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Als ich beim Frühstück mein Handy checke, poppt eine Nachricht meiner Freundin auf. Ich öffne sie und sehe ein Foto meiner Postkarte mit der Aufschrift Verzeih. Darunter ihr Kommentar: Hab' ich soeben erledigt. Was hältst du davon, zusammen ein Probetraining im Fitnessstudio auszumachen?

Eine Welle warmer, dankbarer Zuneigung überspült mich. Der Wert einer Freundschaft. Und auch wenn gerade sämtliche Schweinehunde an ihren Ketten zerren, weil die Vorstellung, noch immer fett und unsportlich in ein solches Etablissement zu gehen, Herpes verursacht, würde ich mir eher einen Finger abhacken, als diesen Vorschlag ablehnen. Challenge accepted schreibe ich zurück.

Und so vereinbaren wir postwendend ein Probetraining und treffen uns am Nachmittag zum Sportklamotten shoppen. Da Übergewicht unser gemeinsames Problem ist, bleibt mir zumindest der Teil des Frustes erspart, der mich gerne mal überkommt, wenn ich mit schlanken Menschen einkaufen gehen soll. Trotzdem bleibt es eine Herausforderung, ein geeignetes Outfit in Zeltgröße zu finden. Dicke Menschen machen anscheinend keinen Sport. Zumindest kaufen sie wohl nicht in gewöhnlichen Sportgeschäften.

Schließlich werden wir bei Tchibo fündig. Zwar kann man den Kaffee nicht trinken, aber wir erbeuten beide je zwei Garnituren Funktionsklamotten, die erfreulicherweise weder neonpink noch abstrus gemustert sind. Die Designer von Kleidung in Übergrößen scheinen ohnehin allesamt Frauenhasser zu sein oder sonstige schwerwiegende Traumata erlitten zu haben. Das ist einer der Gründe, warum ich nur das Allernötigste an Kleidung besitze. Der andere ist, dass ich mein Fett nie akzeptieren wollte und demzufolge auch die Dekoration desselben mit Stoff für verzichtbar erachte. Das Schlimmste verhüllen muss reichen.

Ich finde mich dick immer unattraktiv, egal, was ich trage. Und wenn mir jemand sagt, dass ich ein hübsches Gesicht hätte, läuft er Gefahr, dass ich ihm selbiges verunstalte. Wenn einem partout nichts Positives zum Aussehen einer Person einfallen will, ist das hübsche Gesicht - gerne noch Diminutiv als Gesichtchen verbrämt - das verbale Pendant zum Echt Kölnisch Wasser für die Oma. Ich war die meiste Zeit meines Lebens eine schlanke, schöne Frau. Und während ich mit meinem Alter gut zurechtkomme, kann und will ich das mit meinem Übergewicht nicht.

Ebenso wenig wie mit meiner Angst. Die begleitet mich wie selbstverständlich auch bei diesem Einkaufsbummel. Ich habe Herzstechen, zeitweise einen Puls von 150, obwohl ich nur vor einem Regal stehe und immer wieder heftige Schwindelattacken. Noch vor wenigen Tagen hätte die Freundin mein Beistand sein und mich beruhigen und unterstützen müssen. Ab heute missbrauche ich sie nicht mehr für meine Befindlichkeiten. Stattdessen setze ich mich heimlich ab und zu kurz hin oder gehe unter dem Vorwand, nach etwas Bestimmtem schauen zu wollen, zügig durch den Laden, um etwas runterzukommen.

Die Freundin tut, als bemerke sie es nicht, aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Sie kennt mich zu lange und zu gut. Doch sie schweigt, und als ich von einer Laufrunde durch den Sportladen zurückkomme, zwinkert sie mir kurz zu. Ich zwinkere zurück. Sie ist wunderbar und ich liebe sie.

Als sich die Beute schließlich erfolgreich in unseren Rucksäcken befindet, würde die Freundin gerne noch mit mir Essen gehen. Ich bin eigentlich ziemlich durch, aber ich widerstehe dem Impuls, meine Befindlichkeit in den Vordergrund zu stellen und komme mit. Wir finden einen Platz bei einem Thai, der ohne Geschmacksverstärker kocht und genießen Essen und Zusammensein.

Auf der Fahrt nach Hause lasse ich mir Jefferson Airplane um die Ohren fliegen und singe lauthals mit. Es geht mir gut wie lange nicht mehr.

Wieder ein a.rschlochfreier Tag. Yeehaw.

In der Nacht werde ich mal wieder wach, nassgeschwitzt und mit rasendem Puls. Ich habe beinahe das Gefühl, als habe mein Angsthirn beschlossen, sich seine Spielwiese nachts zurückzuerobern, wenn ich sie ihm tagsüber schon streitig mache. Ich wechsle das Shirt, dabei fällt mein Blick auf meinen friedlich schlafenden Mann. Mein Herz schlägt wilde Kapriolen, aber ich nehme sie irgendwie anders wahr, als sonst.

Während bisher bei diesen Zuständen alles in mir Herzinfarkt! und Notarzt! geschrien hat, betrachte ich die Erscheinungen diesmal fast wie von außen. Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, was anders ist. Die Todesangst fehlt. Obwohl alle Symptome in altvertrauter Heftigkeit auf mich einstürmen, bin ich nicht panisch. Stattdessen denke ich darüber nach, wie oft ich den Liebsten aus seinem Schlaf gerissen und mit meiner Panik überfallen habe.

Ja, ich habe durchaus öfter mit mir gerungen, ob das nötig ist - aber letzten Endes habe ich immer FÜR MICH entschieden. Meine Angst war alles, was zählte. Jetzt sitze ich in meinem Bett mit sich überschlagendem Herzen, rasendem Puls und kaltem Schweiß auf der Haut, der mich zittern lässt, betrachte meinen Gefährten und schäme mich. Das kommt neuerdings öfter vor. Ich mag es nicht, denn es passt so ganz und gar nicht in mein sorgsam gehätscheltes Selbstbild des leidenden, zuwendungsbedürftigen Wesens, das nichts dafür kann, dass es ihm so schlecht geht.

Erkenntnis der Nacht: Selbstmitleid ist definitiv angenehmer als Scham.

Mir ist kotzübel, so sehr rebelliert mein Körper. Anscheinend kann er Scham auch nicht leiden und will seine Panik zurück. Mein Brustkorb wird eng und ich spüre, wie die Angst ihre Finger nach mir ausstreckt. Aber ich will nicht, verdammt noch mal. Ich lege mich wieder hin, klopfe mit meinen Fingerspitzen rhythmisch auf mein Brustbein und suche nach hilfreichen Gedanken. Was habe ich denn früher gemacht, wenn ich mich in den Schlaf denken wollte? Ich war eine Heldin, fällt mir ein. Stimmt! Als Kind habe ich mich genüsslich in meine Bettdecke gekuschelt und mir vorgestellt, ich hätte magische Kräfte und könnte tolle Dinge tun, für die mich alle bewundern.

Ich verfolge diesen Gedanken weiter und erinnere mich, dass ich auch als Erwachsene immer wieder Heldenträume gepflegt habe. Meist, wenn es mir nicht gut ging oder wenn ich eine Niederlage wegstecken musste. Dann hat mich meine Phantasie diese und andere Situationen souverän und mutig bewältigen lassen. Ich habe mich stark geträumt.

Die Idee gefällt mir und ich versuche, mir einen Heldentraum zu erschaffen. Es ist ein bisschen mühsam, weil ein Teil meines Hirns angstvoll an den Käfigstäben rüttelt und ein anderer spöttisch grinsend fragt, ob ich jetzt völlig bescheuert bin. Du könntest dich als Indianer verkleiden und unter wildem Geheul um einen Baum tanzen, schlägt er vor. Dann wäre der Weg in die Klapse endgültig frei. Ich schubse die blöde Stimme zurück in den Orkus und konzentriere mich auf meinen Heldentraum. Welche Herausforderung könnte ich wohl lösen?

Mir fällt der Tag ein, an dem ich voll von Emotionen durch den immer dunkler werdenden Wald gestolpert bin. Ich stelle mir vor, wie ich ganz auf mich gestellt aus einem fremden Wald herausfinde. Au ja! Ich mag Abenteuer. Das könnte funktionieren. Während ich mir das Szenario zurechtlege, schlafe ich ein.

Auf dem Laufband denke ich über meine nächtliche Superwoman-Eskapade nach. Schon schräg, muss ich zugeben. Ich bin 57 Jahre alt und fasele mir ein Phantasieabenteuer zurecht. Fällt das noch unter Einfach nur ballaballa oder ist das bereits beginnende Altersdemenz? Jedenfalls scheint es mir besser, diese Sache für mich zu behalten. Sicher ist sicher.

Und doch: Ich bin nicht in Panik verfallen, habe nicht jegliches Mitgefühl verloren und den Liebsten aus dem Schlaf gerissen, bin nicht abgedreht. Naja, zumindest nicht in Sachen Panik, meldet sich der Teil meines Hirns zurück, der schon in der Nacht so blöd gegrinst hat. Wer heilt, hat recht, sage ich trotzig und schalte das Laufband entschlossen höher.

