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In der Nacht kann ich nicht schlafen und höre ein wenig in meinem Fettlogik-Buch herum. Die simple Botschaft in für mich genialer Verpackung: Wenn ich weniger Kalorien aufnehme, als ich brauche, werde ich abnehmen. Je weniger Kalorien ich zu mir nehme, desto schneller wird das gehen - und: Je weniger Kalorien ich zu mir nehme, umso mehr muss ich auf deren gute Qualität achten.

Ich amüsiere mich erneut köstlich über all die Diätmythen und Ausreden, die ich allesamt schon selber von mir gegeben habe. Klasse ist auch, dass ich abnehmen kann, ohne eine Sportskanone zu sein/ werden. Das entlastet mich, weil ich früher oft Abnehmversuche abgebrochen habe, wenn ich den Sport wegfallen ließ und dann frustriert dachte, jetzt sei es eh sinnlos.

Mit dem Vorsatz, morgen mit gesunder, kalorienreduzierter Ernährung anzufangen, schlafe ich ein.

Beim Aufwachen bin ich diesmal schlauer und stehe SOFORT auf, sobald ich die Augen 3 Sekunden am Stück offen lassen kann. Ich klettere im Halbschlaf in meine Sportklamotten und stehe nach kurzem Stopp im Badezimmer 5 Minuten später auf dem Laufband.

Kein Eichhörnchen heute - schade irgendwie. Dafür aber auch grade kein Herztod, und ich lasse nicht zu, das näher zu hinterfragen. Ich weiß ja, wo das enden wird. Stattdessen besinne ich mich auf gestern und nehme mir vor, mindestens 20 Minuten auf Stufe 4 zu gehen. Ganz schön schnell, finde ich, als das Band anläuft, und ich mich in Bewegung setze.

Egal. Es hat gestern geklappt, es wird heute wieder klappen. Basta. Mein Vater fällt mir ein: Eine Leistung ist immer erst dann eine Leistung, wenn sie wiederholbar ist. Vorher ist sie Zufall. Stimmt das? Ich diskutiere ein Weilchen mit mir, was nicht so ergiebig ist, weil ich mich für keine Wahrheit entscheiden kann. Den gestrigen Tag werte ich schon als Leistung, schließlich habe ich der Herzinfarkt-Panik erfolgreich getrotzt.

Die Funktionsweise meines Hirns erstaunt mich mal wieder. Ich bin 57 Jahre alt und Großmutter. Was suchen die Weisheiten meines werten Herrn Papa in meinem Kopf? Und was treibt mich dazu, mich von ihnen hinterfragen zu lassen? Ich überlege kurz, ob ich mich davon ärgern lassen will und komme zu dem Schluss, dass es mich eigentlich gerade ganz prima davon ablenkt, über mein körperliches Befinden nachzudenken.

Also gut, Papa, was hattest du denn sonst noch an Sprüchen auf Lager? Die Erinnerung kommt prompt: Geht nicht, gibt's nicht. Ich kann nicht heißt, ich will nicht. Geholfen wird nur dem, der sich selber bemüht. Oha. Widerspruch regt sich. Es gibt sehr wohl Lebenslagen, in denen etwas nicht geht. Wenn man krank ist, zum Beispiel. Ich höre es förmlich in meinem Hirn knirschen.

Sind meine Krankheitsängste ein Versuch, mich vom Funktionieren-Müssen abzuhalten? Ich bin tatsächlich eine Macherin. Wenn ich recht überlege, gab es keine einzige Situation in meinem Leben, in der ich resigniert oder aufgegeben habe. Ich bin durchaus recht häufig auf dem Bauch gelandet - aber irgendwann war die Schockstarre zu Ende und ich habe mich wieder aufgerappelt. Dabei habe ich mich immer wieder als enorm selbstwirksam erlebt - ein gutes Gefühl.

Der Tod lässt sich nicht beeinflussen - auch von einer Macherin nicht. Womit ich beim Thema Kontrolle wäre. Und bei der - schon in der Therapie gefundenen - Erkenntnis, dass ich alles andere als ein Kontrollfreak bin. Eher das Gegenteil. Ich kann prima planen und organisieren, liebe zum Beispiel gute Unterrichtsvorbereitungen, aber ich kann ebenso gut alle Pläne über den Haufen werfen, wenn die Situation sich anders entwickelt.

