekam ich damals ein weiteres Aufgabengebiet hinzu und das war dann der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich konnte nicht mehr.
Meine Hausärztin bedrängte mich schon länger, es mal mit Antidpresssiva zu versuchen, einen anderen Rat wusste sie sich nicht. Ich bekam dann Escitalopram, nahm 2 Tabletten und brach damit komplett zusammen. Ich war nur noch ein vor Angst zitterndes Bündel, mir war Dauerübel, ich konnte nichts außer Bananen und Wasser bei mir behalten, hatte Dauerdurchfall, konnte nicht mehr schlafen und hatte ein Horror-Gedankenkarussel im Kopf, dass sich nicht abstellen ließ. Und ja, ich hatte auch Selbstmordgedanken. Meine Hausärztin gab mir Tavor und eine Einweisung in die Psychatrie. Dort wollte ich nicht hin (im Nachhinein denke ich, es wäre besser gewesen wäre ich dort hingegangen) und versuchte mich mit Hilfe von so wenig Tavor wie möglich irgendwie zu stabilisieren. Ich habe immer nur eine halbe genommen, wenn ich es gar nicht mehr aushielt und hatte fürchterliche Angst, davon abhängig zu werden. Ich bekam einen Termin bei einem Psychater der schickte mich nach 10 Minuten mit der Diagnose Depression und dem Hinweis, in einem akuten Schub könne er mir jetzt auch nicht helfen, wieder weg.
Die Diagnose "Depression" ist mir dann noch mehrfach begegnet, aber ich habe mich in ihr nie wiedergefunden. Ich wusste einfach, dass es das bei mir nicht trifft. Die Diagnose "Generalsierte Angststörung" habe ich nie offiziell bekommen, aber dort passe ich einfach am besten rein und es ist einfacher, damit anderen Leuten zu erklären, was einem fehlt. Mit Somatoformer Störung kann halt niemand was anfangen.
Nach 5 Wochen hatte ich mich soweit stabilisiert, dass ich wieder arbeiten konnte (mehr schlecht als recht, aber es lenkte mich ab). Ich reichte eine Psychosomatische Reha ein, die sofort mit Dauer 5 Wochen bewilligt wurde. 3 Monate nach meinem Zusammenbruch fuhr ich in die Reha wie ich heute weiß, absolute Zeitverschwendung. Mir ging es einfach noch nicht gut genug dafür, ich war nur mit den komischen Dingen beschäftigt, die mein Körper so machte, und die durch das Heimweh und die permanente Angst dort noch befeuert wurden. Ich zog zwar durch, aber mir ging es hinterher schlechter als vorher. Eine wirkliche Diagnose stellte man auch dort nicht. Ich fing sofort wieder an zu arbeiten das lenkte mich wieder ab.
8 Wochen später ging dann wieder gar nichts mehr und ich bekam im örtlichen Gemeindepsychatrischen Zentrum einen Termin bei einer sehr netten Ärztin, die mir dann letztendlich Mirtazapin verordnete. Aufgrund meiner Erfahrung mit Escitalopram dosierten wir es ganz behutsam auf, was auch funktionierte. Mir ging es dadurch etwas besser, allerdings nahm ich in 8 Wochen 8 Kilo zu, was nicht unbedingt zu meinem Wohlbefinden beitrug.
Ich hatte jetzt zwar eine Krücke laufen konnte ich aber trotzdem noch nicht. Die Durchfälle, Blasendruck und Blägungen nahmen wieder zu, mehr Energie hatte ich auch nicht.
Zeitgleich mit der Eindosierung fing ich eine Verhaltenstherapie an. Die Therapeutin war unheimlich nett und wir verstanden uns gut aber helfen konnte sie mir letztendlich auch nicht. Ich konnte zwar alles kognitiv verstehen, wir redeten und diskutierten, ich probierte verschiedene Tipps und Techniken aus es half alles nichts. Irgendwann war auch sie mit ihrem Latein am Ende, und dann tat sie das, was mein Leben verändern sollte: sie gab mir die Telefonnummer eines Kollegen, mit der sie in einer Klinik zusammengearbeitet hatte und der als Körper-Psychotherapeut arbeitet. Nachteil: Körper-Psychotherapie wird durch die Krankenkasse nicht anerkannt, daher muss man die Stunden selbst bezahlen.
Ich bekam dort einen Termin und fing an zu erzählen. Er hörte sich alles an, beobachtet mich genau und sagte dann einfach nur: Sie haben weder eine Depression noch eine Angststörung. Sie haben eine Somatoforme Störung und ihr komplettes vegetatives Nervensystem ist durchgeknallt. Sie haben komplett verlernt, es herunterzuregeln. Das ist, als wenn Sie Auto fahren, und nur das Gaspedal nutzen. Das geht auch irgendwie, aber mit Bremse ist es deutlich sicherer. Wir üben jetzt zu bremsen, und im Idealfall auch zu kuppeln.