Es läuft jetzt auf Stufe 16 von 30, und ich stelle fest, dass ich inzwischen ziemlich flott unterwegs bin. Da ich grade keinerlei Körperchaos habe, probiere ich aus, ob ich auch laufen kann. Ich muss mich kurz festhalten, weil der Rhythmuswechsel ungewohnt ist, aber dann trabe ich tatsächlich. Ich JOGGE. Schnell stelle ich fest, dass ich beim JOGGEN weniger denken kann. Stattdessen bin ich mit Atmen beschäftigt und muss meine Schritte auf dem Band koordinieren.

Fünf Minuten nehme ich mir vor. Nach der Hälfte habe ich Schnappatmung und mein Herz fängt an zu stolpern. Ich zucke kurz zusammen, aber dann laufe ich weiter. Das Band läuft nicht schneller als vorher, einzig die Bewegung ist eine andere. LAUF ALTE! motiviere ich mich. Ich tackere meinen Blick auf der Uhr fest und bringe die fünf Minuten tatsächlich rum. Ein Blick auf meine Pulsuhr verrät mir, dass der bei 160 liegt.

Ein Stich durchzuckt meinen Brustkorb und ich bin kurz davor, panisch vom Band zu hopsen, aber dann packe ich an die Haltegriffe und gehe weiter. Es fehlen noch 8 Minuten, um meine 30 zu vollenden. GEH ALTE! sage ich laut. Ich probiere kurz aus, ob ich an meinen nächtlichen Phantasien anknüpfen kann, aber das funktioniert nicht. Ist vielleicht auch besser so. Trotzdem beruhigt sich der Puls, und als ich am Ende des Trainings erneut auf die Fitbit gucke, ist er bei 115. Nicht so schlecht für eine fette Schnecke.

Ich gönne mir einen Grinseblick in den Spiegel: Gut gemacht, Superwoman.

A


Mein erfolgreicher Weg aus der Hypochondrie

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Zitat von Calima:
das verbale Pendant zum Echt Kölnisch Wasser für die Oma.

ich brech hier ab vor lachen

Wenn Du das mal als Taschenausgabe in Printform veröffentlichst, bitte ich um eine signierte Erstausgabe xDDD

Ich habe eine neue Herausforderung angenommen: Nix mehr A.rschloch sein.

Die Idee ist, mit meinem Eheliebsten so umzugehen, wie ich es tun würde, wenn es die Angst nicht gäbe. Noch während ich das für mich formuliere, stelle ich fest, dass ich mich nicht so wirklich erinnern kann, wie das denn eigentlich aussieht. Dass ich mich schon wieder schäme, wird anscheinend zur Gewohnheit. Es ist kein nettes Gefühl und ich mag es nicht leiden - und doch tut es gut, es wahr- und anzunehmen, denn es nimmt mich in die Pflicht.

Je näher ich es betrachte, um so deutlicher erkenne ich, dass es mir endlich eine Motivation liefert, an mir zu arbeiten. All die Jahre war ich der Vampir, der Zuwendung, Rücksichtnahme, Trost aus meinem Gefährten herausgesaugt hat, um meine eigenen Wunden zu versorgen. Bekommen hat er dafür ein jammerndes Bündel dauernden Elends, das ihm Lebenszeit geklaut und ihn zum Mitgefangenen der eigenen Angst gemacht hat.

Mir kommen die Tränen ob dieser ziemlich unfreundlichen Selbsterkenntnis. Vor meinem inneren Augen sehe ich seinen tief enttäuschten Blick, als ich an seinem Geburtstag zitternd von Angst der Feier mit Freunden und Familie ferngeblieben bin. Ich wollte lieber mal wieder sterben, statt mit ihm das Leben zu feiern. Weitere solche Bilder tauchen auf, immer mehr. Es sind so viele. Ihre Wucht ist so gewaltig, dass sie mich von den Füßen reißt. Mir wird schwindlig, ich falle auf den Boden, haue mir den Kopf an der Stuhlkante an.

Das tut weh und bringt mich wieder in die Gegenwart zurück. Ich hocke mit tränennassem Gesicht am Boden und reibe mir die gerade entstehende Beule. Hirnblutung! brüllt mich unverhofft die Angst an und sofort stimmt mein Körper in den Reigen ein und startet das volle Programm. Gleichzeitig habe ich einen ganzen Strauß potentieller Symptome bei der Hand: Kopfschmerzen: Hab' ich. Die Beule pocht dumpf vor sich hin und strahlt in den Kopf aus. Sprachstörungen: Ich versuche, einen Satz zu formulieren. Der Hamster frisst keine Gardinen. Den Satz kriege ich augesprochen, aber der Inhalt versetzt mich in weitere Panik. Bin ich noch klar bei Verstand? Angespannt checke ich weiter. Lähmungen: Ich bewege versuchsweise Hände und Füße. Der linke Arm fühlt sich komisch an.

Ich bewege ihn stärker, es geht, aber irgendetwas scheint nicht zu stimmen. So, als ginge das Gefühl drin verloren. Ich kratze mit den Fingernägeln der rechten Hand über die Haut am linken Arm und spüre fast nichts. Die Panik in mir eskaliert.Jetzt wird auch mein linkes Bein komisch. Ich kratze und rubble hektisch über alle möglichen Körperteile, um einen Unterschied zu erkennen. Auf der linken Seite habe ich kaum noch Empfindungen.

Alle meine guten Vorsätze sind vergessen und ich schreie nach dem Gefährten. Nach dem dritten Ruf fällt mir ein, dass er zum Baumarkt gefahren ist. TELEFON. NOTARZT! Ich will aufstehen, um mein Telefon zu holen. Das linke Bein trägt mein Gewicht nicht und ich falle wie ein Sack zur Seite. Schreiend und schluchzend robbe ich zum Handy und rufe den Notarzt. Ich kann den linken Arm nicht mehr heben, nur noch den Zeigefinder bewegen und das linke Bein nicht belasten, ohne dass es wegknickt.

Drei Stunden, ein MRT und eine Injektion Diazepam später ist klar, dass ich weder eine Gehirnblutung noch eine Lähmung habe. Willkommen zurück, Angst.

Spinnst du? raunzt mich irgendwer in meinem Hirn an. Anscheinend hat ihn der Krach des MRT aufgeweckt. Du wirst nicht wieder in Selbstmitleid verfallen! Okay. da ist tatsächlich jemand zurück. Ich sitze neben dem Liebsten, meine Hand in seiner und warte auf den Arztbrief. Ich schaue ihn an, er schaut zurück, lächelt und drückt meine Hand. Wie geht's dir? fragt er sanft. Prima antworte ich und muss nicht mal schwindeln. Das Benzo sorgt für watteweiche Schäfchenstimmung in meinem Innern. Cooles Gefühl eigentlich.

Nur zu, knall dir noch ein Suchtproblem oben drauf! ätzt mich die Stimme von eben erneut an. Glücklicherweise bin ich zumindest in dieser Beziehung safe und ignoriere das Gemecker. Ich bin erschöpft, was nach einer ausgeprägten Gehirnblutung mit Halbseitenlähmung nicht so ungewöhnlich ist. Gleichzeitig ärgere ich mich über den Rückfall. Da denke ich gerade darüber nach, wie ich ein besserer Mensch werden kann - zack! Angst zurück.

Bin ich wirklich ein schlechter Mensch? Die Gedanken tropfen ein wenig zäh und beinahe diffus durch meine Gehirnwindungen. Könnte an dem Zeug liegen, das durch meine Adern kreist. Jedenfalls schäme ich mich nicht und fühle auch sonst relativ wenig. Ganz so cool ist das Mittelchen doch nicht, finde ich. Ich will kein schlechter Mensch sein. Verdammt, ich hab' mir diese Sch.eißangst doch nicht ausgesucht! Okay, hast du nicht. Aber du gibst sie auch nicht mehr her. Die Stimme scheint eine gewisse Resistenz gegen Diazepam zu haben. Und gegen Selbstmitleid.

Während wir im Auto sitzen, denke ich darüber nach, ob ich tatsächlich eine blöde Kuh bin. Prompt sehe ich mich auf einer Wiese stehen und eine riesige Glocke an meinem Hals hin und her schwingen. Ich muss grinsen. Bescheuerte Bilder denken kann ich ganz offensichtlich mit und ohne Substanzen in meinem Blut. Nein, denke ich. Ich bin eigentlich ganz okay. Eine Menge Sachen habe ich im Leben ganz gut hingekriegt. Und mindestens ebenso viele gewaltig verbockt, tönt es aus den hinteren Reihen. Anscheinend lässt das Benzo nach.

Ich gebe der Stimme recht. So manche Dinge haben Luft nach oben. Vor allem mein Umgang mit dem Liebsten. Er sitzt ernst neben mir am Steuer. Ich weiß, dass er Musik im Auto liebt. Und mit offenem Verdeck fahren. Okay, nicht unbedingt Ende November, aber grundsätzlich. Und ich habe grundsätzlich was dagegen, weil es meinem kränklichen Zustand meist nicht gustiert. Wenn ich sterbe, ist mir alles zu viel. Draußen schickt die Sonne ihre letzten Strahlen des Nachmittags auf die Erde. Ich frage: Gehen wir Essen? Er wirft mir einen ungläubigen Blick zu. Sicher? fragt er.