Das stresst mich nicht, sondern bringt meine Gehirnwindungen in Schwung und führt mich öfter mal zu regelrechten Höhenflügen an kreativen Lösungen. Mich stört Unordnung nicht sonderlich, solange ich finde, was ich suche. Ich mag Abenteuer, bin viel gereist und habe als Backpackerin im asiatischen, südamerikanischen und afrikanischen Ausland mehr als einmal Situationen erlebt, die auch unschön hätten enden können.

Passt also nicht so recht zum Kontrollthema. Ich besitze nur die allernötigsten Versicherungen. Klingt auch nicht nach extremem Sicherheitsbedürfnis. Und ich brauche immer das Gefühl von Freiheit in meinen Beziehungen. Sowohl was mich selbst betrifft, als auch in Bezug auf meinen Partner. Ich könnte niemals mit einem Mann leben, der sich nicht selbst genug ist und nicht auch ohne mich zurecht käme. Ich hasse Abhängigkeiten. Wirtschaftliche wie persönliche.

Meine Kinder habe ich immer zur Selbstständigkeit erzogen.Und jetzt bin ich gerne Oma, aber ich lasse mich als solche nicht in die Pflicht nehmen.

Das Wort Abhängigkeit schlägt ein paar Kapriolen in meinem Hirn. Gesund sein, heißt unabhängig sein. (Schwer) krank sein bedeutet, sich in Abhängigkeiten zu befinden. Holla, die Waldfee!

In diesem Moment bremst mein Laufband: Die 25 Minuten, die ich vorhin einprogrammiert habe, sind um. 20 waren mein Ziel, jetzt sind es 5 mehr geworden. Die Leistung ist wiederholt und übertroffen! schießt es durch meinen Kopf.

Yesssss, Papa.

Der Tag beginnt wieder auf dem Laufband. Ich habe mir vorgenommen, eine bereits erreichte Marke nicht mehr zu unterschreiten. Also heißt es heute 25 Minuten auf Stufe 4. Erfreulicherweise gelange ich völlig stressfrei vom Bett auf Band. Mein selbst auferlegtes Verbot des Systemchecks beim Aufwachen greift.

Das führt auch dazu, dass ich nicht mit mir diskutiere, ob ich nun Lust habe, Sport zu machen oder nicht. Die Antwort wäre eh klar: Faul wie ich nach wie vor bin, hätte ich nie Lust. So aber gehe ich einfach, auch hier wieder meine Therapeutin im Ohr, die mir immer wieder sagte, dass ich etwas TUN müsse, um Dinge zu verändern.

Als tu ich. Versuchsweise mal mit Musik. Um den schlafenden Eheholden nicht zu stören, stopfe ich mir die In-Ears meines iPhone in die Öhrchen. Das sorgt dafür, dass ich die ganze Zeit damit beschäftigt bin, die Dinger am Rausfallen zu hindern. Ich hab ganz offensichtlich die falschen Ohren für sowas. Die Musik an sich ist aber schon cool.

Memo an mich. Sportkopfhörer besorgen.

Mein Herz macht hin und wieder ein Hüpferchen, aber irgendwie stresst mich das nicht so sehr, wie noch vor ein paar Tagen. Die Erfahrung, dass ich das Gehen bisher immer gut überlebt habe, gibt Sicherheit. Ich bemühe mich aber auch, nicht so genau hinzuhören. Wenn ich sterbe, sterbe ich ob ichs nun vorher beobachtet habe oder nicht. So.

Hey, Alte, du bist ganz schön aufmüpfig! Ich grinse ein bisschen vor mich hin und nehme mir vor, morgen auf 30 Minuten aufzustocken, wenn es heute gut läuft. Gerade fetzt mir Nightwish mit End of all hope um die Ohren. Von wegen! Nixda Ende. Hoffnung ist mein zweiter Vorname!