Am Anfang war die Herangehensweise auf der körperlichen Schiene sehr ungewohnt und komisch für mich. Wir haben angefangen mit diversen Atem- und Wahrnehmungsübungen, bei denen er mir zurückgemeldet hat, was mein Körper dabei macht. Die Körpertherapeuten sind extrem gut in der Wahrnehmung der Körpersprache geschult da hat es mir schon das ein oder andere Mal umgehauen, was er alles wahrnehmen kann. Er hat mir auf diese Weise Stück für Stück das Vertrauen in meinen Körper zurückgegeben ich weiß jetzt, dass mein Körper zu 100% das tut, was er soll ich habe ihn bisher nur nicht verstanden. Der Therapeut ist jetzt quasi mein Dolmetscher.
Wir haben dann geschaut was sind die Punkte, die mir in meinem Leben "Druck" machen. Und jetzt kam mir der unglaubliche Glücksfall zugute, dass der Therapeut nicht nur hervorragend in seinem Job ist, sondern dass ich auch zum ersten Mal ein wirkliches Vertrauensverhältnis aufbauen konnte, und bereit war, "Kisten" aus meinem Leben zu öffnen, die ich noch nicht geöffnet hatte.
Lange Rede, kurzer Sinn wer bisher mit den klassischen Therapiemethoden nicht weitergekommen ist, sollte ggf. mal über die Schiene der Körper-Psychotherapie nachdenken. Viele Dinge haben bei mir nicht funktioniert, weil es nicht reicht, etwas kognitiv zu verstehen. Man muss es auch auf der körperlichen Ebene fühlen und verankern.
Vergesst die Denkweise "Die Symptome müssen weggehen, es soll alles so werden wie früher", damit kämpft Ihr gegen Euren Körper und damit einen aussichtslosen Kampf. Der Körper sitzt am längeren Hebel und er ist hartnäckig. Wenn er auf sich aufmerksam machen will, schafft er das.
Ich bin über die Wahrnehmungsübungen zum Thema "Achtsamkeit" gekommen und habe mich viel damit beschäftigt. Es gibt tolle Blogs, Videos, Podcasts und Bücher zu dem Thema. Frei nach dem Motto "Es gibt keine Zufälle, es fällt Dir das zu, was fällig ist" bin ich immer im richtigen Moment auf ein weiteres Video, Podcast etc. gestoßen, der mich dann wieder weiter zu einem neuen Thema gebracht hat, zwangsläufig dann auch zum Thema Selbstliebe. Das ist ein ganz schwieriges Thema bei mir, an dem der Therapeut mit mir arbeitet (ich sage nur "Spiegelübung")
Ein weitere Baustein bei mir war Qi Gong. Es half mir am Anfang sehr dabei, mich auf meinen Körper zu fokussieren und "runter zu kommen". Danach konnte ich meinen Körper gut fühlen und habe dann eine Wahrnehmungs- oder Meditationsübung angeschlossen. Ich hab mich am Anfang durch alles Mögliche von Autogenem Training über Progressive Muskelentspannung bis hin zu Yoga Nidra probiert, da muss man schauen, was einem liegt. Mittlerweile bin ich beim Tanzen zu meiner Lieblingsmusik angekommen Stöpsel in die Ohren, Musik an, Augen zu und das machen, was der Körper möchte, egal wie blöd es aussieht. Ich mache das im verschlossenen Schlafzimmer, damit ich ungestört bin.
Bei mir war auch das Thema "Abgrenzung" ein wichtiger Baustein. In mir herrscht ein unglaublicher Druck, weil ich mich nicht abgrenze und mir auch nicht das Recht dazu eingestehe. Ich setze niemandem einen Widerstand entgegen und schlucke Ärger einfach runter. Ich erlaube mich nicht einmal selber, mich im Stillen zu ärgern oder wütend zu sein. Dieser Druck muss irgendwann mal irgendwo hin. In meinem Fall "drückt" er auf die Blase. Mein Therapeut hat das mit mir mit Hilfe von Standübungen aus dem KungFu geübt eine sehr interessante und lehrreiche Stunde
Ich habe noch einen langen Weg vor mir aber auch schon viel geschafft und ich bin sehr stolz darauf. Meine Schwindelgefühle sind weg, der Durchfall ist zeitweise auch schon verschwunden, ich hatte sogar schon Phasen, in denen ich 2 Stunden spazieren gehen konnte, ohne ständig nach dem nächsten Busch zu schauen. Ich schaffe es noch nicht, meine innere Haltung über einen längeren Zeitraum stabil zu halten, aber es wird so langsam. Ich habe wieder Energie, neue Projekte und Hobbies anzugehen und ich fange wieder an, das Leben zu genießen.
Ich möchte Euch ermutigen, auch mal rechts und links des Weges zu schauen und nicht nur auf die üblichen Therapieangebote zu schauen. Ich finde, man bekommt dort recht schnell eine Therapie "übergestülpt" und wenn dann alles nicht so recht fruchtet, ist man selber schuld weil man es nicht genug will oder sich sperrt oder, oder, oder. vielleicht habt Ihr ja auch einen Körper-Psychotherapeuten bei Euch in der Nähe, und wenn ja, probiert es einfach mal aus!
27.01.2021 16:16 • • 04.04.2024 x 32 #1