Unbedingt, sage ich. Ich drehe das Radio auf: Emily Autumn mit Fight like a g.irl dröhnt aus den Boxen. Der Liebste hat eine Menge davon in seinem Auto. Als wir an einer Ampel anhalten, öffne ich das Verdeck. Was haben die dir gegeben? Hast du einen Vorrat gekriegt fragt der Eheholde und grinst. Zum ersten Mal an diesem Tag, und mir wird warm ums Herz. Er setzt seine Cabriomütze auf, die immer im Türfach steckt. Ich ziehe die Kapuze meines Hoodies über die Ohren.

Fight like a g.irl. Aber sowas von!

Auch an diesem Morgen jogge ich wieder auf dem Laufband. Inzwischen kann ich auf viele Wochen sportliches Durchhalten zurückschauen und komme nicht umhin, mir auf die Schulter zu klopfen. Seit ich meinen fetten Hintern in Bewegung gesetzt habe, ist auch vieles andere in Bewegung gekommen. Offensichtlich ein dynamisches Geflecht, dieses Körper-Geist-Seele-Dingens.

Nach dem Frühstück habe ich trotzdem wieder ordentlich Herz und bin kurz versucht, mir wieder mal ein bisschen leid zu tun, weil sich einfach keine bleibenden Verbesserungen einstellen wollen. Kaum denke ich, dass ich endlich einen Fuß in der Tür habe, fegt mich die Angst wieder von den Füßen. Erstaunlicherweise kriege ich den dabei oft entstehenden Fressdruck ganz gut niedergebügelt. Wenn ich schon sterbe, dann wenigstens dünn. Müssen sich wenigstens die Sargträger nicht mit einem XXL-Modell rumplagen. So.

Der Eheholde kommt pfeifend aus dem Bad, aber mir entgeht nicht, wie er mich aus den Augenwinkeln scannt. Auch diese Erkenntnis ist mal wieder schmerzhaft: Sein Tag hängt von meinem Zustand ab, und er muss ständig auf der Lauer liegen, um diesen einzuschätzen und sich entsprechend darauf einzustellen. Das reicht, um meinem Selbstmitleid in den Hintern zu treten. Er soll nicht mehr unter mir leiden. Er ist nicht krank, aber ich zwinge ihn, mein krankes Dasein mitzuführen.

Aber doch nicht mit Absicht, jammert ein wehleidiges Stimmchen. Sonderlich überzeugend klingt es nicht. Natürlich habe ich mir die Angststörung nicht ausgesucht und wäre sie lieber heute als morgen los. Trotzdem ist es MEINE Störung. Und ich habe, verdammt noch mal, nicht das Recht, sie zu unserem gemeinsamen Schicksal zu machen. In guten, wie in schlechten Tagen, tönt das Mimimimi und wird beinahe nissig. Stimmt. Aber das heißt ganz sicher nicht, dass ich die Fürsorge in schlechten Tagen für mich abonniert habe.

Wir beide füreinander war unser Ehegelöbnis, das wir vor fast 25 Jahren abgelegt haben. Das hat sich ganz gewaltig nach einer Seite verschoben. Ich muss schlucken. Wie glücklich waren wir damals. Nein, nicht nur zum Zeitpunkt unserer Hochzeit. Wir haben eine verdammt gute Zeit miteinander geteilt. Und genau die will ich wiederhaben. Will sie für mich zurückerobern, aber vor allem meinem Gefährten schenken. Jetzt ist er dran. Und wenn es das Letzte ist, was ich in diesem Leben fertigbringe.

Dann beeil' dich besser mal, faucht es in meinem Kopf, während Salven von Extrasystolen und elektrischen Ladungen durch meinen Körper rauschen und mich nachdrücklich an mein potentiell baldiges Ende erinnern. Draußen stürmt der November und peitscht Regen gegen die Fensterscheiben. Das Universum hat offensichtlich ein Händchen für Dramaturgie.

Du bist ein bisschen blass, sorgt sich der Liebste. Ich spüle mit einem kräftigen Schluck Cappuccino - über dessen Genuss ich grade wegen des akuten Herzgebarens auf der Panikebene meines durchaus multitaskingfähigen Hirns nachgedacht habe - meine Stimme frei und bastle gleichzeitig ein entspanntes Gesicht zurecht. Das liegt am Licht, gelingt mir sogar ein humorvoller Unterton. Novemberregen steht mir nicht. Ich registriere, wie sich sein Gesicht entspannt.

In mir tobt es derartig, dass ich mich am liebsten schluchzend in seine Arme werfen würde. Halt mich fest. Rette mich. Lass mich nicht sterben. Ich brauch dich so. Wir könnten ins Hallenbad fahren sage ich stattdessen und komme nicht umhin, mich zu fragen, auf welcher Gehirnebene dieser Satz wohl entstanden ist. Wohl auf der, die sich direkt neben der Unzurechnungsfähigkeit befindet. Ich habe mich seit Jahren in keinen Badeanzug mehr gewagt, geschweige denn mich in einem solchen der Öffentlichkeit ausgesetzt. Ich hole Luft, um das Angebot zurückzunehmen.

Oh Mann, Schwimmen wär' richtig richtig toll! Die Sehnsucht in seiner Stimme ist unüberhörbar. Würdest du wirklich mitkommen? Der Zweifel leider auch. Ist vielleicht doch nicht so eine gute Idee, drängelt es in mir nach oben.

Klar. Irgendwann muss ich ja mal ausprobieren, ob ich überhaupt noch schwimmen kann, ist das, was meine Stimmbänder tatsächlich erzeugen. Oh ja! Lass uns gleich losfahren! Mein Gefährte explodiert förmlich vor Freude und Tatendrang, springt auf, drückt mir einen Kuss auf die Backe und stürmt nach unten, um seine Sachen zu packen. Mir wird kotzübel. Ich kriege noch ein Lächeln in mein Gesicht gezwungen und dann gerade noch die Kurve ins Bad. Dort würge ich das eben genossene Frühstück ins Klo. Mein Kreislauf rutscht weg, und ich klammere mich an der Kloschüssel fest.

MistMistMistMist. Ich kann nicht verhindern, dass ich weine. Aber ich tue es leise. Kein aufmerksamkeitsheischendes Schluchzen heute. Im Gegenteil: Ich will nicht gehört werden in meinem Elend. Und gesehen schon gar nicht. Also rapple ich mich hoch, wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser und trainiere Lächeln vor dem Spiegel. Es gab schon bessere Versuche, aber für den Notfall wird es taugen.

Überrascht stelle ich wenig später fest, dass ich ganz locker in meinen Badeanzug passe. Bei meinem letzten Versuch vor ca. 6 Jahren habe ich die Träger nur mit Anstrengung über die Schultern bekommen. Ich riskiere einen flüchtigen Blick auf mein Spiegelbild. Blöderweise bin ich dicker, als ich für einen kurzen Moment gehofft habe. Aber egal. Da muss ich jetzt durch. Und wenn mich das gesamte Schwimmbad zur fettesten Wassernixe ever kürt: Ich werde meinem Liebsten den Spaß nicht verderben. Heute nicht.

Die Autofahrt ist der blanke Horror. Mein Brustkorb krampft, mein Kopf explodiert und mein Herz stolpert und sticht. Ich ergreife die Flucht nach vorn und singe lauthals We will rock you von Queen mit, das gerade aus den Boxen plärrt. Als das Lied zu Ende ist, geht es mir tatsächlich etwas besser. Das Gefühl kippt erneut, als wir aussteigen und zum Schwimmbad gehen. Mir ist schwindlig wie Sau und ich hänge mich beim Eheholden ein, grinsend und wie ein Kind hopsend, anstatt ihn anzuheulen, wonach mir eigentlich wäre. HEUTE NICHT.

Die Angst lässt mich während des kompletten Schwimmbadbesuchs nicht aus den Klauen. Aber ich lasse nichts aus. Nicht den Strömungskanal, nicht das Wellenbad und auch nicht die Rutschen. Bei jeder neuen Aktion bin ich überzeugt, dass es die letzte meines Lebens sein wird. Dann heftet sich mein Blick auf das fröhliche, entspannte Gesicht meines Gefährten und ich generiere erneut ein Lachen in meinem Gesicht, obwohl ich mich am liebsten wimmernd in einer Ecke zusammenrollen würde. HEUTE NICHT.

Ich überstehe. Ich überlebe. Zu Hause falle ich völlig erschöpft ins Bett und schlafe fast sofort ein. Ungeachtet des rasenden Herzens. Ich bin so fertig, dass mir sogar das Sterben egal ist.

Als ich aufwache, ist in mir alles friedlich. Ich rieche Kaffeeduft und geselle mich mit einem Cappuccino zum Liebsten auf die Couch. Er legt sein Buch weg und nimmt mich in den Arm. Es ist so schön, dass es dir heute so gut geht, sagt er sanft.

Ja. Das tut es.

Mach bitte einen Tatsachenroman draus, bei deinem Talent, mit so viel Humor den ganzen Mist beschreiben zu können. Und ich will auch ein handsigniertes Exemplar, Calima als Unterschrift reicht mir vollkommen aus.