Nach dem Morgencappuccino starte ich eine Süßigkeitenrazzia: Alle Vorräte, von denen ich weiß, dass mein Mann sie nicht mag, packe ich ein, so ist der Plan. Nach ungefähr 3 Minuten Räumen gehe ich in den Keller, um meine Einkaufstasche durch eine Kiste zu ersetzen. Aus Platzgründen. Meine Fresse, was da alles zusammenkommt: Gummibärchen in allen Varianten, Schaumküsse, Erdnussflips, TUC-Kekse, Schokolade in allen Geschmacksrichtungen, Pralinen, Rocher, Oreokekse, Prinzenrolle, MMs, Lebkuchen, Popcorn und SCHOKORIEGEL nahezu aller Hersteller.

Gut, dass ich so früh am Morgen nie Hunger habe. Ich hole eine zweite Kiste.

Schließlich bin ich durch damit. Das Zeug reicht, um eine vierköpfige Familie in Rekordzeit zu Typ-2-Diabetikern zu machen. Dass meine eigenen Werte sich noch im Grenzbereich befinden, ist angesichts dieses Overkills ein mittelprächtiges Wunder. Auf dem Tisch befindet sich der Süßkram, den ich für den Liebsten zurückbehalten will. Er beläuft sich auf ein durchaus überschaubares Häufchen: 2 Marzipanriegel, 2 Packungen Lebkuchen ohne Glasur, 3 Tafeln Bitterschokolade, 1 Packung Chips. Das wird dem Eheholden für die nächsten 6-8 Wochen reichen, er ist in dieser Hinsicht recht genügsam.

Also ungefähr so lang, wie mir der Rest. Hmpf. Irgendwer hat mal gesagt, dass die Begriffe Konfekt und Konfektionsgröße unmittelbar miteinander korrelieren. Könnte was dran sein.

Ich habe beschlossen, das ganze Zeugs mit in die Schule zu nehmen. Der Tisch in der Lehrerküche ist ein schwarzes Loch: Was immer man an Essbarem darauf stellt, verschwindet innerhalb von Nanosekunden im Hyperraum. Im Weggehen fällt mir das Eis ein. Die Einkaufstasche wird nun doch noch gebraucht und befördert 3 Großpackungen Mövenpick und 8 große Becher BenJerry's ins Auto.

Auf dem Heimweg kaufe ich gesundes Zeugs ein. Das gebe ich zuhause erst mal artig in meine frisch installierte App ein. Von jetzt an - so der Plan - tracke ich jeden Krümel, den ich mir in den Mund schiebe.

Am Ende des Tages lande ich bei 1534 Kalorien. Mein Tagesmaximum sind 1700. Ich bin satt und zufrieden und stelle völlig überrascht fest, dass ich heute kein einziges Mal gestorben bin. Nicht mal ansatzweise.

So kann's es weitergehen, bitte.

A


Mein erfolgreicher Weg aus der Hypochondrie

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Tut es natürlich nicht. Hinter mir liegen 2 Tage Todesangst, wobei ich mich mal wieder nicht entscheiden konnte, ob ich nun an Herzinfarkt, einem Hirntumor oder Leukämie sterbe.

Es fängt damit an, dass ich beim Duschen einen blauen Fleck am Unterarm entdecke. Ich bin recht hellhäutig und das ist weiß Gott nicht der erste blaue Fleck in meinem Leben. Als Kind war ich aufgrund meines extrem aktiven Renn-, Kletter- und Springlebens permanent übersät damit. Diese Erinnerung hilft mir aber nicht, sondern wird sofort von dem Gedanken niedergebügelt, dass ich - im Gegensatz zu früher - keine Ahnung habe, woher der Fleck kommt.

Ich zermartere mir das Hirn nach einer potentiellen Ursache, finde keine und kriege Schweißausbrüche. Mist, Schwitzen ist ja auch ein Symptom. Mir wird schwindlig, ich muss mich auf den Badewannenrand setzen, um nicht umzukippen.

