App im Playstore
Pfeil rechts
834

Ich habe mich dazu entschlossen, mein Tagebuch, das ich während meines Kampfs gegen meine Angststörung geschrieben habe, hier zu veröffentlichen. Vielleicht kann mein Weg für den/die eine/n oder andere/n hilfreich sein, Mut machen oder Inspiration bieten.

Es ist weder Ratgeber noch Anleitung. Es beansprucht nicht für sich, Lösungen zu bieten - einfache schon gar nicht. Es beschreibt meine ganz persönliche Auseinandersetzung, meinen Weg, der für mich funktioniert hat.

Zu mir: Calima, aktuell 60 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder, drei Enkelkinder. Ich bin Tierärztin und Lehrerin. Als Tierärztin habe ich ziemlich genau 15 Jahre in eigener Praxis gearbeitet, bis meine Tierhaarallergie sich immer problematischer entwickelte und mich letztlich den Entschluss fassen ließ, meinen Beruf aufzugeben. Ich besuchte mit 42 Jahren erneut die Uni und studierte Lehramt (Biologie, Deutsch für Gymnasien). Seither arbeite ich als (angestellte) Lehrerin in diversen Schularten.

Bis zu meinem 52. Lebensjahr lebte ich angstfrei. Ich war mein ganzes Leben lang immer eher Draufgängerin und habe viele verrückte, abenteuerliche Dinge getan, die durchaus nicht immer ungefährlich waren.

Das schließt den Konsum von Substanzen nicht ein. Ich war hin und wieder ein Adrenalinjunkie und habe 5 Jahre lang recht viel geraucht, aber Alk., Medikamente und illegale Dro.gen waren nie Thema. Ich wollte das Leben spüren, nicht mir das Hirn vernebeln.

Wie meine Angststörung entstand, weiß ich nicht. Es gibt Erklärungsideen, die ich aber nie weiter verfolgt habe, da sie ohnehin zu nichts geführt hätten. Manchmal ist es wichtig, Ursachen zu kennen und zu verstehen, nach meiner Beobachtung birgt das aber auch die Gefahr, sich damit selbst die Generalabsolution dafür zu erteilen, dass man nichts verändern kann, weil man ja armes Opfer der bösen Umstände ist.

Damit bin ich bei einer Warnung: Zu meinem Weg gehört(e) eine teilweise recht gnadenlose Auseinandersetzung mit mir selbst, meinen Fehlern, Schwächen, Unzulänglichkeiten. Das mag den Eindruck erwecken, dass ich manche angsttypischen Verhaltensweisen generell als schwach, dumm, bequem. beurteile und damit Menschen, die sie zeigen verurteile.

Dem ist nicht so. Es geht hierbei immer nur um mich persönlich. Ich maße mir nicht an, das Verhalten anderer Menschen in meine Bewertung einzuordnen, auch wenn sich Verhaltensweisen und -muster manchmal gleichen mögen. Jede/r hat seine eigenen Geister, und dieses Tagebuch beschreibt ausschließlich den Umgang mit den meinen.

Kommentare, Fragen, Gedanken von Lesern sind willkommen.

Ich werde das Tagebuch in der Form hier einstellen, wie es auch entstanden ist: Meist tageweise, manchmal auch als Zusammenfassung mehrerer Tage.

28.03.2020 17:03 • 09.10.2024 x 35 #1


109 Antworten ↓


Die Vorgeschichte

Ich bin 52 Jahre alt, glücklich verheiratet, mit gutem Job, der mein Auskommen sichert und mich begeistert und einer überschaubaren, positiv miteinander verbundenen Familie. Mein Mann und ich leben in einem kleinen, eigenen Haus stadtnah im Grünen. Mein Tierhaarallergie hat sich soweit gebessert, dass wir zwei große Hirtenhunde haben können.

Soweit die guten Nachrichten. Die schlechten: Ich wiege 110 Kilo auf 168cm, Übergewicht, das ich mir in den vergangenen 8 Jahren angefuttert habe. Vorher war ich schlank, aktiv und in viele soziale Aktivitäten eingebunden. Jetzt verbringe ich sehr viel Zeit zuhause. Ich gehe arbeiten und einkaufen, verreise 2-3x im Jahr mit meinem Mann, bevorzuge aber ansonsten den Aufenthalt daheim.

Wenn wir uns mit Freunden treffen, dann ist das immer mit Essen verbunden: Grillen, Essen gehen, gemeinsam kochen. Ich lese gerne und viel. Ich esse gerne und viel und ungesund. Fast Food und Süßigkeiten machen den Großteil meiner Ernährung aus.

Mein Blutdruck ist behandlungsbedürftig erhöht (160/90) und medikamentös eingestellt, zudem nehme ich Betablocker gegen zu hohen Puls (95-100 in Ruhe). Meine Blutfett- und Blutzuckerwerte sind im Grenzbereich. Ich habe Schuppenflechte mit mäßiger Symptomatik und eine (inzwischen gut eingestellte) Hashimoto-Thyreoititis.

An einem Frühlingstag gehe ich spazieren - nur ein wenig, denn Bewegung fällt mir schwer und macht wegen des Übergewichts Mühe. Meine Stimmung ist gut. Schlagartig überfällt mich ein komisches Gefühl. Ich habe von einem Moment auf den anderen das Gefühl, neben mir zu stehen. Umweltgeräusche verblassen, verzerren sich. Ich beginne zu zittern, mein Herz rast. Ich befinde mich nur etwa 100 Meter von meinem Haus weg, verliere aber irgendwie die Orientierung.

Ich drehe mich um die eigene Achse, um herauszufinden, wo ich bin und wohin ich mich wenden muss, um nach Hause zu kommen. Eine Gruppe Kinder, die irgendein Spiel spielt, tobt an mir vorbei, ein Kind (ein Junge?) fragt mich etwas. Ich verstehe die Frage nicht. Was zum Teufel will er von mir?

Mein Herz schlägt bis zum Hals. ich habe endlich erkannt, wo das Haus ist und stolpere in seine Richtung. Mein Körper zittert wie verrückt. Habe ich einen Herzinfarkt? Müsste ich da nicht Schmerzen haben? Habe ich Schmerzen? Ich versuche, einen Schmerz zu orten, finde keinen. Nur Zittern und Herzrasen. Und noch immer das seltsame Gefühl, neben mir zu stehen.

Ich versuche, mich zu beruhigen. Setze mich hin und springe nach wenigen Sekunden wieder auf: Sitzen geht gar nicht, mein Körper treibt mich hoch, vorwärts. Ich gehe im Garten auf und ab, beginne die Schritte zu zählen, um ruhiger zu werden. Klappt nicht. Ich sehe mir irgendwie von außen zu. Schließlich gehe ich zu meinem Mann, der gerade den Grill anfeuert.

Hilf mir, ich glaub' ich werde grad verrückt. Er schaut hoch, fragt, was los ist. Ich versuche zu erklären, zittere, stottere. Er beschließt, mich zum Arzt zu bringen. Ein Bekannter ist Psychiater, wir dürfen sofort kommen.

Die Fahrt dorthin, das Gespräch mit dem Arzt liegen im Nebel. Ich erinnere mich nur, dass ich mich darüber aufrege, dass er meinen Mann fragt Hat sie das öfter? während ich daneben sitze. Er spritzt mir etwas mit dem Kommentar, dass das nun 10 Tage wirken würde. Wenn der Zustand wiederkäme, solle ich mal über eine Therapie nachdenken.

Das Mittel - IMAP, wie ich später erfahre - wirkt. In mir wird es ruhig. Ein wunderbarer Zustand von Gelassenheit macht sich breit. Das Gefühl begleitet mich tatsächlich über gut eine Woche und flacht dann allmählich ab. Schade irgendwie.

Der Zustand kommt nicht wieder. Nicht nach dem Abklingen des Medikaments und auch später nie mehr. Dafür meldet sich sich mein Herz immer öfter: Es stolpert, setzt aus, rast.

Ich sorge mich. Und aus dieser Sorge entwickelt sich eine handfeste Hypochondrie, die mich nur wenige Monate später voll im Griff hat. Zunächst ist es nur das Herz. In den folgenden Monaten beginne ich zu sterben: An Herzversagen. An Schlaganfall. An Gehirntumoren. An Krebs in allen Varianten: Leukämie, Brustkrebs, Gebärmutterkrebs, Magenkrebs. Etwa ein Jahr später erweitern sich meine Todesursachen auf MS, ALS und Parkinson. Außerdem drohe ich zu erblinden, wenn mich vorher nicht doch Herzversagen hinwegrafft.

Nach zwei Jahren bin ich ein psychisches und (gefühlt) physisches Wrack. Gut geht es mir meist nur noch in den ersten Sekunden nach dem Aufwachen. Dann beginnt mein Systemcheck, mit dem ich abfrage, ob sich alles an und in meinem Körper normal anfühlt. Tut es nie. Heute schlägt das Herz zu schnell, morgen schmerzt der Kopf, übermorgen zucken die Muskeln an meinen Waden. Guten Morgen, Angst.