Zitat von Icefalki:
Mach bitte einen Tatsachenroman draus, bei deinem Talent, mit so viel Humor den ganzen Mist beschreiben zu können.

Das bin ich auch voll dabei : D

Tage wie gestern verstören mich zutiefst. Wenn all meine Mühe, all meine Kraft und mein Einsatz letzten Endes doch wieder in Angst und Panik enden, zweifle ich daran, mich aus diesem Zustand befreien zu können. Komme ich mit all meinen Selbstwirksamkeitserfahrungen hier an meine Grenzen?

Beim Abnehmen mache ich nichts anderes: Tagtäglich Schweinehund in die Tonne treten, rauf aufs Laufband und mein Essen kontrollieren. Ich wiege ab - das Essen und mich selbst - notiere penibel alles, was in die Futterluke wandert, verzichte auf Süßkram, Chips, Kuchen und auch weitestgehend Nudeln und Brot, esse gesund, bio und ausgewogen und widerstehe der Versuchung, Essen zu etwas anderem zu benutzen, als zu meiner Ernährung. Das ist ebenfalls harte Arbeit, die Tag für Tag, Stunde für Stunde getan werden will.

Ich schreibe seit Beginn meiner Abnahme in einem Abnehmforum. Von den 10 Leuten, die mit mir gemeinsam begonnen habe, ist noch eine einzige übrig geblieben. Alle anderen haben aufgegeben. Am Anfang fand ich das Forum hilfreich, mittlerweile muss ich mir anhören, dass meine Konsequenz abnormal und krankhaft sei, und ich mir bloß nichts auf meine Erfolge einbilden solle, weil ich sowieso im Jojo landen werde.

Notiz an mich: Tagebuch dort schließen und die neidische, träge Bande in ihrem Fett ersticken lassen. Nota Bene: Tagebuch nicht schließen, stattdessen jede Woche meine Abnahme posten und eine Galerie von Erfolgsfotos einstellen, wenn ich schlank bin. Erkenntnis: Manchmal bin ich ein Luder.

Mir wird bewusst, dass ich nicht daran zweifle, mein Wunschgewicht zu erreichen. Ich tue, was ich tun muss und habe Erfolg. Den kann ich auf der Waage messen: 14 Kilo sind es inzwischen. Die bescheuerte Angst verwehrt mir aber den Lohn für meine Mühe, im Gegenteil: Sie plagt mich mit Zuständen in einer Intensität, wie ich sie zum Teil lange nicht erleben musste. Was, wenn das immer so weitergeht, egal, wie sehr ich mich plage?

Das Selbstmitleid breitet eine Hängematte aus, und ich lasse mich hineinfallen. Während ich weinend darin rumschaukle, fällt mir auf, dass ich gerade null Angst habe. Die komfortable Position sorgt anscheinend dafür, dass mein Hirn den Wellnessmodus aktiviert. Das macht mich misstrauisch. Zu Recht, wie sich zeigt, denn ich kann quasi zuschauen, wie Gift in meine Gedanken kriecht und mich denken lassen will, doch einfach mit dem ewigen Kampf aufzuhören. Vielleicht werde ich ja gesund, wenn ich mich nicht ständig (über-) fordere.

Gerade noch rechtzeitig fällt mir wieder das Abnehmforum ein. Wie oft habe ich gelesen, dass man sich keinen Druck machen und Ziele nicht zu ehrgeizig setzen darf. Immer von Leuten, die keinen Erfolg hatten. Wer etwas erreichen will, findet Wege. Alle anderen finden Ausreden. Los, ihr Wege, zeigt euch gefälligst!

Ich krame in meinem Hirn nach Selbstwirksamkeitserfahrungen. Sofort habe ich Felsen vor meinem inneren Auge. KLETTERN. Ich sehe mich vor der Wand. Gewaltig ist sie, beeindruckend. Ich bin 17 Jahre alt und eine geübte Kletterin. Mein Vater war Bergführer und hat mir alles beigebracht, was ich wissen muss. Als Erstes, dass man nicht allein an den Berg geht. Niemals. Als Zweites, dass eine gute Sicherung über Leben und Tod entscheidet.

Und nun will ich diese Wand durchsteigen. Allein. Ohne Sicherung. Es ist gefährlich, aber ich bin überzeugt, dass es machbar ist. Ich bin weder verrückt noch leichtsinnig. Aber ich will diese Herausforderung bestehen. Und so fange ich an, die Wand zu studieren. Ich sitze stundenlang, tagelang vor ihr und lege meine Route fest. Jeden Griff, jede Bewegung denke ich exakt voraus. Ich beschäftige mich in jeder Minute mit ihrem genauen Ablauf. Nachts stelle ich den Wecker, um auch im Halbschlaf jeden Move zu beherrschen. Dann gehe ich los - und kehre an der Wand wieder um. Es fühlt sich nicht passend an, obwohl ich nicht besser vorbereitet sein könnte.

Das Gleiche passiert an den folgenden zwei Tagen. Aber ich will in die Wand und gehe auch am vierten Tag wieder los. Und dieses Mal stimmt alles. Ich klettere. Mein Körper folgt meinem Gehirn. Griff um Griff, Zug um Zug. Ich bin völlig im Einklang mit mir und dem Fels. Auch als ich die schwierigste Stelle erreiche, ist alles genauso, wie ich es geplant habe. Ich hänge mit 3 Fingern der rechten Hand an zwei Zentimetern Fels und muss mit der linken einen Punkt einen Meter links oberhalb erreichen. Es gibt nur einen Versuch. Misslingt er, falle ich gute 20 Meter, aber darüber denke ich jetzt nicht nach. Ein Zurück gibt es ohnehin nicht, nur ein Weiter.

Ich konzentriere mich, atme und schnelle mit dem nächsten Herzschlag nach oben. Die Finger finden Halt, eine Sekunde später auch die rechte Fußspitze. Der Rest fügt sich geschmeidig.

Ich stelle fest, dass ich noch immer jede Bewegung vor Augen habe. Und auch ein Fünkchen dieses unbeschreiblichen Gefühls, als ich es geschafft hatte, regt sich leise in meinem Inneren. Mit einem tiefen Atemzug rolle ich die Selbstmitleids-Hängematte ein. Ich will sie nicht. Ich will weiterklettern.

Absturzrisiko inbegriffen und akzeptiert.

Super Beiträge, finde mich echt wieder!

In der Nacht träume ich vom Klettern. Es ist die Art von Träumen, bei denen man auf einer halb bewussten Ebene Widersprüche und Unstimmigkeiten wahrnimmt, diese aber gleichzeitig durch das Traumgeschehen wieder auflöst. Ich klettere eine neue Wand, die mir dennoch irgendwie vertraut erscheint. Nachdem ich eingestiegen bin, wird mir bewusst, dass ich schneckenfett und seit Jahrzehnten völlig untrainiert bin. In diesem Zustand ein free solo zu klettern, ist demzufolge ein Kamikaze-Unternehmen mit todsicherem Ausgang.

Statt zu verzweifeln besinne ich mich aber auf das, was ich mal konnte und klettere einfach weiter. Weder Übergewicht noch fehlendes Training machen sich bemerkbar. Ich mache - typisch Traum - Moves, die nicht mal Ron Fawcett hinbekommen hätte, springe, fliege und klebe völlig anstrengungsfrei am Fels.

Als ich heute Morgen aufwache, ist der Traum noch sehr präsent und motiviert mich zu einer flotten Joggingrunde auf dem Laufband. Los geht's mit Stufe 18 - schließlich bin ich seit heute Nacht Spiderwoman herself. Nach knapp zehn Minuten stelle ich fest, dass ich die Verwandtschaft mit dem Spinnenvolk wohl noch mal hinterfragen sollte. Mangels diffundierenden Sauerstoffs in mein Gewebe, schnappe ich japsend nach Luft, um selbige in meine Lungen zu befördern. Außerdem habe ich Seitenstechen.

Ich schalte das Band 3 Stufen runter und versuche, einigermaßen ruhig weiterzutraben. Mein Herz pumpt wie ein Dieselmotor unter Vollast - und just als ich diesen Vergleich anstelle, springt mich die Panik an. So früh am Morgen eine solche Belastung ist ganz sicher brandgefährlich. Die meisten Herzinfarkte passieren in den frühen Morgenstunden. Warum fällt mir eigentlich immer wieder dieser bescheuerte Satz ein? Meinem Herzen ist der Ursprung meiner Gedankengänge grade schnurz, weil es auch ganz prima einfach so ein bisschen rumstolpern kann.

Ich bin sehr versucht, einfach vom Band zu hüpfen, verpasse mir aber stattdessen eine imaginäre Kopfnuss und laufe weiter. Nix wird gestorben, lauf einfach, blöde Kuh, sage ich laut, denn mit starker Selbstempathie habe ich in solchen Momenten gute Erfahrungen gemacht. Gleichzeitig versuche ich, das Herzgerumpel und das Seitenstechen zu ignorieren. Nach weiteren zwei Minuten gebe ich doch nach und verfalle aus dem Lauf in einen zügigen Schritt. Tatsächlich verschiebt sich nach nochmal zwei Minuten das Ringen um ausreichende Blutzufuhr von den Muskeln wieder zugunsten der Organe.