Gerade noch war ich gut gelaunt vom morgendlichen Sport auf dem Laufband - 30 Minuten auf Stufe 4 - zack! bringt der blöde Fleck alles ins Wanken. Woher kenne ich eigentlich sämtliche bescheuerten Symptome für 1001 Krankheit? Woher kenne ich überhaupt Krankheiten, von denen kein normaler Mensch je gehört hat? Dr. Google hat natürlich seinen Anteil, wobei ich seit meiner Therapie recht erfolgreich die Finger davon lasse.

Okay: Ich hab' Tiermedizin studiert. Und auch wenn Bauchwassersucht bei Fischen oder Hufrehe bei Pferden Menschen eher weniger heimsuchen, gibt es schon eine Reihe von unschönen Dingen, die man sich so aus der Fauna einfangen kann. Interessanterweise hat mich DAS aber niemals geängstigt. Im Studium nicht, während meiner Zeit als Tierärztin nicht und auch nicht jetzt. Könnte vielleicht damit zusammenhängen, dass ich die konkreten Gefährdungsrisiken realistisch einschätzen kann.

Mich haben immer schon Reportagen interessiert - ziemlich egal, zu welchem Thema. Ob schweigende Mönche im Hindukusch, das Liebesleben der Blauflügel-Prachtlibelle oder der Weg der Wolga ins Kaspische Meer. Oder auch die Leprakranken in Indien, ein Leben mit Multipler Sklerose und XYs Kampf gegen den Krebs.

Ich habe auch immer gut Wissen abgespeichert, aber in Sachen Krankheiten scheine ich ein paar Gehirnschleifen extra zu besitzen. Anders ist es nicht zu erklären, dass ich nicht nur die Details aus Reportagen im Hirn behalte, sondern auch die Krankheiten samt Symptomatik, die irgendwelche Schauspieler in irgendwelchen Filmen mimen. Da hocken diese Informationen dann lauernd rum, befinden sich noch nicht mal mehr in meinem aktiven Wissen, doch dann reicht ein Stichwort, ein Bild, ein lapidar dahingesagter Satz von irgendwem und PENG! ist sämtliches Detailwissen auf der Festplatte präsent.

Und leider lässt sich diese Partition der Harddisc nicht löschen oder überschreiben. Hab' ich mehrfach versucht: Hypnose, Texte und Gedichte lernen, NLP. War alles recht nett, aber in Sachen Extinktion von unnützem Wissen völlig wirkungslos.

Und so plage ich mich zwei volle Tage wieder mit Ängsten, von denen ich WEISS, dass sie idiotisch sind, die mich aber trotzdem zum Zittern und Heulen bringen.

Aber: Ich gebe diesmal nicht nach. Wegen akuter Herzpanik war ich gestern zwar nicht auf dem Band, aber dafür habe ich mich bemüht, den ganzen Tag über möglichst viel zu gehen. Die Fitbit zeigt mir am Abend 12349 Schritte, als ich sie abnehme. Ich mache sie wieder dran und gehe noch einen. 12350 gefällt mir besser. Ich muss über mich selber grinsen.Das hebt meine Stimmung und hilft auch gegen die Angst.

Trotz Bewegung bin ich wieder nicht gestorben.

Heute morgen klappt dann auch wieder das Laufband. Ich habe beschlossen, mich erst mal bei den 30 Minuten einzupendeln und nach und nach das Gehtempo zu steigern. Heute noch mal Stufe 4, immerhin hatte ich zwei Tage lang Infarkt.

Ebenfalls erfreulich: Ich habe mein Kalorienlimit eingehalten. Trotz enormen Fressdrucks an den beiden letzten Abenden. Der Klassiker wohl: Nachdem der Tag voller Angst so anstrengend war, meldet sich am Abend die Sehnsucht nach Entspannung und Belohnung für's Durchhalten in Form von Fressgier. Aber ich WILL abnehmen. Also putze ich Zähne und widerstehe. Der Minzgeschmack im Mund hilft.

Es geht weiter. Erst recht.

Als ich heute morgen aufwache, habe ich Kopfschmerzen und mir ist leicht übel. Ich ärgere mich, weil das meine guten Vorsätze sofort wieder ins Wanken bringt. Prompt fängt mein fett-faules-Ich das Diskutieren an, ob ich mich in diesem Zustand tatsächlich aufs Laufband begeben soll. Kapitaler Fehler.