Einigermaßen zurecht komme ich damit während der Arbeit. Solange ich vor der Klasse stehe, bin ich ausreichend abgelenkt. Meistens zumindest. Manchmal muss ich mich am Pult anlehnen, weil mir schwindelig wird, manchmal rauscht das Blut besonders laut in meinen Ohren. Trotzdem sind das die besten Zeiten des Tages.

Zunehmend schwierig wird auch das Autofahren. Ich fürchte mich vor Thrombosen, Herzinfarkt, Schlaganfall. Kurze Strecken sind okay, ab 10 Kilometern wird es kritisch. Längere Strecken fährt zunehmend mein Mann. Ich sterbe derweil auf dem Beifahrersitz vor mich hin.

Die Arztbesuche werden zur alternativen Freizeitgestaltung. Kaum eine Woche vergeht, in der ich nicht bei irgendeinem Arzt aufschlage. Die Beruhigung, die mir das vermittelt, hat immer kürzere Halbwertzeiten. Ich misstraue zunehmend den Diagnosen.

Das geht bis kurz vor meinen 57. Geburtstag. Ich sitze - einmal mehr - angstvoll in mich hinein horchend in meinem Deckchair auf der Terrasse. Plötzlich setzt mein Herzschlag mehrmals hintereinander aus. Ich schnappe nach Luft, will schreien, kann nicht.

Und da ist auf einmal der Gedanke: Okay, Tod. Wenn du mich haben willst, hol mich jetzt. Ich kann nicht mehr. Im nächsten Moment atme ich tief ein und aus und bin ganz ruhig. Keine Angst mehr. Das erste Mal nach fast 5 Jahren. Ich weine vor Glück und Erleichterung. Und ich fasse den Entschluss, mein Leben zu ändern.

Ich will schlank werden, fit und gesund. Will die Risikofaktoren, die ich mit mir rumschleppe, loswerden. Vor allem aber will ich endlich wieder leben.

A


Mein erfolgreicher Weg aus der Hypochondrie

x 3


Diese völlige angstfreie Klarheit, die ich in jenem Moment empfunden habe, hält zunächst tatsächlich an. Ab hier beginnen die eigentlichen Tagebucheinträge. Es ist Oktober 2016.

Heute war ich bereit zu sterben. Nein, ich wollte mich nicht umbringen. Das wollte ich nie. Okay, nie stimmt nicht ganz: Als ich mit 14 eine Abfuhr von einem lange angehimmelten Schwarm erhielt, beschloss ich, zu sterben. Ich malte mir tagelang aus, wie er voller Trauer und Selbstvorwürfen an meinem Grab stand und sich dafür verfluchte, dieses wunderbare, einzigartige Mädchen zurückgewiesen zu haben. Nun würde er auf ewig mit dieser Schuld leben müssen und nie wieder ein Mädchen treffen, das auch nur annähernd so wundervoll war.

Nach etwa einer Woche war ich dann damit durch.

Wenn das mit dieser bescheuerten Angst nur auch so funktionieren würde! Wer weiß, vielleicht hat der Moment, an dem ich mich ergeben habe, ja tatsächlich bewirkt, dass die Angst verschwindet. Immerhin bin ich jetzt seit 5 Stunden völlig angstfrei. Diesen Zustand hatte ich seit 5 Jahren nicht.

Ich habe jedenfalls Nägel mit Köpfen gemacht und ein gebrauchtes Laufband gekauft. Ich wusste, dass eine Bekannte ihres nicht mehr nutzt und habe es tatsächlich sehr günstig gekriegt. Vorhin haben wir es abgeholt und im Wintergarten aufgebaut. Ich kann bei schönem Wetter neben der offenen Tür trainieren und habe so frische Luft. Zudem schaue ich ins Grüne.

Ein Fitnessstudio kommt nicht in Frage. Ich habe keine Lust, mich alt, fett und unsportlich mit all den schlanken, trainierten Frauen vergleichen zu müssen. Ich hasse meinen Körper schon so genug. Vielleicht ein guter Moment, mir zu überlegen, was ich alles tun kann, wenn ich wieder schlank und angstfrei bin:

1. Mich nicht mehr schämen, wenn ich Leute von früher treffe, die mich schlank kennen.

2. Mich nicht mehr schämen, wenn ich in der Stadt ein Eis esse, weil niemand mehr auf die Fette glotzt, die lieber auf das Eis verzichten sollte.

3. Keine Angst mehr haben, in einem Stuhl im Straßencafé klemmen zu bleiben.

4. Schöne Klamotten tragen, die ich in jedem Laden kaufen kann und nicht mehr in der Zeltabteilung shoppen gehen müssen.

5. All die Sachen machen, die ich früher gerne gemacht habe: Reiten, Klettern, Kajak fahren, Tauchen, Bergsteigen. Ohne dass mir die Puste ausgeht. Ohne mir Gedanken machen zu müssen, dem Pferd zu viel zuzumuten. Ohne Sorge, gar nicht erst ins Kajak oder in den Neoprenanzug zu passen. Und vor allem: Ohne bei jedem Schritt zu befürchten, dass ich sterbe, weil mein Herz versagt und ohne die meiste Zeit des Tages angstvoll in mich hineinzuhorchen.

Da fällt mir grade auf: Ich habe anscheinend neben meiner Hypochondrie auch gewisse Anzeichen für eine soziale Phobie. Zumindest macht mir die Bewertung durch andere was aus.

Hm. Muss nachdenken.

10 Minuten später: Habe nachgedacht. Und festgestellt, dass sich diese Scham und die Angst vor der Bewertung ausschließlich auf mein Übergewicht bezieht. Ich kann frei vor anderen sprechen, genieße es, zu unterrichten und Vorträge zu halten. Ich weiß, dass ich andere mit meiner Art zu sprechen fesseln kann.

Ich mag Menschen, sie interessieren mich. Ich kann mit ihnen lachen, streiten, mich versöhnen. Meine Freunde sind mir wichtig.

Und wieder eine AHA - oder eher ein OHA? Mir wird grade bewusst, dass ich mich bevorzugt mit den Freunden treffe, für die Essen auch eine große Rolle spielt und die ebenfalls nicht idealgewichtig sind. Auch meine schlanken sportlichen Freunde essen gerne - zumindest die meisten - aber in deren Gegenwart kann ich Essen nicht wirklich genießen. Die sind dünn und ich bin fett.

Ob sie das auch so wahrnehmen? Vielleicht. Wahrscheinlich sogar. Aber ich glaube nicht, dass es für wichtig ist. Sie mögen mich trotzdem.

Warum ist es für mich wichtig? Woher kommt diese Scham? Die Freunde sind unschuldig. Ich kann mich an keine Bemerkung, keinen blöden Blick, kein Irgendwas in dieser Richtung erinnern. Bei Leuten auf der Straße ist das anders. Und auch definitiv nicht eingebildet. Im Cafè haben Leute am Nachbartisch applaudiert, als mir beim Aufstehen der Stuhl am Hintern hing. Und auch Bemerkungen habe ich mir nicht eingebildet. Sie haben sich in mein Gedächtnis gebrannt.

Und in meinem Job? Auf den ersten Blick alles gut. Die meisten Kollegen sind freundlich und wohlwollend. Manche sind doof, aber das hat nichts mit meinem Übergewicht zu tun. Die sind ganz von alleine doof. Mein Chef ist eigentlich ein Netter. Aber: Ich habe in Folge zwei Mal eine von mir begehrte Funktionsstelle nicht bekommen, obwohl ich seiner eigenen Aussage und meiner Einschätzung nach die qualifizierteste Kandidatin war. Sein Argument auf meine Nachfrage nach einigem Zögern: Ich hatte Sorge, dass du der Belastung nicht standhältst.

Grmpf. Ich war - trotz meiner Angststörung - in den vergangenen 5 Jahren genau zwei Mal krank. Einmal wegen einer Influenza und ein zweites Mal wegen einer Magen-Darm-Infektion. Keine weiteren Fehlzeiten, auch nicht tageweise. Mein Übergewicht? Oder bin ich halt doch nicht so qualifiziert, wie ich dachte. Blödsinn! Das bin ich.

Fakt ist: Ich gehe VIEL seltener außer Haus als früher. Ins Theater ja. Zum Essen ja. Um Freunde zu besuchen ja. Zum Bummeln, auf Rockkonzerte, auf Straßenfeste oder gar zum Tanzen: NEIN.

Soziale Phobie oder nicht? Ich glaube, nein. Oder vielleicht Jein. Mal sehen, wie das wird, wenn ich wieder schlank bin.

Jetzt gehe ich Laufschuhe und Sportklamotten kaufen. Morgen geht's los!

Die Euphorie von gestern ist verflogen. Bin heute Nacht aufgewacht und habe wieder mein Herz stolpern gefühlt. Es ist mir gelungen, wieder einzuschlafen, aber heute Morgen läuft der Systemcheck wie gehabt.