Dem Herzen ist auch das schnuppe, es stolpert eigensinnig vor sich hin und versetzt mir mehrere scharfe Stiche in den Brustkorb. Anscheinend meint es, seinem Anliegen mehr Nachdruck verleihen zu müssen. In meinem Kopf rasten hörbar ein paar Angstscharniere ein, aber ich halte mit all meiner Sturheit dagegen. Was ich gerade tue, ist gesund für mein Herz und meinen Körper. Das Bild der nächtlichen Felswand schiebt sich vor mein inneres Auge. Ich habe früher weit größere Belastungen ausgehalten. Das Adrenalin und die Belastung haben mit Sicherheit für hohe Pulsfrequenzen gesorgt.

Wie hoch, weiß ich nicht. Ich habe sie nie gemessen. Ich erinnere mich an atemlose Euphorie und ein rasendes Herz. Beides hat mich nie auch nur im Ansatz beunruhigt. Es war normal und gehörte zum Klettern, wie die Cuts in der Hornhaut der Hände. Wenn ich es recht überlege, hätte mir das aufgeregte Herzklopfen vermutlich sogar gefehlt. Nein. Hätte es vermutlich nicht. Ich schalte meiner Erinnerungsverklärung den Realitätsfilter zu. Was bleibt, ist dennoch die ruhige Erkenntnis, dass Anstrengung und Aufregung erhöhte Herzaktivität bedingen. Ganz ohne Sterbeszenario.

Mein Herz nimmt das anscheinend ausnahmsweise mal zur Kenntnis und benimmt sich wieder normal. Leber und Milz haben sich auch wieder in den Wohlfühlbereich geatmet, und ich trabe noch mal an, um die letzten 10 Minuten im Laufen zu absolvieren. Meine Gedanken klebe ich - wie die nächtliche Spiderwoman - an den Fels vor meinem inneren Auge.

Da will ich wieder hin, wird mir klar. Vielleicht nicht mehr unbedingt ins free solo, aber an die Wand. Wobei: Think big.

Man braucht Ziele, wenn man nach Wegen sucht.

Und wieder liegen Tage in der Angsthölle hinter mir, fünf diesmal. Mein Körper scheint sich mit allem, was er aufbieten kann, zu wehren. Ich verbringe drei Nächte nahezu komplett draußen, weil mich im Liegen Atemnot und Herzschmerzen fast verrückt machen. Draußen gehe ich in meinem Garten auf und ab, rezitiere mal wieder Gedichte und versuche, die Geräusche der Nacht zu analysieren. Zwei Stunden Schlaf in unserem Gästefass sind das Maximum, was ich hinkriege. Das macht die Tage nicht leichter. Immerhin kriege ich auf diese Weise 27814 Schritte auf meiner Fitbit zusammen.

Ich hadere, heule, fluche, verzweifle. Noch nicht mal die Schule lenkt mich ausreichend ab. Im Unterricht habe ich das Gefühl, völlig neben mir zu stehen und jeden Moment umzukippen. Mein Mund macht Witzchen, diskutiert, lehrt und analysiert, aber ich bin dabei nicht anwesend. In meinem Kopf taucht der Rolling-Stones-Mund auf und ich strecke mir selbst die Zunge raus.

Warum gibt diese schei.ßdr.ecks vepisste Angst nicht endlich auf!? Was soll ich denn noch alles machen, damit es besser wird? Die Wogen des Selbstmitleids schlagen über meinem Kopf zusammen und ich weine, weine, weine. Es ist stockfinster, eiskalt und der Himmel heult nächtlichen Novemberregen. Irgendwann bin ich leergetropft und hundemüde. Ich rolle mich in meinem Schlafsack im Fass zusammen, kann aber nicht einschlafen.

Was machst du eigentlich hier? fragt mich irgendwer in meinem Kopf. Drinnen wartet ein warmes, kuschliges Bett. Ja. Und daneben das meines Liebsten, der im Schlaf oft so süße, kuschlige, leise Grummellaute von sich gibt. Mir wird warm ums Herz. Um genau das selbe blöde Herz, das einfach keine Ruhe geben will und mir jede nur mögliche Variante seines Repertoires an Lebensäußerungen um die Ohren haut, damit ich es bloß nicht vergesse. Du bist ein Sche.ißmuskel, also mach deinen Job und lass mich in Ruhe! faucht meine Stimme durch das Fass. Der Sch.eißmuskel rührt sich nicht. Vermutlich kann er auch schmollen.

Die Wut macht mich wieder munter. Ich setze mich auf, zünde eine Kerze an und gieße mir eine Tasse Tee aus meiner Thermoskanne ein. Mit einem Löffelchen Honig. Mache ich sonst nicht, weil es nicht in meinen Abnehmplan passt, aber manchmal braucht das Leben ein wenig Zucker. Achtung! warnt mich mein innerer Diätassistent. Jaja, schon recht. Ich werde nicht wieder damit anfangen, Essen als Heilpflaster zu benutzen.

Überhaupt gelingt es mir trotz des ganzen Mists erstaunlich gut, mein Essverhalten im Griff zu behalten. Okay. Bis auf gestern. Da stehe ich völlig überraschend im Drive-In bei MD, weil irgendwer anscheinend den Autopilot meines Busses aktiviert hat. Ich habe sogar ausreichend Zeit, mir ein umfangreiches Menu bestehend aus ungefähr zwei Dritteln des Speisekarteninhalts zusammenzustellen, bevor die Lautsprecherstimme mich aus meiner Trance weckt. Ob wohl viele Leute wegen einer Tasse Kaffee in den Drive-In fahren?

Der heiße, süße Tee tut mir gut. Irgendwie scheint er das trocken geweinte Vakuum in meinem Inneren aufzufüllen. Mit jedem Schluck weicht auch ein Stück des Gefühls, in Sachen Angstbekämpfung die Totalversagerin zu sein. Ich schaffe es, den Blick auf das zu richten, was ich in den letzten Tagen hingekriegt habe. Ich war arbeiten. Zwar primär körperlich, aber immerhin. Ich habe jeden Tag Sport auf dem Laufband gemacht. Voller Panik teilweise, aber dennoch. Plus die zusätzliche Latscherei durch Nacht und Wind.

Vor allem aber habe ich nur für mich geheult. Keine einzige Träne, kein Rumgejammere vor dem Eheliebsten. Kein Wort über meinen beschissenen Zustand. Trotz seines prüfenden Blicks, der so schmerzlich vertraut ist, weil er seine Sorge um mich ausdrückt. Ich habe sogar hingekriegt, diesen mit einem Augenzwinkern oder einem Lächeln zu beantworten. Obwohl in mir gerade alle Höllenhunde von der Kette waren. And the Oscar goes toooooo...! Ich überreiche mir tatsächlich einen imaginären Pokal.

Finde das gleichzeitig so bescheuert, dass ich über mich selber den Kopf schüttle. Trotzdem geht es mir besser. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es gleich 6 Uhr ist. Samstag. Die Option, doch noch eine Runde zu schlafen, verwerfe ich nach kurzer Überlegung. Stattdessen ziehe ich mich wieder an und mache mich auf den Weg zum Bäcker. Der Regen hat aufgehört, anscheinend hat auch der Himmel gelegentlich die Schnauze voll von der Rumheulerei.

Der wunderbare Duft der Bäckerei am frühen Morgen beglückt mich. Ich gönne mir einen Espresso im Stehen - ohne Zucker diesmal - und mache mich mit einer Tüte warmer Brötchen im Rucksack auf den Heimweg.

Ich decke den Frühstückstisch im Wintergarten, um den noch schlafenden Eheholden nicht zu wecken und marschiere meine morgendliche Laufbandrunde. Zum Rennen bin ich doch zu müde, aber ich gehe so flott wie möglich. Als ich aus der Dusche komme, höre ich den Liebsten an der Kaffeemaschine werkeln. Er lächelt. Ich lächle zurück.

Später beim Frühstück sagt er: Du bist viel besser drauf in letzter Zeit. Das ist echt klasse.

BÄMMMMMM.

Ich setze erstmal ein kommentar um dein tagebuch nicht aus den augen zu verlieren. Ich mag deinen schreibstil von der ersten zeile an und bin gespannt wie du dich entwickelst.

Liebe grueße

Die Aussage meines Eheholden beschäftigt mich. Es ist mir ganz offensichtlich gelungen, meinen miesen Zustand so erfolgreich vor ihm zu verbergen, dass er an eine Besserung desselben glaubt.

Und genau bei diesem Gedanken rumsen in meinem Inneren zwei Emotions-LKW mit voller Kraft frontal aufeinander. Der eine beladen mit Freude und Erleichterung darüber, dass ich endlich ein Stück der großen Last von ihm nehmen kann, die ich ihm mit meiner Angst all die Jahre schon aufbürde. Der andere randvoll mit Rumgeheule darüber, dass es mir aber verdammt noch mal nicht wirklich besser geht.