Sofort legt sich mein Hypochonder-Ich ins Zeug und fühlt sich krank. Ich beschließe, lieber noch ein Weilchen liegenzubleiben. Es dauert nur ein paar Minuten, und mein Hirn fängt an, sich einzuspinnen: Druck im Schädel, Schwindel, Übelkeit, komisches Flimmern vor den Augen....Hirntumor?

Hör sofort auf, du blöde Kuh! ermahne ich mich freundlich. Mir wird trotzdem immer komischer. Verdammt noch mal! Ich will das nicht! Entschlossen richte ich mich auf, mir wird noch mehr schwindlig, aber mein Ärger gewinnt. Ich stehe auf und schlüpfe in die Laufschuhe vor meinem Bett. Ich habe Lichtblitze vor den Augen und dann beginnt auch das Herz zu rasen.

Na prima. Hirntumor oder doch lieber Herzinfarkt? Du bist einfach krank, säuselt irgendwer in meinem Hirn. Du solltest dich nicht gefährden. Ich überlege, ob ich Fieber habe. Ich habe kalten Schweiß auf der Stirn. Angst oder Krankheit?

Inzwischen bin ich die Treppe vom Schlafzimmer nach unten geklettert. Mein Herz stolpert und rast, ich werfe meinen morgendlichen Betablocker ein und hoffe auf Besserung. Natürlich passiert die nicht. Ich lasse mich auf die Couch fallen, halte es da nicht aus, stehe wieder auf. Mein Herz sticht, es klopft im Bauch und in der Halsschlagader. Herzinfarkte passieren oft in den frühen Morgenstunden. Es ist 5.30 Uhr, ist das eine frühe Morgenstunde? Wohl schon.

Ich werde immer panischer und hole das Telefon. Der Notruf ist auf der 1 abgespeichert, ein Tastendruck reicht. Bei aller Angst bin ich gleichzeitig immer noch wütend. Wie lange spiele ich dieses Spiel schon? 5 Jahre? In jedem Fall viel zu lang. Und noch lebe ich.

Ich stapfe in den Wintergarten, das Laufband liegt im Halbdunkel vor mir und glotzt mich an. Ich steige drauf und die Panik explodiert in meinem Hirn. Ich keuche vor Anstrengung und Angst. Herzinfarkt. Jetzt. Der Hirntumor ist erst mal vergessen, immerhin etwas.

Ich kriege es nicht fertig, das Band zu starten. Ebenso wenig, wie die Notruftaste zu drücken. Da ich eh so unruhig bin, fange ich an, im Wintergarten auf und ab zu gehen. Platz ist für genau 8 Schritte in eine Richtung. Wenn ich nach zwei Mal hin und her noch nicht umgefallen bin, gehe ich weiter. Nicht zu schnell, bloß nicht überanstrengen.

Im Schlafshirt mit Laufschuhen an den nackigen Füßen - die Socken habe ich vor lauter Stress vergessen - tappe ich im Wintergarten auf und ab. Meine rechte Hand umklammert das Telefon, mein Daumen liegt auf der 1. Acht Schritte hin, umdrehen, acht Schritte zurück. Ich bleibe am Leben, werde beim Gehen etwas schneller und gleichzeitig ruhiger.

Ich hangle mich von Strecke zu Strecke: Eine geht noch. Und noch eine. Ich zähle die Schritte, immer bis 8, dann wieder von vorn. Die Panik beginnt, meinen Körper allmählich freizugeben. Ich gehe und zähle und zähle und gehe. Plötzlich summt mein Handy: Ich habe vergessen, den zweiten Wecker auszuschalten, der mich für die Schule wecken soll, wenn ich nicht zum Laufen aufstehe. Vor lauter Schreck drücke ich beinahe die Notruftaste. Nur beinahe, glücklicherweise.

Beim Ausschalten des Weckers wird mir klar, dass ich tatsächlich 30 Minuten gegangen bin. Zwar ohne Laufband, aber immerhin. Mein Herz pocht nahezu im Normaltempo. Ein wenig überrascht stelle ich fest, dass ich mich weder schwindlig noch sonstwie krank fühle. Schlecht ist mir auch nicht mehr.