Mir ist leicht schwindlig und auch ein wenig übel. Ich bewege mich extrem vorsichtig, um mein Herz nicht zu weiteren Stolperern zu provozieren. Am liebsten würde ich aus diesem Grund auch das Duschen vermeiden, aber dann denke ich, dass ich im Falle eines Herzinfarkts ins Krankenhaus muss und da nicht ungewaschen aufschlagen möchte. Hypochonderhirn, meiniges.

Es ist Samstag, Zeit für das gemeinsame Frühstück mit meinem Mann. Eigentlich ein schöner Moment - wenn ich ihn denn genießen könnte. Als ich endlich geduscht und angezogen in die Küche komme, ist der Frühstückstisch schon gedeckt und eine Tasse duftender Latte Macchiato steht für mich bereit. Ich liebe Latte Macchiato. Und gerade in diesem Augenblick stolpert mein Herz erneut und bringt mich zu der Entscheidung, lieber heute keinen Kaffee zu trinken.

Ich bringe es nicht übers Herz, meinem Mann, der mir grinsend mit seiner Kaffeetasse zuprostet, die Stimmung zu verderben. Ich proste zurück, nippe am Milchschaum. Der Kaffee riecht köstlich, aber in meiner Phantasie wird er zum Auslöser für das Herzversagen und damit zu meinem Feind. Ich habe aber bereits einen Schluck genommen - vielleicht reicht das schon?

Ich fühle, wie die Angst hochkriecht und zwinge mich zur Ruhe: Es war nur ein bisschen Milchschaum, bis zum Kaffee bin ich gar nicht gekommen. Trotzdem bleibt mein Hals wie zugeschnürt. Ich überwinde mich, ein Brötchen - mein Mann hat frische beim Bäcker geholt - zu schmieren und es zu essen. Ich will ihn nicht enttäuschen, er muss eh viel aushalten. Also erwidere ich kauend sein Lächeln.

In mir liegen die Empfindungen im Widerstreit. Da ist dieses unfassbare Glück, einen Mann an meiner Seite zu haben, der mich seit 20 Jahren liebevoll und unterstützend begleitet. In guten und schwierigen, dünnen und dicken Zeiten. Der scheinbar niemals seinen Optimismus verliert und mich immer wieder aus meinen Angstlöchern zieht oder - auch das ist oft hilfreich - mit seinem Pragmatismus die Angstspiralen unterbricht.

Und doch weiß ich, dass er leidet. Unter meiner Angst ebenso, wie unter meinem Gewicht. Als wir zusammenkamen, wog ich 58 Kilo. Er hat mir das nie gesagt, aber ich habe ihn einmal zufällig einem Freund am Telefon erzählen hören, dass er mich liebt, aber sich sehr danach sehnt, wieder die schlanke, unbeschwerte Gefährtin aus früheren Tagen zurückzuhaben.

Oh wie gern hätte ich mich selbst so zurück! Ich habe oft darüber nachgedacht, was ich dafür geben würde, wieder angstfrei und dünn zu sein. In meiner Verzweiflung habe ich mit dem Universum um Lebensjahre geschachert - eigentlich total hirnrissig, wenn man gleichzeitig in jeder Minute des Tages Angst vor dem Sterben hat.

Diätversuche gab es in den letzten Jahren einige. Sie sind allesamt gescheitert. Woran? Ich glaube, der Hauptgrund war, dass Essen für mich zu einem erfolgreichen Mittel geworden ist, mich zu beruhigen und zu trösten. Ich habe oft den ganzen Tag lang nichts gegessen, um dann am Abend den ganzen Stress des Tages von mir abzustreifen, indem ich in mich reingestopft habe, was reinpasste.

Stress. Habe ich wirklich welchen? Mein Job ist manchmal fordernd, aber auf eine Art, die ich mag. Was mir gravierend Stress macht, ist meine Angst. Ich fühle mich an manchen Abenden, als sei eine Dampflok über mich drüber gerollt. Stress ist schlecht fürs Herz. PENG!

Eines ist doch übrig geblieben von gestern: Die Erkenntnis, etwas Entscheidendes verändern zu müssen. Wenn ich will, dass sich etwas bessert, muss ich daran arbeiten. Die Verhaltenstherapie (50 Stunden im vergangenen Jahr) hat mir ein paar Hilfsmittel an die Hand gegeben, sogar die eine oder andere Initialzündung in der Betrachtung von Symptomen geliefert. Mit denen könnte ich weiterarbeiten, glaube ich.

Ich ziehe meine nagelneuen Sportklamotten und meine Laufschuhe an und gehe zum Laufband. Es hockt erwartungsvoll im Wintergarten. Draußen scheint die Sonne, es ist noch nicht sehr kühl. Ich öffne die Tür. Soll ich wirklich Sport machen, wo mein Herz heute schon so rebelliert hat? Ich lausche in mich hinein: Alles scheint gut.

Ich steige aufs Laufband und schalte es an. Ich wähle eine mir normal erscheinende Schrittgeschwindigkeit. Schon die ersten Schritte bringen mich aus dem Gleichgewicht, anscheinend muss man auch das Gehen auf einem Laufband üben. Ich klammere mich an die Haltegriffe und gehe weiter. Gleichzeitig höre ich in mir darauf, was mein Herz macht. Noch gut. Erst 30 Sekunden gegangen, kommt mir länger vor.

Das Tempo ist doch ganz schön flott, ich beginne, schneller zu atmen und reduziere es vorsichtshalber von Stufe 4 (von 30) auf Stufe 3. Besser. Just in dem Augenblick stolpert mein Herz und ich stelle die Füße rechts und links auf den Rand. Angst kocht hoch. Ein Hauch frischer aber milder Luft weht von draußen in mein Gesicht. Das beruhigt mich. Ich horche noch einen Moment auf mein Herz, aber das gibt nun artig wieder Ruhe.

Mutig setze ich die Füße wieder aufs Band und gehe. Wieder 30 Sekunden. Dann nochmal 30. Ich versuche, möglichst ruhig zu atmen. Das ist keine gute Idee, denn die ungewohnte Bewegung verlangt nach mehr Luft. Dann plötzlich beginnt mein Herz deutlich schneller zu schlagen. Ich spüre den Herzschlag sowohl in der Brust als auch in der Halsschlagader und springe vom Band.

Schluss! Aus! Zu gefährlich! Mein Herz kann mit dieser Belastung ganz offensichtlich nicht umgehen. Ich beginne zu schwitzen. Kommt jetzt der Infarkt? Ich gehe nach draußen, atme tief ein und aus. Ruf den Notarzt! hämmert es in meinem Hirn. Noch kannst du es!

Ich tue es nicht, keine Ahnung warum. Vielleicht, weil ich Augenblicke wie diesen schon oft erlebt habe. Momente, in denen ich mit absoluter Sicherheit wusste, dass ich JETZT WIRKLICH einen Herzinfarkt hatte. Nicht selten habe ich tatsächlich den Notarzt gerufen oder bin ins KH gefahren.

Dass man bei allen Untersuchungen nie etwas Bedrohliches gefunden hat, könnte die Erklärung dafür sein, dass ich erstaunlicherweise noch lebe. Anscheinend ist etwas von dieser Erkenntnis gerade in mein Unterbewusstsein getröpfelt. Ich sterbe auch diesmal nicht. Aber für heute ist genug mit Sport.

Zwei Stunden später stehe ich wieder vor dem Band. Diesmal habe ich nur die Laufschuhe angezogen und auf die Sportklamotten verzichtet. Niederschwellige Herangehensweise nennt man das wohl. Ich wähle von Anfang an Stufe 2, man lernt ja aus der Erfahrung. Mein Ziel sind 2 Minuten. Ich möchte 2 Minuten auf diesem Band gehen, ohne der Angst nachzugeben.

Mit schwitzenden Händen drücke ich den Startknopf. Mein Herz klopft schneller - natürlich. Täte ich an seiner Stelle auch bei meiner Aufregung. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie elend lang 30 Sekunden sein können. Noch nicht mal in der Warteschleife irgendeines Callcenters.

Es dauert eine Minute vierzig, bis das Herz wieder stolpert. Angst flutet hoch. Geh weiter, du fette Kuh! treibe ich mich an. Ich scheine mich nicht besonders gut leiden zu können, fällt mir auf. Der Gedanke lenkt mich tatsächlich kurz von meiner Angst ab. Und da sind die 2 Minuten um. Ich haue auf den Ausknopf, das Band bremst und bleibt stehen. Lang braucht es dazu nicht bei dem Ursprungstempo.

Ich schwitze und atme und atme und schwitze. Gehe an die frische Luft - schön vorsichtig, um nicht doch noch mein Herz zu überlasten. Das klappt. Ich überlebe diesmal ohne weitere Komplikationen.

Ich bin megastolz: Ich habe das Ganze heute noch 2x geschafft. Ohne Herzstolpern. Beim letzten Mal sogar ohne Schweißausbruch. Yes!

Finde dich köstlich. Weiter so.

