Die Euphorie von gestern ist verflogen. Bin heute Nacht aufgewacht und habe wieder mein Herz stolpern gefühlt. Es ist mir gelungen, wieder einzuschlafen, aber heute Morgen läuft der Systemcheck wie gehabt.
Mir ist leicht schwindlig und auch ein wenig übel. Ich bewege mich extrem vorsichtig, um mein Herz nicht zu weiteren Stolperern zu provozieren. Am liebsten würde ich aus diesem Grund auch das Duschen vermeiden, aber dann denke ich, dass ich im Falle eines Herzinfarkts ins Krankenhaus muss und da nicht ungewaschen aufschlagen möchte. Hypochonderhirn, meiniges.
Es ist Samstag, Zeit für das gemeinsame Frühstück mit meinem Mann. Eigentlich ein schöner Moment - wenn ich ihn denn genießen könnte. Als ich endlich geduscht und angezogen in die Küche komme, ist der Frühstückstisch schon gedeckt und eine Tasse duftender Latte Macchiato steht für mich bereit. Ich liebe Latte Macchiato. Und gerade in diesem Augenblick stolpert mein Herz erneut und bringt mich zu der Entscheidung, lieber heute keinen Kaffee zu trinken.
Ich bringe es nicht übers Herz, meinem Mann, der mir grinsend mit seiner Kaffeetasse zuprostet, die Stimmung zu verderben. Ich proste zurück, nippe am Milchschaum. Der Kaffee riecht köstlich, aber in meiner Phantasie wird er zum Auslöser für das Herzversagen und damit zu meinem Feind. Ich habe aber bereits einen Schluck genommen - vielleicht reicht das schon?
Ich fühle, wie die Angst hochkriecht und zwinge mich zur Ruhe: Es war nur ein bisschen Milchschaum, bis zum Kaffee bin ich gar nicht gekommen. Trotzdem bleibt mein Hals wie zugeschnürt. Ich überwinde mich, ein Brötchen - mein Mann hat frische beim Bäcker geholt - zu schmieren und es zu essen. Ich will ihn nicht enttäuschen, er muss eh viel aushalten. Also erwidere ich kauend sein Lächeln.
In mir liegen die Empfindungen im Widerstreit. Da ist dieses unfassbare Glück, einen Mann an meiner Seite zu haben, der mich seit 20 Jahren liebevoll und unterstützend begleitet. In guten und schwierigen, dünnen und dicken Zeiten. Der scheinbar niemals seinen Optimismus verliert und mich immer wieder aus meinen Angstlöchern zieht oder - auch das ist oft hilfreich - mit seinem Pragmatismus die Angstspiralen unterbricht.
Und doch weiß ich, dass er leidet. Unter meiner Angst ebenso, wie unter meinem Gewicht. Als wir zusammenkamen, wog ich 58 Kilo. Er hat mir das nie gesagt, aber ich habe ihn einmal zufällig einem Freund am Telefon erzählen hören, dass er mich liebt, aber sich sehr danach sehnt, wieder die schlanke, unbeschwerte Gefährtin aus früheren Tagen zurückzuhaben.
Oh wie gern hätte ich mich selbst so zurück! Ich habe oft darüber nachgedacht, was ich dafür geben würde, wieder angstfrei und dünn zu sein. In meiner Verzweiflung habe ich mit dem Universum um Lebensjahre geschachert - eigentlich total hirnrissig, wenn man gleichzeitig in jeder Minute des Tages Angst vor dem Sterben hat.
Diätversuche gab es in den letzten Jahren einige. Sie sind allesamt gescheitert. Woran? Ich glaube, der Hauptgrund war, dass Essen für mich zu einem erfolgreichen Mittel geworden ist, mich zu beruhigen und zu trösten. Ich habe oft den ganzen Tag lang nichts gegessen, um dann am Abend den ganzen Stress des Tages von mir abzustreifen, indem ich in mich reingestopft habe, was reinpasste.
Stress. Habe ich wirklich welchen? Mein Job ist manchmal fordernd, aber auf eine Art, die ich mag. Was mir gravierend Stress macht, ist meine Angst. Ich fühle mich an manchen Abenden, als sei eine Dampflok über mich drüber gerollt. Stress ist schlecht fürs Herz. PENG!
Eines ist doch übrig geblieben von gestern: Die Erkenntnis, etwas Entscheidendes verändern zu müssen. Wenn ich will, dass sich etwas bessert, muss ich daran arbeiten. Die Verhaltenstherapie (50 Stunden im vergangenen Jahr) hat mir ein paar Hilfsmittel an die Hand gegeben, sogar die eine oder andere Initialzündung in der Betrachtung von Symptomen geliefert. Mit denen könnte ich weiterarbeiten, glaube ich.
