Ich lasse die Stadt zügig hinter mir und arbeite mich durch kalten Nieselregen voran. Der Rucksack drückt schmerzhaft auf Schultern und Schlüsselbeine und ich ruckle dauernd an Trägern und Hüftgurt herum, um den Sitz zu optimieren. Als ich mal wieder die Daumen zwischen Gurt und Schlüsselbeine stecke, um den Druck ein wenig wegzunehmen, taucht ein Bild vor meinem geistigen Auge auf:
Ich streife mein Schlafshirt über, als mein Blick auf den Spiegel fällt und unter dem Hemd zwei deutliche Knubbel erkennt, die vor Kurzem noch nicht da waren. Ich ziehe den Ausschnitt des Shirts zur Seite und entdecke, dass ich Schlüsselbeine habe. Anatomie: Eins, konstatiert mein innerer Biolehrer lakonisch, kann aber nicht verhindern, dass mich eine heiße Welle des Glücks überflutet. ICH HABE SCHLÜSSELBEINE. Jahrelang war da nur eine einheitliche Fettmasse. Jetzt zeichnen sich deutlich erkennbar zwei zarte Knochen unter der Haut ab. Ich kann es kaum fassen, muss sie mit den Fingerspitzen berühren, um zu be-greifen, was ich sehe.
Ich ziehe die Daumen unter den Rucksackträgern hervor, und der Schmerz holt mich zügig ins Hier und Jetzt zurück. Unterm Speck hätten die Dinger nicht so gelitten, ätzt es von einem der billigen Plätze. Ich muss grinsen. Um nichts in der Welt will ich meine Schlüsselbeine wieder hergeben. Sollen sie doch rumzicken.
Trotzdem ist mir ungemütlich. Durch das ständige Geruckel an meinem Rucksack finde ich nicht in einen gleichmäßigen Schritt und stolpere mehr vor mich hin, als ruhig und stetig Fuß vor Fuß zu setzen. Überhaupt fühle ich mich kein bisschen im Gleichgewicht. Weder äußer- noch innerlich. Der Weg führt inzwischen merklich bergan. Ich eiere vorwärts, zerre an meinen Gurten und wische mir zunehmend genervt das Regenwasser aus dem Gesicht. Schließlich bleibe ich japsend stehen.
Mein Herz pumpt unter Hochdruck, ich schnaufe wie eine Dampflok, und als ich anhalte, beginnt es in meiner Brust zu stolpern und zu rumoren, als würde das Herz eine Ausbruchsversuch machen. Panik beginnt mich zu fluten. Mir wird schwindlig und speiübel. Die Welt dreht sich, dann kommt mir der Boden entgegen und ich lande auf der Seite. Bevor ich Aua! denken kann, muss ich kotzen. Der Kaffeegeschmack der morgendlichen Cappuccino ist definitiv noch zu identifizieren. Beim Croissant bin ich mir nicht sicher.
Ich würge ein Weilchen vor mich hin, dann scheint alles draußen zu sein. Der Regen schwemmt meinen Mageninhalt gnädig den Weg hinunter. Ich registriere, dass ich auf allen Vieren knie. Vermutlich sehe ich aus wie eine Schildkröte mit meinem Hubbel auf dem Rücken. Können Schildkröten eigentlich kotzen? Yepp! beantwortet die Tierärztin die Frage, deren Beantwortung mich gerade eigentlich kein bisschen interessiert.
Mein Nervensystem ist damit beschäftigt, diverse Systemschäden an die Zentrale zu übermitteln und benötigt die gesamte Rechnerleistung. Die Akutmeldung kommt von meinem rechten Knie, und ich wuchte mich graziös wie eine überladene Antonow im dritten Startversuch auf den Hintern, um den Schaden zu betrachten. Die Hose ist glücklicherweise heil. Ich versuche ächzend, mich weit genug nach vorn zu beugen, um das Hosenbein hochzukrempeln und ich brauche zwei Fehlanläufe, bis mir einfällt, dass ich den Rucksack abnehmen könnte. Yeeehhhaaaa!
Das Knie ist böse aufgeschürft und blutet so stark, dass der Regen kaum mit dem Abwaschen hinterher kommt. Sein Bruder hat hingegen nur eine unbedeutende Schramme. Meine rechte Hüfte schmerzt ebenfalls und auch der rechte Ellbogen scheint verstimmt. Echt gelungener Start in eine mehrtägige Wanderung. Ich registriere, dass mein Herz sich offensichtlich ausreichend erschrocken hat, um wieder in den Normalbetrieb zurückzukehren. Wenigstens etwas.
Ich schaue mich um, ob sich irgendeine Form von Regenschutz findet, aber außer schwer tropfenden Bäumen ist nichts zu sehen. War ja irgendwie auch klar. Fluchend zerre ich meinen Rucksack heran. krame mit klammen, nassen Fingern das Erste-Hilfe-Set aus der Seitentasche und verarzte meine Wunde. Wenigstens nähen muss ich nicht. Es gelingt mir sogar, das Pflaster schnell genug aufzukleben, bevor die Haut zu nass von Regen und Blut ist. Gelernt ist halt gelernt, befinde ich zufrieden, ziehe mich wieder an, packe das Set zurück und rapple mich vom Boden auf. AUA! sagt die Hüfte. Klappe! antworte ich und wuchte den Rucksack zurück auf meinen Rücken. Aua! sagen die Schlüsselbeine. Klappe! antworte ich ein zweites Mal. Ich war schon entschieden eloquenter.