Ich muss dringend über meine Ernährung nachdenken. Gestern Abend gab' mal wieder den Süßigkeiten-Overkill. Wobei: Nachdenken kann ich eigentlich ziemlich gut. So ist mir längst klar, wie sich die Mechanismen von Angst, Stress und Essen miteinander verzahnen.

Das Problem liegt eher darin, meinen kristallklaren geistigen Erkenntnissen auch praktische Umsetzungen folgen zu lassen. Im Moment läuft das eher nach dem Prinzip Der Geist ist Willi, aber das Fleisch heißt anders oder so ähnlich. Ich probier's mal mit einer Faktensammlung, vielleicht bringt mich das weiter.

1. Ich bin fett. Nicht übergewichtig, nicht dick, sondern FETT. Mein BMI liegt bei 39 und damit im morbid adipösen Bereich. Morbid adipös klingt irgendwie gar nicht nett. Eher so, als würde mir der Tod schon zuwinken. Bääh.

2. Ich bin faul und bequem. Bewegung strengt mich an, weswegen ich sie meide. Weil ich sie meide, strengt sie mich immer mehr an.

3. Ich habe eine S.cheißangst davor, mich zu bewegen. Wenn ich das tue, spüre ich mein Herz noch mehr als in Ruhe. Und weil ich weiß, dass ich MORBID ADIPÖS bin, kriege ich dann noch mehr Angst vor einem plötzlichen Herztod.

4. Wenn ich mich bewegen muss, z.B. weil ich arbeite, sterbe ich überraschenderweise nicht, obwohl ich mich bewege und sogar so waghalsige Dinge tue, wie die Treppen im Schulhaus steigen. Okay, es sind meist nur 15 am Stück. Und okay, ich bemühe mich um einen möglichst kräfteschonenden Aufstieg. Dabei krame ich immer in meiner Tasche rum, damit alle denken, ich würde nur deswegen so langsam gehen. Ob mir das tatsächlich jemand abnimmt? Ich hoffe es. Das Gefühl ist auch so schon doof genug. Außerdem atme ich immer möglichst flach und halte manchmal sogar die Luft an, damit keiner merkt, wie sehr ich eigentlich außer Puste bin. Hey, wen will ich eigentlich beschummeln?

5. Nichts tun ist Gift für meine Krankheitsdenke. Wenn ich Zeit habe, in mich reinzuhorchen, macht nicht nur das Herzchen Bockmist. Es kriegt ratzfatz Gesellschaft von Schwindel, Druck im Brustkorb, Atemproblemen, Sehstörungen. Ziemliche Geisterparty also.

Was schließen wir daraus? Ich muss irgendwie diesen circulus vitiosus unterbrochen kriegen, wenn ich da raus will.

Menno, warum ist das bloß so elend schwer? Ich bin oft so neidisch auf meine Studis und Kollegen und überhaupt auf alle, die einfach fröhlich, schlank und angstfrei vor sich hinleben. Ich konnte das ja auch mal, warum, zum Teufel, gelingt mir das jetzt nicht mehr?

Schschschtoppppppp: Was hab' ich der Therapie gelernt? Selbstmitleid ist keine gute Idee. Selbstmitleid sorgt dafür, dass ich die Verantwortung wegschiebe und damit verhindere, dass ich mein Schicksal aktiv beeinflusse. Ich will mir auch gar nicht leid tun. Ich will doch nur, dass es wieder gut wird!

Und schon wieder hör' ich meine Therapeutin: Wollen ist die unfähige Schwester von Tun. Wenn Sie etwas anders haben möchten, müssen Sie etwas verändern. Nur wollen, dass es sich verändert, bewirkt gar nichts.

Hat sie recht, wie ich finde. Nur: Wie stell' ich's an? Ich brauche einen Plan. Vielleicht sogar zwei Pläne: Einen für's Essen, einen für die Bewegung. Ist Planen eigentlich auch Wollen? Schon irgendwie.

Memo an mich: Muss aufpassen, dass ich nicht im Planen hängenbleibe.

Ich habe den Entschluss gefasst, ab sofort jeden Morgen als Erstes aufs Laufband zu gehen. Ich will dem Tag nicht die Gelegenheit geben, mich krank genug zu denken, dass ich mich gar nicht mehr bewegen traue.

Heißt: Ich muss entsprechend früher aufstehen, wenn ich um 7.30 Uhr in der Schule sein muss. Gestern Abend hielt ich das noch für eine prima Idee. Heute Morgen, als der Wecker mich um 5.30 Uhr aus dem Schlaf holt, stelle ich ernüchtert fest, dass es draußen stockfinster ist. Naja. Ziemlich finster.

Mein warmes Bettchen entwickelt schlagartig eine ungeheuere Anziehungskraft. Ich setze mich dennoch entschlossen auf. Mein Herz stolpert und beginnt eine Salve loszulassen. Mir wird sofort heiß vor Angst. Die meisten Herzinfarkte passieren in den Morgenstunden.

Ich lege mich wieder hin, aber das Geklopfe wird nicht besser. Außerdem muss ich pinkeln. Na prima. Ich stehe auf, klettere die Treppe hinunter, wanke ins Bad. Im Dunkeln. Das beruhigt mich irgendwie. Ich lebe noch, als ich im Bad ankomme, das gibt Hoffnung.

Während ich auf dem Klo sitze, diskutiere ich mit mir, ob ich schnellstmöglich wieder zurück ins Bett flüchten oder meinen Plan von gestern umsetzen soll. Die Diskussion dauert ein wenig und von oben fragt ein verschlafener Liebster, ob ich beim Pinkeln eingeschlafen bin. Nein, ich geh' gleich auf's Laufband! höre ich jemanden sagen. Manchmal kann ich echt bescheuert sein.

Hä? Ernsthaft? War ich das? Hat mein Herz mir nicht eben deutlich signalisiert, dass ich mich besser nicht anstrengen sollte? Ich lausche in mich hinein. Alles normal im Moment. Als ich mich erhebe, zieht ein leichter Schmerz durch meine Brust. Verdammt, warum kann der Mist nicht mal wegbleiben! Ich schiebe den Schmerz auf die Wirbelsäule und die gebeugte Sitzhaltung und ziehe mein Schlafshirt aus.

Führen andere Menschen eigentlich auch ständig so dämliche Gespräche mit sich selber? Es ist 20 vor 6 in der Früh und ich stehe nackig im Bad versuche mich davon zu überzeugen, dass ich auch heute nicht an einem Herzinfarkt sterben werde. Apropos nackig: Bloß nicht aus Versehen in den Spiegel schauen, weil ich den Anblick nicht ertragen kann. Damit das nicht doch noch passiert, greife ich kurz entschlossen nach den Sportklamotten und bedecke, was nicht gesehen werden darf.

Fünf Minuten später stehe ich tatsächlich vor dem Laufband. Ich finde, es glotzt mich ziemlich hinterhältig aus dem Halbdunkel des Wintergartens an. Ich strecke ihm die Zunge heraus, aber es reagiert nicht weiter. Okay, wenn schon Sport, dann mit frischer Luft. Ich reiße die Wintergartentür auf und atme tief ein.

Brrrr. Bibber. Es ist Oktober, was erwartest du?weht mir der dunkle Oktobermorgen von draußen entgegen. Nach einem kurzen Systemcheck - mir ist kalt, aber sonst ist alles friedlich - klettere ich aufs Band und schalte Stufe 2 an. Drei Minuten nehme ich mir vor. Ohne Unterbrechung.

Rechts und links an die Haltegriffe gekrallt, setze ich Fuß vor Fuß. Unterschwellig hockt mir die Angst im Genick. Nur drei Minuten, das schaffst du! feuere ich mich an. Und tatsächlich: Es gelingt. Ohne einen einzigen Herzstolperer oder sonstiges Wehweh-Gezicke. Kurz entschlossen hänge ich noch eine Minute an. Und weil es grade so gut läuft noch eine.

Am Ende sind es fünfeinhalb Minuten. Ich atme erkennbar schneller, aber das war`s auch schon. Ich schalte das Band aus und gehe duschen.

Vor meinem geistigen Auge taucht Tom Hanks auf, der gerade in die Flamme glotzt. Ich habe SPORT gemacht! sage ich laut vor mich hin, während ich die Dusche aufdrehe. Manchmal kann ich tatsächlich über mich selber grinsen.

Wow, das ist einfach nur beeindruckend. Ich bin 15 und habe selber Probleme mit meinem Selbstvertrauen, auch wenn das nicht zu 100% deinem Problem entspricht. Hast du dir schon mal überlegt ein Buch über deine Geschichten zu veröffentlichen? Solltest du wirklich mal tun! Möchte später auch als Lehrer arbeiten . Gerade hab ich selbst das Problem, wie man in meinem einzigen Post auch sieht, dass ich mich nicht traue zu tragen was ich will. Vielleicht kann ich es mit ein paar positiven Worten und deiner Geschichte schaffen, das zu ändern! Ich wünsche dir alles, alles Gute auf deinem Weg! Ich werde deine Geschichte weiterverfolgen und werde mich ggf. nochmal hier drunter melden .