Das bringt meine Gehirnwindungen mal eben geschmeidig zum Glühen. Mein neues besseres Ich freut sich für den Liebsten. Er soll nicht mehr ausbaden müssen, wofür er nichts kann. Mein altes Ego-Ich stampft mit den Füßen auf den Boden und will auf den Arm. SEINEN Arm. Warum muss ich mich verbiegen und quälen, nur um ihm bessere Gefühle zu verschaffen, während ich in Wahrheit leide wie ein Hund?

Und wieder rastet eine Erkenntnis hörbar in meinem Kopf ein. Die Zuwendung und Streicheleinheiten, die mir bisher zuteil wurden, wenn ich dem Liebsten meine Zustände vor die Füße gerotzt habe, haben gut getan. So gut, dass ich nach nur wenigen Tagen massiv auf Entzug bin. So viel zu meiner Bereitschaft, mich verändern zu wollen.

Prompt finde ich mich selber zum Kotzen. Kann es sein, dass ich ihm nicht gönne, gut drauf zu sein, wenn ich selbst es nicht bin? Sofort bricht lautstarker Protest auf den billigen Plätzen los. SELBSTVERSTÄNDLICH will ich, dass es ihm gut geht. NATÜRLICH wünsche ich ihm, dass er glücklich ist. Was für eine Frage! Schließlich LIEBE ich ihn. Und doch bist du neidisch, regt sich ein leises, aber deutliche Stimmchen gegen den Chorus der anderen. Neidisch darauf, dass er gesund und unbeschwert sein kann. Neidisch, dass er in der Nacht wie ein Murmeltier schläft und am Morgen gut gelaunt aufsteht. Neidisch auf seine Energie und seine Unternehmungslust. Neidisch... OkayOkayOkay. Ich hab's zur Kenntnis genommen.

Und ich kann es, wie so manch andere Erkenntnis, kein bisschen leiden. Ich möchte es gern wegschieben, denn es schmerzt. Ich bin kein missgünstiger Mensch. Schon gar nicht dem Herzliebsten gegenüber. Und doch muss ich mir gerade eingestehen, dass ich mir öfter schon gewünscht habe, es ginge ihm mal wie mir. Nur damit er spürt, WIE SCHLIMM sich das anfühlt, und dass ich ich mich nicht grundlos so verhalte, wie ich es tue.

Bittere Erkenntnis, die 100000: Ich bin ein egoistisches A.rschloch. Nach wie vor.

Weil sich meine Angst nicht in Luft auflöst, möchte ich ihn weiterhin zum Mitleidenden machen. Dass ich mich nicht verbiegen will, entlarve ich klar als billige Ausrede. Manchmal ist es ganz schön lästig, messerscharf analysieren zu können. Mich mit meinen eigenen Waffen schlagen ist nicht weniger schmerzhaft. Und doch: Er hat ein Recht auf sein unbeschwertes Leben. Und wenn ich je ein Recht auf seine Anteilnahme an meinen Problemen beanspruchen hätte dürfen, dann habe ich das in all den Jahren mehr als ausgereizt. Ein weniger geduldiger, weniger liebende und auch weniger leidensfähiger Partner hätte längst das Weite gesucht.

Das selbstmitleidige, trotzige Kindchen-Ich jammert leise im Hintergrund vor sich hin. Ich klebe ihm ein Pflaster auf den Schmollmund.

Eine neue Erkenntnis tropft in mein Hirn: Ich befinde mich in der beneidenswerten Situation, meine Liebe retten zu können. Das sollte ich als Chance betrachten, anstatt rumzuheulen, dass ich nicht mehr gehätschelt werde.

Kurzer Check: Habe ich weniger Angst, wenn der Herzliebste davon weiß? Nein. Definitiv nicht.

Beschluss des Tages: Her mit dem nächsten Oscar!

Zitat von Calima:
Ich habe mich dazu entschlossen, mein Tagebuch, das ich während meines Kampfs gegen meine Angststörung geschrieben habe, hier zu veröffentlichen. Vielleicht kann mein Weg für den/die eine/n oder andere/n hilfreich sein, Mut machen oder Inspiration bieten. Es ist weder Ratgeber noch Anleitung. Es beansprucht nicht für sich, Lösungen zu bieten - einfache schon gar nicht. Es beschreibt meine ganz persönliche Auseinandersetzung, meinen Weg, der für mich funktioniert hat.Zu mir: Calima, aktuell 60 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder, drei Enkelkinder. Ich bin Tierärztin und Lehrerin. Als Tierärztin ...
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Danke, für diese Texte.
Ich finde mich darin wieder und es hilft mir im Moment sehr.
Ganz liebe Grüße und vielen Dank.

Die tägliche Bewegung bringt einiges in Gang - im wahrsten Sinne des Wortes.

Auch wenn ich mich täglich auf's Laufband treibe - egal, wie stark Angst und Unlust in mir fauchen - merke ich, dass mein Körper unterschiedlich leistungsfähig/ -willig ist. An manchen Tagen jogge ich problemlos 30 Minuten flott vor mich hin, während ich an anderen ziemlich viel Kraft brauche, um überhaupt die 30 Minuten durchzuhalten. Blöderweise ist diese Bewegungssache aber auch immer eine Diskussion mit meinem Hypochonder-Ich. Und wenn ich dem auch nur eine Sekunde zu lang zuhöre, schickt es mich sterben.

Und so überlege ich, was ein normaler, gesunder Mensch tun würde, wenn er beim Laufen kaum einen Fuß vor den anderen kriegt. Vermutlich würde er für dieses Mal drauf verzichten. Ganz schlechte Idee! raunzt mich postwendend mein innerer Schweinehundbändiger an. Ich gebe ihm Recht. Mit Sicherheit würde sehr schnell die Schweinehundregel greifen: Ausfallen lassen, schleifen lassen, sein lassen.

Nicht machen ist keine Option. Es sei denn, ich habe mindestens 38,5 Fieber oder akuten Brechdurchfall. Kopfschmerzen, Herzstolpern, Schwindel und Übelkeit zählen nicht. Einmal Kotzen auch nicht. Schließlich betreibe ich keinen Leistungssport, sondern bewege mich 30 Minuten am Stück vorwärts. Davon kriege ich mit absoluter Sicherheit auch dann keine Herzmuskelentzündung, wenn ich wirklich krank wäre.

Dabei fällt mir ein, dass ich schon recht lange auf der halben Stunde festsitze. Stillstand ist Rückschritt mahnt es von irgendwoher. Ich möchte echt gerne wissen, wann ich all diese Lebensweisheiten inhaliert habe. Oder nein. Lieber doch nicht. Es reicht, dass sie da sind - und hin und wieder sind sie ja recht nützlich. Jetzt zum Beispiel. Spontan beschließe ich, meine morgendliche Laufbandzeit auf 45 Minuten auszuweiten.

Bäääähhhhh! Noch mehr Quälerei! protestiert es nölig, und ich erinnere mich wieder an meine körperliche Wahrnehmung von Schwäche an manchen Tagen. Wie soll ich das denn packen, wenn ich mich schon durch 30 Minuten quäle? Ganz einfach: Indem du es MACHST, erinnert mich mein besseres Ich. Jaja, schon gut. Ich weiß es ja. Erneut mache ich mir bewusst, dass auch eine Dreiviertelstunde nicht der New-York-Marathon ist. MARATHON, blitzt es in meinem Hirn auf. Wer zum Teufel kann 42 Kilometer RENNEN? Ich könnte sie aktuell nicht mal gehen. Stattdessen ringe ich mit mir, ob ich 45 Minuten hinkriege. Das sind bei meinem Tempo schätzungsweise 3-5 Kilometer, je nachdem, ob ich gehe oder laufe.

Ich geh' googeln: Die schnellste Marathon-Läuferin Paula Radcliffe ist den London-Marathon in 2 Stunden 15 Minuten und 25 Sekunden gelaufen. Sämtliche 42,19 Kilometer. Okay, sie war dabei geschmeidige 27 Jahre jünger als ich gerade. Ich lese ihre Daten: 54 Kilo auf 173. Okay. Und nicht weniger geschmeidige 40 Kilo leichter. Die 5 Zentimeter, die sie größer ist, schenke ich ihr.

Ich bin immer noch eine fette Kuh. Eine fette Kuh, die sich Gedanken darüber macht, ob es ihrer Befindlichkeit gustiert, ein paar Minuten am Tag ihr Fett zu bewegen. Allein die Vorstellung, 42 Kilometer am Stück zu RENNEN, verursacht gerade Schwindel und Herzrasen. Schon recht praktisch, diese Angst. Kaum denke ich auch nur an eine Herausforderung, bedient sie mich artig mit Symptomen, die mir meine Grenzen aufzeigen.

Ich schiebe das Körpergetue weg. Mrs. Radcliffe ist sicherlich nicht vom Faulenzen erfolgreich geworden. Vermutlich ist sie jeden verdammten Tag ihres Lebens gelaufen, gelaufen, gelaufen. Egal, wie die Befindlichkeiten waren.

Entschlossen gehe ich mich umziehen. Eine halbe Stunde war ich heute Morgen schon auf dem Band. Jetzt will ich nach draußen. Beim Zubinden der Laufschuhe ist der Puls auf 130. Ich ziehe die Pulsuhr aus und schmeiße sie auf den Tisch. Soll sie sich mit dem vergnügen. Zur Abwechslung regnet es mal wieder, aber das ist mir schnurz. Ich stelle mir vor, was mein Trainer sagen würde, wenn ich denn einen hätte. Beweg' deinen faulen Ars.ch! fasse ich die Ergebnisse meiner Überlegungen zusammen und gehe los.