Dann konzentriere ich mich auf meinen Weg. Das GPS meldet mir 6 Kilometer bis zum ersten Etappenziel. Die will ich hinkriegen, ohne ein zweites Mal auf die Nase zu fallen. Nach einer Weile fällt mir auf, dass sich das Gehen anders anfühlt. Obwohl es an diversen Körperteilen weh tut, habe ich jetzt den ruhigen, gleichmäßigen Tritt gefunden, der mir bis vorhin nicht gelungen ist. Meine Hände schwingen locker neben meinem Körper und lassen sowohl den Rucksack als auch die Regentropfen in meinem Gesicht in Ruhe.
Anscheinend musst du immer erst mal auf die Fresse fallen, bevor du was lernst. Keine Ahnung, welcher meiner inneren Begleiter diese Weisheit von sich gibt. Ich denke darüber nach, ob er recht hat. Das beschäftigt mich eine Weile, und als ich wieder auf's GPS schaue, weil sich der Weg gabelt, stelle ich fest, dass ich direkt oberhalb meines Tagesziels bin. Es ist erst kurz nach Eins. Ich überprüfe kurz meine relevanten Körperfunktionen. Bis auf die Auas fühlt sich alles gut an. Eigentlich könnte ich gut noch ein Stückchen weiter laufen. Noch während ich denke, biege ich in den Weg ein, der in Richtung meines zweiten Etappenziels führt.
Die Strecke verläuft jetzt weitgehend eben und der Regen hat aufgehört. Ich tropfe im Wechselrhythmus mit den Bäumen vor mich hin. während der Weg unter mir dahinläuft. Aus dem Grau taucht eine Holzbank auf, und als hätte er auf die passende Gelegenheit gewartet, beginnt mein Magen zu knurren. Das Gefühl, als der Rucksack von meinem Rücken plumpst, ist göttlich. Ich stelle mir vor, wie das wohl wäre, wenn all das Fett, das ich bisher verloren habe, auch auf einmal abgefallen wäre. Vermutlich hätte ich mir eingebildet, fliegen zu können. Das Bild mit den beiden aus den Schultern sprießenden Engelsflügeln schubse ich schnell beiseite.
Da es von oben trocken ist, kann ich gemütlich meine Brotzeit auspacken. Ich futtere genüsslich zwei dick mit Schafskäse belegte Vollkornbrote, eine kleine Salatgurke, zwei Tomaten und eine Handvoll Studentenfutter. Dazu trinke ich fast einen Liter Wasser. Der Vorteil dieser Jahreszeit ist, dass man nicht ganz so viel Flüssigkeit braucht. Ich bin aber eh ein Kamel und komme problemlos auch mit einer Tasse Kaffee am Tag aus, wenn es sein muss. Nach einer halben Stunde sattle ich wieder auf und gehe weiter.
Irgendwann beginnt es erneut zu regnen, aber das stört mich nicht mehr. Zwei Stunden später habe ich dann aber doch genug vom Gehen. Es wird bereits deutlich dämmrig im Wald, und Zeit, mein Lager aufzuschlagen. Ich sehe mich im Gehen nach einem geeigneten Platz um, und das Universum öffnet einen schmalen Seitenweg. Ich folge ihm, bis mir die Entfernung zum Hauptweg weit genug scheint. Es wird jetzt zügig düsterer, und so räume ich an der nächsten lichten Stelle grob die Zweige vom Boden und baue mein Zelt auf.
Da ich das zuhause ausreichend oft geübt habe - im Hellen, wie im Dunklen - geht das zügig vonstatten. Ich bedanke mich bei meinem inneren Monk für die Planung, krieche nur 10 Minuten später bis auf die Unterwäsche ausgezogen ins trockene Zelt und mache den Reißverschluss zu.
Dann mache ich ihn wieder auf und krabble hinaus, weil ich noch mal pinkeln muss. Hmpf. Soviel zur Planung.
Zurück im Inneren schlüpfe ich in Leggins, Schlafshirt und Daunenjacke, werfe den Kocher an und mache Wasser fürs Abendessen heiß. Es gibt Trekkinnahrung in Form von Couscous mit Gemüse. Nach 8 Minuten Quellen in der Tüte ist die Mahlzeit fertig und tatsächlich richtig lecker.
In alter Manier packe ich meinen Rucksack so, dass ich jederzeit aufbruchbereit bin. Ich befinde mich im Naturschutzgebiet und darf hier eigentlich nicht campen. Und auch, wenn die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass mich um diese Jahreszeit jemand hier aufstöbert, habe ich genügend fluchtartige Aufbrüche von diversen Schlafplätzen hinter mir, um für solche Eventualitäten gewappnet zu sein.
Aus der Gute-Nacht-Nachricht an den Liebsten wird mangels Netz nichts. Ich küsse ihn aus der Ferne und kuschle mich in meinen Daunenschlafsack. Draußen plätschert, rauscht und tropft es vor sich hin. Die Natur singt ein Schlaflied.
Nacht, du Welt da draußen.
31.08.2020 12:36 •
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