Die SPORTEINHEIT beflügelt mich tatsächlich auch noch weiter am Tag. In der Schule packt mich prompt der der Übermut, und ich gehe einfach nur so die Treppen im Schulhaus rauf und runter. Ohne Grund. Drei Mal. Da erfreulicherweise außer mir keiner unterwegs ist, muss ich nicht mal in meiner Schultasche rumkramen.

Ich muss sogar nicht mal allzu heftig atmen, wie ich finde. Als ich beschwingten Schritts ins Lehrerzimmer trete und meine Tasche auf den Stuhl stelle, schauen gleich zwei Kolleginnen auf. Ui, bist du gerannt? Du bist ja total abgehetzt! kommt es besorgt aus ihrer Ecke. So viel zum Thema nicht allzu heftig atmen.

Und als hätte es auf genau diesen Kommentar gewartet, stolpert mein Herz. Ein Mal. Zwei Mal. Drei, vier, fünf...ich schnappe nach Luft, weil mich eine regelrechte Salve heimsucht. Alles okay? Du bist ganz rot im Gesicht!

Oh Ladies, würdet ihr BITTE dir Klappe halten? Ich muss jetzt gerade nicht hören, dass ich irgendwie besorgniserregend ausschaue. Warum musste ich wie eine Blöde die Treppen rauf und runter rennen? Alles gut beruhige ich die Kollegin und mich. Bei der Kollegin bin ich damit erfolgreicher, sie wendet sich wieder ihrer Arbeit zu - nicht ohne mir noch einen besorgten Blick zu schenken.

Vermutlich denkt sie sich, dass es kein Wunder ist, dass ich so rumjapse. Fett und unsportlich, wie ich bin. Und sie hat ja auch Recht damit. Auch wenn ich diese Erkenntnis kein bisschen leiden kann und spontan mal wieder sehr neidisch bin auf sie und all die anderen schlanken, sportlichen Kolleginnen und Kollegen. Es gibt nur eine einzige andere, die auch dick ist - aber selbst die wiegt deutlich weniger als ich.

Mein Herz galoppiert immer noch vor sich hin. Wenigstens ist jemand hier, wenn ich jetzt einen Herzinfarkt kriege. Dieser Gedanke beruhigt mich etwas. Ich hole mir ein Glas Wasser und setze mich in die Küche. Lausche in mich hinein. Aus dem Lehrerzimmer nebenan höre ich die Kolleginnen über eine lustige Formulierung in einer Schülerarbeit lachen. Ich fühle mich ausgeschlossen und abgeschnitten.

Weiß gleichzeitig, dass ich das nicht bin. Wir mögen uns recht gern und lachen und reden viel miteinander. Trotzdem holt mich in diesem Moment beinahe das heulende Elend ein. Warum, zum Teufel, muss ich so fett sein und dauernd Angst vor dem Sterben haben? Ich kann mich nicht entscheiden, was von beidem ich gerade schlimmer finde. Beides ist GROSSER MIST.

Dann muss ich in den Unterricht und habe keine Zeit mehr, mir leid zu tun. Ich bin - wie eigentlich immer - gut vorbereitet, und es macht Spaß vor der Klasse zu stehen. Auch die Studis haben Spaß.

Memo an mich: In meinem Job bin ich ziemlich gut. Kann nützlich sein, mich zu erinnern, wenn ich mal wieder im Selbsthass und Selbstmitleid versinke.

Auf dem Heimweg beschließe ich spontan, was Gesundes zum Essen einzukaufen. Noch während ich frisches Gemüse in meinen Korb packe, kommt mir die Erkenntnis, dass ich das dann auch zubereiten muss. Kochen kann ich nicht besonders leiden, obwohl ich es ganz gut kann.

Erkenntnis zwischen Brokkoli und Möhren: Ich bin ein faules Stück. Nach einigem Ringen nehme ich das Grünzeug tatsächlich mit und verwandle es zu Hause in ein leckeres Thai-Curry.

Noch ein Memo an mich: Man kann sich auch mit gesundem Essen heillos überfressen.

Ich muss mein Essverhalten in den Griff kriegen. Ich will nicht mehr fett sein. ich will nicht mehr jeden Tag mehrmals sterben. Ich will gesund, schlank und fit sein.

Motiviert stelle ich meinem Wecker wieder auf 5.30 Uhr und lege die Sportklamotten gleich neben's Bett. Am nächsten Morgen bin ich tatsächlich um 5.20 Uhr wach und ausgeschlafen. Ich verzichte unter Aufbietung einiger Kräfte auf den Systemcheck und krieche ohne weiter nachzudenken in meine Sportsachen. Achumastiedersport nuschelt es verschlafen unter der Decke des Eheholden.

Ja. Ich mache wieder Sport. Schon den zweiten Tag in Folge. Das Laufband wirkt heute irgendwie freundlicher als gestern. Ich öffne die Tür nach draußen, atme die kühle Luft ein, schalte Stufe 2 ein und gehe los. Ohne Herzbeschwerden schaffe ich 15 Minuten. Was für ein Gefühl!

Ich kann es kaum erwarten weiterzulesen. Großartig geschrieben. Dieser dezente Humor in einer spannenden Geschichte um ein ernstes Thema.. weiter so!

Die Schule ist heute eine echte Challenge. Obwohl der Unterricht prima läuft, ist mir immer wieder schwindlig und ich habe leichte Sehstörungen. Noch während ich diese wahrnehme, denke ich darüber nach, ob ich tatsächlich Sehstörungen habe oder mir einbilde, welche zu haben.

Ich versuche, sie zu provozieren, beobachte mich quasi beim Gucken. Bist du dämlich? fragt mich mein gesundes Ich. Konzentrier' dich auf deinen Job, statt rumzuhypochondern! Gleichzeitig wird mir wieder schwindlig und ich arbeite mich an mein Pult heran, um mich möglichst beiläufig darauf niederzulassen. Sofort geht's mir besser.

Ist ihnen nicht gut? Sie sind ganz blass! fragt eine Schülerin. 32 Augenpaare schauen mich besorgt an. PENG! Vielleicht
sollte ich meinen Studis doch nicht beibringen, dass Empathie was Wichtiges, Wünschenswertes ist? In Momenten wie diesen fällt sie mir nämlich komplett auf die Füße. Ich kriege es gerade halbwegs hin, mich wieder zu beruhigen, da stellt irgendwer fest, dass ich blass/ rot/ atemlos/ angestrengt, wasweißich...aussehe und katapultiert mich damit volle Kanne zurück in meine Angst.

Gerade eben ist es mal wieder die vor einem Hirntumor. Schwindel, Sehstörungen in einer an sich für mich stressfreien Situation lassen ein paar passende Zahnräder in meinem Hypochonderhirn einrasten und die Angst galoppiert. Jetzt ist mir auch im Sitzen schwindlig. Na bravo. Ich hab' noch 6 Stunden Unterricht vor mir.

Sollen wir mal ein Fenster aufmachen? Möchten Sie ein Glas Wasser? Sie sind ja echt süß, meine Studis, aber jetzt gerade möchte ich am liebsten alle töten. Ich kann jetzt keine Fürsorge gebrauchen. Ich muss mich ablenken, raus aus der bescheuerten Denkspirale. Alles gut beruhige ich nun meinerseits mit einem schiefen Grinsen die Klasse. Die alte Schachtel hätte mal besser frühstücken sollen, setze ich nach. Das stimmt zwar nicht - ich habe gefrühstückt - sorgt aber für ein paar Lacher und entkrampft die Situation.

Auch und vor allem für mich. Fast zeitgleich kriege ich einen Apfel, eine Banane und mehrere Schokoriegel unter die Nase gehalten. Obwohl ich mit Verweis auf die in Kürze beginnende Pause dankend ablehne, geht es mir besser. Ich bleibe zwar vorsichtshalber auf dem Pult sitzen, überwinde aber erfolgreich den Impuls, mich per Notarzt in die Neurologie einliefern zu lassen.

Latent beobachte ich meine Sehstörungen, gebe dem aber nicht mehr so viel Raum. Auf dem Weg ins Lehrerzimmer quatscht mich fröhlich eine meiner Lieblingskolleginnen an und sofort verabschieden sich alle Symptome und wir trinken entspannt gemeinsam Kaffee.

Der restliche Unterricht läuft gut, wenngleich ich mich immer wieder dabei ertappe, dass ich überprüfe, ob mir schwindlig wird - tut es nicht - oder ob irgendwas mit meinen Augen nicht stimmt - hier bin ich mir nicht ganz sicher.

Auf der Autofahrt nach Hause setze ich meine Sonnenbrille auf. Das reduziert die Wahrnehmung der mouches volantes, die manchmal das Gefühl der Sehstörungen triggern, und entspannt mich noch ein wenig mehr. Meine Augen sind - wie auch mein Herz, mein Kopf, meine Gebärmutter und diverse andere Körperteile - untersucht und als unbedenklich eingestuft worden. Mehrmals. EIN Arzt könnte sich ja irren.