Ich ziehe meine nagelneuen Sportklamotten und meine Laufschuhe an und gehe zum Laufband. Es hockt erwartungsvoll im Wintergarten. Draußen scheint die Sonne, es ist noch nicht sehr kühl. Ich öffne die Tür. Soll ich wirklich Sport machen, wo mein Herz heute schon so rebelliert hat? Ich lausche in mich hinein: Alles scheint gut.
Ich steige aufs Laufband und schalte es an. Ich wähle eine mir normal erscheinende Schrittgeschwindigkeit. Schon die ersten Schritte bringen mich aus dem Gleichgewicht, anscheinend muss man auch das Gehen auf einem Laufband üben. Ich klammere mich an die Haltegriffe und gehe weiter. Gleichzeitig höre ich in mir darauf, was mein Herz macht. Noch gut. Erst 30 Sekunden gegangen, kommt mir länger vor.
Das Tempo ist doch ganz schön flott, ich beginne, schneller zu atmen und reduziere es vorsichtshalber von Stufe 4 (von 30) auf Stufe 3. Besser. Just in dem Augenblick stolpert mein Herz und ich stelle die Füße rechts und links auf den Rand. Angst kocht hoch. Ein Hauch frischer aber milder Luft weht von draußen in mein Gesicht. Das beruhigt mich. Ich horche noch einen Moment auf mein Herz, aber das gibt nun artig wieder Ruhe.
Mutig setze ich die Füße wieder aufs Band und gehe. Wieder 30 Sekunden. Dann nochmal 30. Ich versuche, möglichst ruhig zu atmen. Das ist keine gute Idee, denn die ungewohnte Bewegung verlangt nach mehr Luft. Dann plötzlich beginnt mein Herz deutlich schneller zu schlagen. Ich spüre den Herzschlag sowohl in der Brust als auch in der Halsschlagader und springe vom Band.
Schluss! Aus! Zu gefährlich! Mein Herz kann mit dieser Belastung ganz offensichtlich nicht umgehen. Ich beginne zu schwitzen. Kommt jetzt der Infarkt? Ich gehe nach draußen, atme tief ein und aus. Ruf den Notarzt! hämmert es in meinem Hirn. Noch kannst du es!
Ich tue es nicht, keine Ahnung warum. Vielleicht, weil ich Augenblicke wie diesen schon oft erlebt habe. Momente, in denen ich mit absoluter Sicherheit wusste, dass ich JETZT WIRKLICH einen Herzinfarkt hatte. Nicht selten habe ich tatsächlich den Notarzt gerufen oder bin ins KH gefahren.
Dass man bei allen Untersuchungen nie etwas Bedrohliches gefunden hat, könnte die Erklärung dafür sein, dass ich erstaunlicherweise noch lebe. Anscheinend ist etwas von dieser Erkenntnis gerade in mein Unterbewusstsein getröpfelt. Ich sterbe auch diesmal nicht. Aber für heute ist genug mit Sport.
Zwei Stunden später stehe ich wieder vor dem Band. Diesmal habe ich nur die Laufschuhe angezogen und auf die Sportklamotten verzichtet. Niederschwellige Herangehensweise nennt man das wohl. Ich wähle von Anfang an Stufe 2, man lernt ja aus der Erfahrung. Mein Ziel sind 2 Minuten. Ich möchte 2 Minuten auf diesem Band gehen, ohne der Angst nachzugeben.
Mit schwitzenden Händen drücke ich den Startknopf. Mein Herz klopft schneller - natürlich. Täte ich an seiner Stelle auch bei meiner Aufregung. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie elend lang 30 Sekunden sein können. Noch nicht mal in der Warteschleife irgendeines Callcenters.
Es dauert eine Minute vierzig, bis das Herz wieder stolpert. Angst flutet hoch. Geh weiter, du fette Kuh! treibe ich mich an. Ich scheine mich nicht besonders gut leiden zu können, fällt mir auf. Der Gedanke lenkt mich tatsächlich kurz von meiner Angst ab. Und da sind die 2 Minuten um. Ich haue auf den Ausknopf, das Band bremst und bleibt stehen. Lang braucht es dazu nicht bei dem Ursprungstempo.
Ich schwitze und atme und atme und schwitze. Gehe an die frische Luft - schön vorsichtig, um nicht doch noch mein Herz zu überlasten. Das klappt. Ich überlebe diesmal ohne weitere Komplikationen.
Ich bin megastolz: Ich habe das Ganze heute noch 2x geschafft. Ohne Herzstolpern. Beim letzten Mal sogar ohne Schweißausbruch. Yes!