Bis zu meinem Waldweg gehe ich, dann laufe ich los. Ich habe noch keine Erfahrung mit dem Laufen im Freien, wenn man von meinem ungeplanten Survivaltrip mal absieht. Sonst gibt das Band den Takt vor, jetzt muss ich ihn selber finden. Nach ungefähr 3 Minuten - irgendwo scheine ich meine Uhr abgelegt zu haben - japse ich wie Fisch beim Landgang. Anscheinend war ich zu schnell. Also gehe ich ein Stückchen, dann trabe ich wieder an. Langsamer diesmal. Mein Herz stolpert einen gegenläufigen Rhythmus zu dem meiner Schritte, meine Brust sticht zweimal hintereinander heftig.

Pfeif drauf. Ich habe bisher überlebt, ich kenne den S.cheiß doch längst. Mein Hypochonderhirn legt sich ins Zeug und ballert an Angstgedanken raus, was er aufbieten kann. Ich kneife mir schmerzhaft in den Oberarm. AUA! Der Gedankenfluss stoppt kurz, und ich nutze den Moment, um bewusst zu denken: Ich bin gesund. Ich will schlank und fit werden. Und deswegen laufe ich jetzt weiter.

Unter meinen Füßen quatscht und quietscht es. Noch ist der Boden nicht gefroren, und ich patsche durch Matsch und Pfützen, dass es nur so spritzt. Ich bin dankbar über die Entscheidung. wasserdichte Laufschuhe erworben zu haben. Auch wenn der Rest tropfnass ist: Trockene, warme Füße sind prima. Natürlich geht das Körpergetue weiter, aber ich höre weg. Jetzt umfallen und tot sein wäre so schlimm nicht, denke ich.

Oha. Jetzt höre ich mir angesichts dieser plötzlichen Todessehnsucht doch wieder zu. Nein, gibt mein Hirn Entwarnung. Nix Sehnsucht. Ich renne ja genau deswegen hier durch den Dreck, weil ich leben will. LEBEN. Nicht angstvoll vegetieren und rumhypochondern. Wovor habe ich eigentlich die ganze Zeit so viel Angst? Vor dem Tod, klar. Aber wovor genau?

Vermutlich gibt es bessere Orte, um sich derartig tiefschürfende Gedanken zu machen. Ich stolpere über meine eigenen Füße und fliege beinahe auf die Nase. Aber das ist mir grade egal. Ich überlege weiter. Endgültig Abschied nehmen macht mir Angst. Die Vorstellung, meine Lieben nicht mehr zu sehen oder nicht mitzukriegen, wie meine Enkelkinder groß werden. Das Leben loslassen.

Beinahe fange ich an, mir angesichts dieser traurigen Vorstellung leidzutun. Das kann ich echt gut. Aber jetzt gerade will ich nicht. Stattdessen denke ich: Wenn ich mitten in der Rennerei umfalle und sterbe, habe ich überhaupt keine Zeit mehr, mich um all das zu sorgen. Peng. Licht aus. Das Leid und die Trauer haben die, die ohne mich weiterleben müssen. Nicht ich.

Die Erleichterung durchflutet mich wie eine warme Welle. Plötzlich umfallen ist nicht schlimm, erkenne ich. Nicht für mich. Ich kriege nix mehr davon mit. Meine Großmutter fällt mir ein: Kinder, seid's freundlich zu mir, wenn ich erst mal die Radieschen von unten beguck', hab' ich nix mehr davon. Ich schicke ihr ein Küsschen in den regentropfenden Himmel über mir.

Ich erinnere mich, dass ich ähnliche Geistesblitze schon mehrmals hatte, welche mir aber immer nur kurzfristige Erleichterung bescherten. Aber irgendwas scheint anders diesmal. Es ist nicht Erschöpfung, die völlige Überlastung, das Aufgeben, was in mir spricht. Es ist das simple Erkennen der Tatsache, dass ein plötzlicher Tod kein Leiden bedeutet. Wovon sich meine Angst nährt, ist das Ausmalen der Verluste, die ich haben werde, wenn ich sterbe. Verluste, die ich aber gar nicht registrieren werde, wenn ich umfalle.

Ich trete in eine Pfütze, die so tief ist, dass mir das Wasser oben in den Schuh läuft. So viel zum Thema trockene Füße. Ich ärgere mich kurz darüber, dann muss ich lachen. Das Gefühl eines nassen Fußes ist so viel greifbare Realität.
So viel LEBEN.

Ich jogge noch vom Waldweg zum Haus zurück. Beim Öffnen des Tors spüre ich einen Schmerz am linken Oberarm.

Memo an mich: Mich daran erinnern, dass ich mich gezwickt habe, wenn ich angesichts des blauen Flecks Leukämie kriege.

Drin verrät mir ein Blick auf die Uhr, dass ich soeben 43 Minuten auf meinem Waldweg gerannt bin.

Yeeehaw!

Weihnachten steht vor der Tür. Wie jedes Jahr überrascht mich das. Was mich ebenfalls überrascht, auch wenn ich es kontinuierlich kontrolliert habe, ist mein Gewicht. 86 Kilo. Ich habe in 11 Wochen 24 Kilo abgeworfen. Bis zum Heiligen Abend in 4 Tagen werde ich ein weiteres schaffen.

Damit mir das nicht allzu leicht fällt, möchte der Eheholde mit mir auf den Weihnachtsmarkt. YESSS!

Ich hinterfrage mal eben die Sinnhaftigkeit meiner neu antrainierten Verhaltensweise, die vorsieht, keinen Vorschlag zu einer gemeinsamen Unternehmung abzulehnen, die der Liebste anregt. Bereitwillig springen sofort die innere Emanze und der Autonomiecoach darauf an und versichern mir, dass ich eine eigenständige Persönlichkeit bin und ein verdammtes Recht auf das Erfüllen meiner eigenen Bedürfnisse habe. Das Selbstmitleids-Häschen hoppelt um die Ecke und merkt an, dass ich doch weiß Gott schon genug leisten und mir nicht auch noch zusätzliche Lasten aufbürden müsse.

Ich horche in mich hinein, ob ich mich vielleicht ein wenig krank fühle. Tue ich nicht. Irgendwie scheint in letzter Zeit nicht mehr so viel Verlass auf meine Symptome. Mein Herzchen antwortet mit zwei kleinen Hopsern, zu mehr scheint es nicht bereit. Mal wieder knirscht es im Gebälk. Ertappe ich mich gerade tatsächlich dabei, dass ich nach Anzeichen für Krankheit suche, um einer Sache aus dem Weg zu gehen?

Da habe ich seit einer Weile mal endlich ein wenig mehr Ruhe vor dem Körpergetue und ZACK! fange ich an, es mir zurückzuwünschen? Das kann nicht mein Ernst sein. Ich schicke alle inneren Kommentatoren auf die Stille Treppe und gehe mich anziehen. Es ist tatsächlich ein wunderbarer Tag für einen Weihnachtsmarktbummel: Zwar fehlt der Schnee, aber es hat gefroren und die ganze Natur ist von glitzerndem Reif bedeckt.

Ich öffne mein Inneres für den märchenhaften Anblick. DAS ist es, worauf es im Leben ankommt: Wahrnehmen, welche Wunder um einen herum geschehen, die Schönheit des Augenblicks genießen, mich freuen, dass ich Teil davon sein darf. Ich atme tief ein.

Beim Ausatmen fällt mein Blick zufällig auf mein Spiegelbild und der Gedanke an Schönheit verflüchtigt sich mit einem lauten PLOPP. Auch mit 24 Kilo weniger bin ich immer noch fett. Vielleicht kein Blauwal mehr, eher ein Finnwal. Oder sogar schon ein Pottwal. Bis ich Flipper zu mir sagen darf, ist der Weg noch weit. Also auf zum Weihnachtsmarkt!

Die Düfte hauen mich um. Nachdem ich in den letzten Monaten tapfer jedem Keks, jeder Schokolade aus dem Weg gegangen bin, fallen die Gelüste über mich her wie die Blutegel in einem Mangrovenwald. Früher habe ich mich wie die Raupe Nimmersatt von einem Stand zum anderen gefressen. Erst wenn absolut nichts mehr in mich hineinpasste, bin ich nach Hause gegangen - schon auf dem Heimweg gepeinigt von Reue, schlechtem Gewissen und Ärger auf mich selbst.

Okay: Offensichtlich die richtige Erinnerung. Mein gieriger Blick klärt sich allmählich. Neben mir beißt der Eheholde gerade in ein paar Bratwürste vom Grill. Bratwurst mit Brötchen: 570 Kalorien meldet mein Diätassistent, der offensichtlich aus der Schockstarre erwacht ist. Das wären fast zwei Drittel meines Tagesbudgets. Ist eigentlich gar nicht so wichtig, weil ich eh keine Bratwürste esse. Trotzdem registriere ich zufrieden, dass mich meine Disziplin wieder am Wickel hat.