Ich muss lachen, als ich darüber nachdenke. Wenn ich die verschiedenen Todesursachen, die ich im Laufe der letzten Jahre so für mich entwickelt habe, zusammenzähle, kommt ganz schön was zusammen. Manche haben sich dabei tatsächlich überlebt. So ist mir z.B. bei meiner - monatelang irre hohen - Angst vor ALS eines Tages klargeworden, dass ich inzwischen längst tot sein müsste.

Nachdem ich in dieser Zeit auch ALLE erdenklichen Symptome, die wahrscheinlichen wie die unwahrscheinlichen, durch hatte, ist es mir tatsächlich gelungen, diese als kenne ich und habe ich überlebt einzustufen. Die Angst vor MS hat mir kurze Zeit später ein Neurologe genommen, indem er meine entsprechende Frage lakonisch mit Dafür sind Sie zu alt beantwortete.

Ich bin selbst erstaunt, wie wenig es in diesem Fall gebraucht hat, mich zufriedenzugeben und nicht mehr darauf zu bestehen, dass ich vermutlich dennoch erkrankt bin. Geholfen hat sicher eine Technik meiner Verhaltenstherapeutin, die mir geraten hat, bei beginnenden Denkspiralen ein imaginäres Stoppschild hochzuhalten und mir zu verbieten, weiterzudenken. Das erschien mir zunächst zwar ziemlich albern, funktioniert aber nichtsdestotrotz in vielen Fällen recht gut. Zumindest, was ALS und MS betrifft.

Aber ich habe ja noch ein paar weitere lebensbedrohliche Krankheiten auf Reserve. Tumore können ja ganz wunderbar überall rumwuchern - und die Angst vor Herzinfarkt und Schlaganfall hält mich auch ganz gut in Schach.

Meine Therapeutin hat mich mal gefragt, ob ich mich nicht einfach für EINE todbringende Krankheit entscheiden könne, weil es doch schon recht unwahrscheinlich sei, gleichzeitig an mehreren ganz unterschiedlichen zu versterben. Der gesunde Teil in mir gibt ihr vollkommen recht, aber mein Hypochonderhirn möchte sich anscheinend lieber mehrere Optionen offenhalten.

Nachdem ich heute zumindest noch keinen Herzinfarkt hatte, beschließe ich spontan, das schöne Wetter zu nutzen und ein wenig spazieren zu gehen. Das klingt allerdings einfacher, als es ist. Zuhause ist einigermaßen sicherer Boden. In der Schule ebenfalls. Da sind Menschen, die mich retten können, wenn ich einen Herzstillstand habe. Aus dem gleichen Grund geht auch Einkaufen meist recht gut.

In der Natur rumzulaufen, ist eine ganz andere Hausnummer. Weit und breit kein Mensch, der einen Notarzt rufen kann, wenn ich dazu nicht mehr in der Lage sein sollte. Wenn mein Mann dabei ist, geht es besser, aber er ist recht sportlich, und ich habe immer das Gefühl, er müsse sich permanent zurücknehmen, wenn er mit mir unterwegs ist. Das sagt er zwar nicht, aber ich glaube es trotzdem. Und ich will kein Ballast für ihn sein.

Also gehe ich meist gar nicht spazieren. Da ich aber gerade mal wieder einen Gehirntumor überlebt habe und zudem ja mein Leben ändern will, fasse ich den Entschluss, auf MEINE Weise spazieren zu gehen. Unser Haus steht praktischerweise mitten in der Natur, und so gehe ich nun auf dem direkt angrenzenden Waldweg hin und her spazieren.

Immer artig in Sicht- und Rufweite des Hauses, versteht sich. Und natürlich in sehr gemessenem Tempo, ich will mein armes Herz ja nicht überstrapazieren. Das klopft zwar tatsächlich prompt ein wenig schneller, aber ich schaffe es, damit zurecht zu kommen. Dein Herz klopft, weil du eine fette, faule Kuh bist! spreche ich mir freundlich Mut zu. Also beweg deinen Hintern, damit sich das ändert!

Ich glaube, den letzten Satz sage ich laut. Gottseidank ist keiner da, der es gehört haben könnte. Wobei: Ich möchte wetten, der Eichelhäher, den ich höre, lacht sich grade über mich kaputt. Recht hat er.

Ich gehe tatsächlich ganze 30 Minuten spazieren. Dabei zwinge ich mich, mich im Hier und Jetzt festzuhaken und bewusst die Natur um mich herum wahrzunehmen, anstatt in meinen Innereien rumzustöbern, in der Sorge (oder der Hoffnung?), etwas Beunruhigendes zu finden.

Eine Frage meiner Therapeutin schießt mir durch den Kopf: Womit würden Sie sich denn gedanklich beschäftigen, wenn es Ihre Angst nicht gäbe? Natürlich habe ich sofort eine Reihe ganz wunderbarer Ideen: Äääähhh...hm. Echt aufregend, bemerkt meine Therapeutin trocken. Wir lachen, bis uns die Bäuche weh tun. Nachdem ich in fünf probatorischen Sitzungen fünf Therapeuten zügig davon überzeugt hatte, dass das mit uns beiden nichts wird, treffe ich auf SIE.

Wir brauchen zehn Minuten, um festzustellen, dass wir zusammenpassen wie A.rsch auf Eimer. Beide mit blitzschnell arbeitendem Verstand, beide mit ausgeprägtem Gespür für Unausgesprochenes und vor allem: Beide mit einer gehörigen Portion Selbstironie und dem gleichen Faible für staubtrockenen Humor. Sie kann meine Angststörung nicht zum Verschwinden bringen. Aber sie eröffnet mir Sichtweisen, die mich abwechselnd begeistern, verärgern, berühren und verstören. Und sie hat gutes Handwerkszeug für's Überleben im Gepäck. Danke, Frau P. Sie waren ein Geschenk für mich.

Wie war das? Ich wollte doch mein Hirn mit der Natur beschäftigt lassen. Ich fühle mich von mir selber ertappt und schnüffle hörbar vor mich hin, um die Gerüche des Waldes aufzunehmen. Wenn du jetzt anfängst im Boden zu wühlen, gehst du als Trüffelschwein durch, meldet sich mein Hirn schon wieder ungefragt. Fett genug bist du ja, setzt es noch einen drauf.

Mann ist das schwierig! Ich kann anscheinend entweder nur hypochondern oder mich ablenken. Wenn ich versuche, einfach nur spazieren zu gehen und die Natur zu genießen, langweilt sich mein Hirn offensichtlich und sucht sich eine Ersatzbeschäftigung. Wie auf's Stichwort stolpert mein Herz und gibt mir Gelegenheit, mich wieder mit meiner altvertrauten Angst zu beschäftigen.

Erstaunlicherweise kriege ich sie aber recht zügig abgebügelt. Ich war am Morgen auf dem Laufband, bin in der Schule mehrmals Treppen gestiegen und war jetzt 30 MINUTEN SPAZIEREN. Mein Herz hat das ausgehalten, also werde ich es jetzt auch die paar Meter nach Hause schaffen, ohne zu sterben. Es klappt.

Im Laufe des Nachmittags lege ich immer wieder Gehpausen ein. Heißt: Ich erhebe mich vom Schreibtisch und später von der Hängeschaukel und der Couch, um bewusst und gezielt, ein bisschen rumzulaufen. Treppe rauf, Treppe runter, ein paar Mal quer durchs Wohn- und Arbeitszimmer, später sogar ein paar Minuten durch den Garten. Ich trainiere mein Herz.

Vor allem aber trainiere ich mein Hirn. Ich füttere es quasi stündlich mit der Erfahrung, dass ich gehen und mich bewegen kann, ohne an Herzversagen zu sterben. Das funktioniert nicht ganz ruckelfrei. Mein Herz meldet sich immer mal wieder, rennt ein bisschen, stolpert ein bisschen.

Ich fange an, im Kopf Gedichte zu rezitieren, um mein Hirn zu beschäftigen. Das klappt. Am Ende des Tages habe ich das Gefühl, so viel Bewegung wie lange nicht gehabt zu haben.

Memo an mich: Morgen bestelle ich mir einen Schrittzähler. Ich will sehen, wie viel ich gehe.

Auch heute steige ich wieder in aller Frühe aufs Laufband. Die Erfahrung von gestern zeigt Wirkung. Ich kann ganz offensichtlich mehr tun, als mich nur im Schonmodus laufen zu lassen, ohne an einem Herzinfarkt zu sterben. Das macht Mut.

Als ich aufs Band klettere, entdecke ich, dass das Teil einen Ohrclip zur Pulsmessung hat. Eigentlich ein cooles Feature. Zumindest, wenn man keine Herzparanoia hat. Ich überlege eine ganze Weile, ob ich die Höhe meines Pulses beim SPORT tatsächlich wissen will. Da ich seit 8 Monaten Betablocker gegen zu schnellen Puls nehme, kann ich mich oft einfach damit beruhigen, dass ich bei Belastung keinen wirklich schnellen Herzschlag spüre.

Wenn ich jetzt den Ohrclip dran mache, zerstört das möglicherweise die Vorstellung, dass das Gehen auf dem Laufband kein besonderer Stress für mein Herz ist. Prompt werde ich nervös. Dann knipse ich todesmutig den Clip an mein rechtes Ohrläppchen: Kann ja mal gucken, wie hoch der Puls jetzt im Stehen ist.

Auf dem Display des Laufbands puckert ein Herzsymbol los, noch ohne Zahl darunter. Allein der Anblick beschleunigt meinen Puls um gefühlte 200 Schläge. Zackig rupfe ich das Ding von meinem Ohr. Gleichzeitig kneife ich die Augen fest zu, um nicht doch noch eine besorgniserregende Zahl auf dem Display sehen zu müssen.

Nein. Ich will verdammt noch mal nicht wissen, wie hoch mein Puls ist. Ich gehe einfach nach Gefühl, das hat ja die letzten Tage auch geklappt. Trotzdem bin ich total angespannt, als ich den Startknopf drücke. Der Meidereflex meldet sich in aller Deutlichkeit: LASS ES HEUTE LIEBER SEIN. DU HAST GERADE ZU VIEL STRESS!

Mein gesundes Ich reagiert renitent und setzt die Füße aufs Band. Meine Hände schwitzen, als ich mich an den Haltegriffen festklammere, aber ich gehe. Schritt für Schritt für Schritt für Schritt. Ich atme die frische Luft ein, die durch die offene Tür zu mir weht und werde ruhiger. Fünfzehn Minuten sind mein Ziel. Die kann ich schaffen. Das gleichmäßige Laufgeräusch des Bandes, meine regelmäßigen Schritte sorgen für mehr und mehr Entspannung.

In einem Anfall von Übermut nehme ich zum ersten Mal die Hände von den Haltegriffen und gehe frei. Kurz ruckelt mein Herz, und die Hände suchen Halt, aber dann lasse ich wieder los. Es ist ein wenig anders, als wenn man auf festem Boden geht, aber ich kriege es hin. Und die 15 Minuten ebenfalls. Sogar 20. YEEEHAAAA!

Unter der Dusche mache ich mir noch einmal bewusst, dass ich trotz Angst, Stress und gefühlten 400 Pulsschlägen pro Minute ohne Herzinfarkt 20 Minuten vorwärts gegangen bin. Ich grinse mir im Spiegel zu: Hey, du bist gut, Alte!

Hmpf. Ganz schlechte Idee. Ich gucke sonst nie in den Spiegel, schon gar nicht, wenn ich nackig bin. Ein flüchtiger Blick, ob die Haare einigermaßen da sind, wo sie hingehören, ist das Maximum an ertragbarem gespiegelten Anblick. Angezogen, versteht sich. Nun rutscht der Fokus von meinem Grinsegesicht ein Stück tiefer und ich ergänze gänzlich ungrinsend: Und FETT.

Im Verlauf des Tages bemühe ich mich erneut, mich regelmäßig zu bewegen. Der Schrittzähler fällt mir ein, und ich verbringe geraume Zeit mit der Suche nach einem passenden Teil. Schließlich entscheide ich mich für eine Fitbit. Mit Pulsanzeige. Dieser Entschluss fällt aber erst, nachdem ich nach umfassender Rücksprache mit meinem Hypochonder-Ich für mich klar gekriegt habe, dass ich ja nicht draufschauen muss.

Mein lieber Scholli. Ich bin ganz schön gaga.

Dein Tagebuch ist wirklich lesenswert.
Du kannst wahnsinnig gut um und beschreiben.
Und schreiben kannst du auch ganz ausgezeichnet.
Danke dafür und Kompliment.
Und ich bin auch ganz gespannt wie es weitergeht

Sooo. Tag 4 mit der Fitbit, Zeit für eine erste Bilanz.

Erkenntnis Nummer 1: Ich bewege meinen fetten Hintern echt wenig, wenn ich mich nicht bewusst in selbigen trete. Ein normaler Tag zu Hause ohne Laufband, Einkaufen und zusätzliche Schritte bringt mich gerade mal auf 1200 Schritte. Die Empfehlung liegt bei 10000. ZEHNTAUSEND. Hmpf.

Erkenntnis Nummer 2: Mit dem Laufband aussetzen ist eine ganz schlechte Idee. Zum einen esse ich sofort mehr, zum anderen fehlt mir das positive Gefühl, SPORT gemacht zu haben und zum dritten ist die Überwindung am nächsten Tag noch viiiieeel größer.

Weil ich vorletzte Nacht und beim Aufwachen mal wieder mehrere Herzinfarkte überleben muss, kriege ich mich nicht überwunden, aufs Laufband zu gehen. Ergebnis: Die Nahtoderfahrungen setzen sich den ganzen Tag über fort. Ich habe permanent Herzrasen, Herzstolpern, Engegefühle in der Brust, Schmerzen im linken Arm, Probleme beim Atmen...Irgendwann hocke ich heulend in einer Ecke und tu mir so furchtbar leid, dass ich mich nur mit einer Packung Super-D.Manns, einer Tüte Gummibärchen, 2 Tafeln Schokolade und 3 Cornyriegeln trösten kann.

Ey, wie dämlich bist du eigentlich, Alte?!

Erkenntnis Nummer 3: Der Trost-Effekt funktioniert quasi nur, solange ich das Zeug im Mund habe und schlucke. Sobald ich ausreichend voll gefressen bin, holt mich das heulende Elend erst recht ein. Ganz doof: Vor diesem rettet mich auch nicht der Versuch, die Joghurt-Schokolade und die Müsliriegel als gesundes Essen zu definieren.

Ich ertappe mich nach dem Fressflash mal wieder bei der Idee, mir den Finger in den Hals zu stecken. Erfreulicherweise bleibt es beim reinen Gedanken. Zum einen hasse ich Kotzen, zum anderen weiß ich zu viel über Bulimie, um mich auf diesen Weg begeben zu wollen. Ich hab' schon genügend andere gesundheitliche Probleme an der Backe.

Zudem gibt es da auch noch mein gesundes Ich, das mir eine scheuert, wenn ich so krause Denkexperimente anstelle. Ich hab' mich selber fett gefuttert, also kann und muss ich es auch gefälligst selber wieder hinkriegen, den Mist wieder loszuwerden. Bei dieser Auseinandersetzung fallen dann auch Magenoperationen oder illegale Dünnmach-Substanzen hinten runter.

Danke, gesundes Ich, dass du mich noch nicht aufgegeben hast. Du hast manchmal einen echt harten Job.

Das führt mich zu

Erkenntnis Nummer 4: Nur bewegen reicht nicht. Ich muss mein Essverhalten in den Griff kriegen. Nicht irgendwann. JETZT. Sofort meldet sich eine dämliche Gehirnzelle aus dem Off, dass ich diese Erkenntnis nicht zum ersten Mal habe. Genau genommen taucht sie ziemlich regelmäßig dann auf, wenn ich gerade voll gefressen bin oder mir von der Futterorgie schlecht ist.

Ich schubse die Gehirnzelle in den Orbit meines Kleinhirns zurück und suche nach einer Abnehmstrategie. Spontan fällt mir ein, was schon alles nicht funktioniert hat:

- Shakes trinken
- Frei verkäufliche Diätpillen schlucken
- Lightprodukte essen
- einfach weniger essen
- tagsüber nichts essen
- Obstdiät, Suppendiät (man spreche NIE WIEDER das Wort Kohlsuppe in meiner Gegenwart aus!), Atkins-Diät, Milch-und-trockene-Brötchen-Diät
.....

Tatsächlich haben einige dieser Versuche sogar zu einem temporären Gewichtsverlust von bis zu 16 Kilo geführt, aber die hatte ich nach Diätende bzw. -abbruch schneller wieder drauf, als ich Jojo sagen konnte. Plus ein paar mehr.

Heißt: Ich brauche etwas ganz anderes. Ich will gesund werden und gesund leben. Ich recherchiere und stoße auf einen Buchtipp: Fettlogik überwinden. Bescheuerter Titel, aber der Klappentext macht mich an, ich lade das Hörbuch runter und höre es in einem Rutsch durch. In mir überschlagen sich die Aha-Erlebnisse. Die Autorin trifft mich mitten ins Hirn.

Für die Dauer des Hörens vergesse ich sogar, heute an Herzinfarkt zu sterben. Stattdessen ziehe ich um 23.35 Uhr die Laufschuhe an und gehe auf's Laufband. Zum zweiten Mal an diesem Tag.

Erkenntnis Nummer 5: 5875 Schritte sind ein prima Kopfkissen.

Das ist echt ein super Tagebuch. Ich verstehe dich so sehr. Alles was du schreibst, kann ich nachempfinden.
Und du schreibst sehr gut. Ich bin gespannt auf neue Einträge.