Es wird ein wunderbarer Spätnachmittag. Ich genieße die Atmosphäre, die lachenden Gesichter um mich herum, den Arm des Liebsten um meine Schultern, während er mit dem anderen ein Crêpes jongliert. Als ich ein wenig später meinem Gefährten mit einer Tasse Cappuccino zuproste und er lächelnd seinen Glühweinbecher hebt, ist die Welt so rund, wie sie es lange nicht mehr war.

Prompt registriere ich, dass mich eine andere Ebene meines Bewusstseins auf Symptome scannt. Ich werde beinahe sauer. Warum zum Teufel kann ich es nicht lassen, permanent meine Befindlichkeiten abzufragen? Es ist, als würde ich mir nicht gönnen, einfach nur glücklich und zufrieden zu sein. Oder mir nicht vertrauen. Ein Schatten legt sich auf meine eben noch so wunderbare Stimmung.

Energisch schiebe ich ihn weg. Ich will mich nicht mit mir beschäftigen. Jetzt nicht. Und auch sonst nicht dauernd. Das macht mir ganz offensichtlich nur schlechte Laune. Bin gleich wieder da, sagt der Eheholde und drängelt sich durch das Gewühl von mir weg. Ich rieche an seinem Glühwein und weil er nach Weihnachten duftet, nippe ich daran. BRRRRR! Schnell nehme ich einen Schluck Cappuccino hinterher. Was für ein Zuckergesöff!

Memo an mich: Nicht alles, was danach schreit, gegessen und getrunken zu werden, ist es auch wert. Auch dann nicht, wenn es gut riecht.

In diesem Moment legt mir der Liebste von hinten etwas um den Hals. Ich entdecke ein großes Lebkuchenherz. Herzallerlieb steht drauf. Ich drehe mich um, sehe seine strahlenden Augen. Wir küssen uns.

Weihnachten.

Ich fand mich so oft wieder, also wie ich früher war .
Und habe so herzhaft lachen müssen. Du hast eine tolle Art zu schreiben !
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Das neue Jahr hat begonnen, das erste seit Langem, in das ich mit Optimismus und Energie starte. Mein Ziel, bis zum Neujahr unter 80 Kilo zu kommen, habe ich nicht gepackt, aber dafür ist es heute, am Dreikönigstag so weit: 79,5 Kilo und damit 30,5 Kilo weniger Fett auf meinen Rippen. Das kann ich gut leiden.

Inzwischen sprechen mich Leute auf meine Abnahme an, teils bewundernd, teils besorgt. Ich selbst sehe sie nicht, auch wenn ich an meinen Klamotten merke, dass ich abgenommen habe. Noch immer mag ich mich nicht im Spiegel anschauen und gehe jedem mit einer Kamera in der Hand, weiträumig aus dem Weg. Und damit bin ich wieder bei dem, was ich überhaupt nicht gut leiden kann:

Es geht mir einfach nicht schnell genug. Nicht mit dem Abnehmen und auch nicht mit dem Angst Loswerden. Und so rutsche ich immer wieder ins Selbstmitleid, weil ich am Morgen nicht als zierliche Gazelle mit dem Herz einer Löwin aufwache. Mir geht dieser ständige Kampf sowas von auf den Senkel. Ich will dünn sein und schön und meine Leichtigkeit zurück. Jawoll.

Na, dann geh' mal den Jungbrunnen suchen, ätzt es aus der vernunftbegabten Ecke meines Denkorgans. Würde ich tatsächlich noch mal jung sein wollen? Ich brauche ein Weilchen, bis ich mit dem Nachdenken fertig bin. Das Ergebnis ist mal wieder eindeutig mehrschichtig. Ich wäre gern schlank und angstfrei und das war ich in jungen Jahren - also ja. Andrerseits kann ich auf all die emotionalen Sensationen, die Irrungen und Wirrungen, die Beschränkungen meiner Freiheit durch die Kindererziehung und eine Menge anderer Sachen ganz prima verzichten. Nicht, dass ich all das nicht in meinem Leben haben wollte. Es ist Teil von mir, und ich wäre nicht die querdenkende alte Schachtel, die immer noch mehr Hippie im Kopf ist, als die Mehrzahl ihrer Studierenden ohne all diese Erfahrungen. Aber wiederholen muss ich sie trotzdem nicht.

Glücklicherweise taugt mein Hirn nicht zu allzu großer Erinnerungsverklärung und somit erledigt sich das Selbstmitleid für heute. Mein Leben nochmal leben, wäre definitiv nicht weniger anstrengend, als da weiterzumachen, wo ich grade bin.

Meine Englischlehrerin fällt mir ein: Focus, pupils, focus! Concentrate on the essence! tönt ihre Stimme durch meinen Kopf. Sie klingt noch genauso nach Blecheimer wie vor....ähhhh...45 Jahren. Ich bin immer wieder erstaunt, wer sich so alles in den Tiefen meiner Gehirnwindungen herumtreibt. Trotzdem krame ich artig nach der Essenz, die einer weiteren Fokussierung bedarf.

Vor meinem inneren Auge taucht ein schlanker, trainierter Körper auf. Mein Körper. Es ist nicht der eines jungen Mädchens und auch das Gesicht passt eher ins Hier und Jetzt, aber der Fetzenrock, den ein imaginärer Windstoß wild um meine Beine flattern lässt und die enge Bluse aus weißer Baumwollspitze entstammen definitiv meinem studentischen Kleiderschrank. Ich kann sogar den Duft von Sandelholz riechen, den in dieser Zeit alle meine Klarmotten trugen.

Memo an mich: Sandelholzparfum kaufen.

Ich merke, wie ich mich entspanne. Solche Bilder tun mir ganz offensichtlich gut. Besser, als all die Horrorszenarien, die meine ausgeprägte Phantasie nicht minder anschaulich konstruieren kann, wenn ich mich vor dem Sterben fürchte. Dann ist der Schritt von einem blauen Fleck zum imaginären Anblick meines von Krankheit gezeichneten Körpers mit Vollglatze nach Chemotherapie nur ein winziger. Wahlweise auch der von einem stolpernden, rasenden Herzen zu meiner Todesanzeige, in der die Worte plötzlich und unerwartet vorkommen.

Ich erschrecke ein bisschen, als mir bewusst wird, wie schnell und mühelos ich von einem wunderschönen Gedanken in gleich zwei Horrorszenarien switchen kann. Lang genug geübt, konstatiert mein innerer Archivar und schüttelt sich dabei den Staub aus den Klamotten.

Das habe ich in der Tat. Viel zu lang. Ich mache mir klar, dass ich seit inzwischen gut drei Wochen keinen wirklichen Panikanfall mehr hatte. Gefühlte 500 Ansätze mit dem Potential, einer zu werden, durchaus. Mein Herz beweist eine gewisse Hartnäckigkeit in seinem Bestreben, mir seine Existenz immer wieder deutlich vor Augen zu führen. Und es schert sich einen S.cheiß darum, dass ich ihm immer wieder erzähle, dass es gesund ist. Renitenz liegt anscheinend in der Familie, knurrt es aus der Erzieherecke. Wie der Herr, so des Gscherr! gackert eine ganze Batterie blöder Hühner hinterher.

So unrecht haben sie nicht: Warum sollte sich mein Körper anders verhalten, als es auch mein Geist tut? Interessante Perspektive, wie ich finde. Als ich Free Solos geklettert bin, war mein Geist fokussiert auf die Bezwingung des Bergs. Und mein Körper ist gefolgt. Griff um Griff, Atemzug um Atemzug. Der winzigste Gedanke an den Absturz hätte genau diesen zur Folge gehabt. Damals hat mein Verstand meinen Körper kontrolliert.

Wenn ich Angst habe, übernehmen die Gefühle die Kontrolle. Und mein Körper folgt ihnen ebenso, wie damals meinem Verstand. Mir wird klar, dass ich in den vergangenen Monaten das Gewicht tatsächlich wieder ein Stück zugunsten meines Verstands verschieben konnte - obwohl die Emotio sich äußerst ungern die Fäden aus der Hand nehmen lässt. Deswegen ist es s.cheiße anstrengend, es trotzdem immer wieder zu tun. Regie führen im eigenen Kopf, tanzt ein Gedanke durch denselben.

Darüber schiebt sich das Bild der schlanken Frau im sandelholzduftenden Fetzenrock.

Kann ich grade sehr gut leiden.

Hallo Calima
vielen Dank, dass du deine Erfahrungen hier veröffentlichst. Obwohl ich mit deiner Überschrift nicht wirklich was anfangen konnte, denn ich bin absolut kein Hypochonder, klickte ich auf deinen Link und las mal kurz rein.
Deine Art zu schreiben hat mir so gefallen, dass ich nun alle Seiten gelesen habe und es hat mir viel neue Motivation gegeben.
Freu mich auf Fortsetzung.

Hallo Calima,
vielen Dank für das Einstellen deines Tagebuches. Ich verfolge es mit Spannung. Ich habe großen Respekt vor deinem Umgang mit der Erkrankung und möchte dir auch sehr herzlich zu deinen Erfolgen gratulieren. Bin schon ganz neugierig auf die Fortsetzung.
Alles Liebe für Dich.

A


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