Wow, vielen Dank für Deine Geschichte!
Und das ist so toll geschrieben, liest sich wie ein Roman. Wenn Du es als Buch veröffentlichst, wie hier schon vorgeschlagen, würde ich es sofort kaufen. Ich hab auch Ich bin mal eben wieder tot und Exfreundin Angst mit Begeisterung gelesen.
Ich hab u.a. mit Schwindel, Sehstörungen, Herzrasen und Herzstolpern zu tun, entsprechend Angst vor den passenden Krankheiten, Angst mich anzustrengen (Sport?! - undenkbar) und - das fand ich lustig - bis hin zu Angst vor dem Duschen oder Kaffee zu trinken weil das Herz dann stolpern könnte...
Freue mich schon auf die Fortsetzung!
Sponsor-Mitgliedschaft

Ich beschließe nach dem Aufwachen, nicht sofort aufzustehen, sondern mich in Ruhe wachzublinzeln. Schwerer Fehler. Gut geölt greifen die Rädchen in meinem Hirn beinahe automatisch ineinander und beginnen den Systemcheck. Mit Erfolg natürlich.

Ich spüre ein leichtes Taubheitsgefühl in der linken Hand und bin sofort im Alarmmodus. Ich versuche mich damit zu beruhigen, dass ich vermutlich nur ungünstig gelegen habe, aber warum zum Teufel muss es dann mal wieder ausgerechnet die linke Seite sein? Rechts würde ich mich weniger ängstigen.

Glaube ich. Kann aber gut sein, dass meinem Hypochonderhirn trotzdem eine wunderbare Begründung für einen höchst lebensbedrohlichen Zustand einfällt. Kreatives Miststück das.

Dem inneren Angstdrehbuch folgend, stolpert nun auch mein Herz. Die ersten drei Stolperer kriege ich noch ausgebügelt, die folgende Salve treibt mich aber schlagartig in die Höhe. Mir wird heiß, ich schnappe nach Luft. Mit Mühe unterdrücke ich den Impuls, meinen Mann zu wecken und die Notarzt- Kavallerie galoppieren zu lassen.

Nicht sofort! versuche ich die Regieanweisung an meine Denke zu übernehmen. Du kennst das doch. Den Notarzt kannst du auch in 10 Minuten noch rufen. Ich stehe auf, gehe ins Bad. Mein Puls rast, meine linke Hand wird immer tauber. Ich benutze sie bewusst, um zu testen, ob sie ordentlich funktioniert. Irgendwie scheine ich nicht richtig greifen zu können.

Ich rubble mit der rechten Hand meinen linken Unterarm, bewege die Finger, versuche einen feinmotorisch herausfordernden Pinzettengriff an einem herumliegenden Haargummi. Der klappt, aber er fühlt sich nicht richtig an. Ich mache den selben Griff mit rechts, das geht viel besser. Kunststück, du bist Rechtshänderin, meldet sich mein gesundes Ich.

Mir ist immer noch heiß, die Grifftests tragen nicht zur gewünschten Beruhigung bei. Die innere Unruhe wächst. Ich gehe im Bad auf und ab. WARUM kann ich nicht endlich diesen Mist los sein? WARUM muss fast jeder Tag mit der Angst zu sterben anfangen? Ich will das nicht mehr! Ich will entspannt und gut gelaunt in den Tag starten können, wie alle anderen Leute auch!

Dann tu was dafür, schlägt mein gesundes Ich vor. Das Hypochonder-Ich ist entschieden dagegen. Ich habe jetzt vielleicht einen Herzinfarkt, was kann ich denn schon tun, als hoffen, dass es keiner ist?! Meine Verzweiflung streitet sich plötzlich mit einer Mordswut. Ich will einfach nicht nur abwarten und aushalten, das mache ich schon viel zu lange. Kurzentschlossen schlüpfe ich in Socken und Laufschuhe.

Mein Herz stolpert, als ich mich nach dem Zubinden der Schuhe aufrichte. Das Zubinden ging irgendwie schwer wegen der linken Hand. Außerdem tut der Arm jetzt auch weh. Diese Kombination ist neu.

Verdammter Mist! Andere Menschen nutzen ihr kreatives Potential, um Klassiker der Weltliteratur zu schreiben, Opern zu komponieren oder coole Gemälde zu erschaffen. Das meine ist ganz offenbar heiß darauf, den Preis für das angsteinflößendste Symptomszenario zu verdienen. Blöderweise ist es richtig gut darin.

Irgendwie bin ich aber dennoch gerade mehr wütend als angstbeherrscht. Es ist MEIN Hirn, das sich diesen Müll zusammenspinnt. DASS es spinnt, sollte mir nach so vielen Jahren eigentlich endlich mal klar sein. Immerhin lebe ich noch. Ich bin fett, habe Bluthochdruck, eine Schlafapnoe, zu hohen Puls, Hashimoto und - den Betablockern sei Dank - seit 4 Monaten auch eine Schuppenflechte.

Für diese Sachen gibt es Diagnosen und Therapien. So schlafe ich seit nun mehr 5 Monaten mit einem CPAP-Atemgerät, um meine Atemaussetzer zu verhindern. Das ist nicht besonders angenehm, aber es hat zu einer deutlichen Besserung meines Gesamtzustandes beigetragen. Ganz nebenbei reduziert es das Risiko, an Herzinfarkt oder Schlaganfall zu versterben.

Die plötzliche Erkenntnis, dass ich durch das CPAP ja inzwischen deutlich weniger gefährdet bin, als ich noch vor ein paar Monaten war, beruhigt mich etwas. Angepisst bin ich aber nach wie vor. Ich will raus aus diesem Dilemma.

Beinahe trotzig schalte ich das Laufband ein. Entweder lebe ich weiter oder der Herzinfarkt kommt endlich. Ähnliche Gedankengänge hatte ich vor Kurzem ja schon mal. Wenn ich es mir überlege, finde ich die gar nicht so schlecht. Besser als leiden und fressen allemal.

Ich schalte das Laufband entschlossen zwei Stufen höher auf 4. So.

Auf dem Gartentisch vor dem Wintergarten, gerade noch vom Innenlicht etwas angeleuchtet, sitzt ein Eichhörnchen und schaut mich an. Ich schaue zurück. Es sitzt da ganz aufmerksam, dann beginnt es sich zu putzen. Ausgiebig. Ich danke dem Universum für die Ablenkung und beobachte es dabei. Gleichzeitig beschließe ich, nicht auf die Zeitanzeige des Laufbands zu schauen, bis das Eichhörnchen weg ist.

Universum und Eichhörnchen scheinen einen Deal miteinander einzugehen. Das Tier hat anscheinend großen Säuberungsbedarf. Mein Herz stolpert zwei Mal, aber ich halte eisern den Blick auf das Eichhörnchen gerichtet und gehe weiter. Schließlich verschwindet es, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Ich schaue auf die Zeitanzeige: 23 Minuten.

Dreiundzwanzig Minuten auf Stufe 4. Ich lebe nicht nur noch, ich bin trotz heftigster Symptomatik schneller und länger gegangen, als jemals zuvor. Ich stelle fest, dass ich schwitze, aber nicht vor Angst, sondern weil mir vom Gehen warm geworden ist. Sämtliche Beschwerden sind verschwunden.

Trotzdem kann ich Dusselkuh es nicht lassen: Auf dem Weg ins Bad, probiere ich wieder meine linke Hand aus. Die fühlt sich immer noch seltsam an. Hör' auf damit! schnauzt mich mein gesundes Ich an. Du lebst trotz der Anstrengung, und es geht dir besser als vorhin - also lass es!

Erstaunlicherweise ist mein Hypochonderhirn kooperationswillig und stellt weitere Testungen ein. Im Laufe des Schultags vergesse ich die Missempfindungen ganz.

Ich bewege mich, so viel ich kann, nutze jede Gelegenheit, ein paar Schritte mehr zu gehen. Es geht mir super dabei, die bewältigte Herausforderung am Morgen gibt mir Kraft und Zuversicht.

Erkenntnis des Tages: ICH VERGESSE NIE MEHR, MEINE FITBIT ANZULEGEN.

Es ist hilfreich dieses Tagebuch zu lesen. Ich finde mich in so vielen Passagen wieder!
Es ist z.T. wie ein Spiegel, der mir vorgehalten wird und so kann ich leichter von außen, auch auf meine Situation schauen.
Danke!

Ich bin gerade zufällig auf deinen Beitrag gekommen und sehe mich in manchen Deiner Worte wieder aber was ich noch besser finde ist deine Art zu schreiben. Es liest sich so schnell und einfach und lustig und doch interessant. Ich denke ein eigens geschriebenes Buch von Dir würde vielen Menschen sehr helfen und gefallen. Ich muss erstmal noch ein paar Dinge erledigen aber werde nachher bestimmt weiterlesen und hoffe dadurch in einen ruhigen Schlaf zu kommen. VIELEN DANK

A


x 4


Pfeil rechts



App im Playstore