Hmpf. Warum musste dieser ganze Zirkus jetzt wieder sein? Unter der Dusche fange ich urplötzlich an zu weinen. Es kommt einfach so und ist weder hysterisch noch sonstwie heftig. Mir laufen einfach die Tränen über die Wangen, als hätte irgendwer eine Schleuse geöffnet. Ich lasse sie laufen, es ist kein unangenehmes Gefühl. Ich dusche ein paar Minuten länger als sonst, dann habe ich zu Ende geweint. Sauber bin ich praktischerweise auch.

Vor allem aber fühle ich mich ruhig und entspannt. Wieder ein kleiner Sieg.

Ich feiere heute einen mittleren Sieg: Seit vier Tagen lebe ich ohne lebensbedrohliche Situationen. Nicht angstfrei, das wäre zu schön, um wahr zu sein.

Mir ist sehr wohl bewusst, dass das Eis dünn ist. Ich spüre die Angst lauern wie einen Dämon, der sich für ein Weilchen zurückgezogen hat. Bereit, jederzeit wieder zuzuschlagen und sich groß und mächtig in Erinnerung zu bringen. Und doch: Ich kann ihn seit vier ganzen Tagen dort hinten halten. Das ist mir ist ewigen Zeiten nicht gelungen.

Was mache ich anders? Ich lebe sehr konsequent nach meinen neuen Regeln:

1. Jeden Morgen sofort nach dem Aufwachen aufstehen und keinen Systemcheck zulassen.
2. Sofort in die Sportklamotten schlüpfen, auch wenn ich die Augen noch gar nicht richtig aufkriege.
3. Nicht drüber nachdenken, ob ich nicht doch lieber liegenbleiben möchte (GANZ GEFÄHRLICH, da verliere ich immer!)
4. Auf's Laufband gehen, Stufe 4 einschalten und 30 Minuten gehen.
5. Wenn das Hypochonder-Ich motzt oder das Herz stolpert, auf Stufe 3 reduzieren, aber weitergehen.
6. Mir nach den 30 Minuten laut (!) selbst bestätigen, dass ich klasse bin und meinen Körper retten kann. Liest sich ziemlich schräg, aber das ist mir schnurz. Es ist auch nicht schräger, als dauernd an irgendwas sterben zu wollen. Und außerdem hört es höchstens der Eheliebste, und der wundert sich schon lange nicht mehr über mich. So.

7. Meinen Essensplan einhalten. Ich esse 3x am Tag, keine Snacks dazwischen, keinen Industriezucker mehr. Ich koche alle 2 Tage frisch und gesund und auf Vorrat, so dass es zwei Tage reicht. Eine Mahlzeit habe ich meist in der Schule, und auch die ist von zu Hause mitgebracht und wohl ausgewählt. Die Kalorienzufuhr habe ich inzwischen auf 1500 runtergefahren.

Erfreuliches erstes Wiegeergebnis:104,2 kg. Heißt, ich habe in 12 Tagen fast 6 Kilo abgenommen. Das ist einfach nur gut. Wider Erwarten sterbe ich auch nicht an Hunger, im Gegenteil: Ich fühle mich leicht - naja okay, Feder ist derzeit noch nicht mein zweiter Vorname - und komme mit den regelmäßigen Mahlzeiten gut klar.

Dazu fällt mir ein, dass ich in den letzten Jahren morgens nie gefrühstückt habe. Zum einen keinen Hunger - kein Wunder, wenn sich Mrs. Piggy am Abend vorher 3000-5000 Kalorien reingeknallt hat - zum anderen wollte ich jeden Tag abnehmen und habe oft den ganzen Tag nichts gegessen. Am Abend haben mich dann Hunger und Psyche regelmäßig in die Knie gezwungen und ZACK! Fressorgie.

Fressdruck spüre ich durchaus noch, vor allem nach einem anstrengenden Schultag. Gestern bin ich tatsächlich wie ferngesteuert heimgefahren und vor der Dönerbude zu mir gekommen. Ich hab' sofort Gas gegeben und meinem Fress-Ich keine Chance gelassen, auszusteigen und Blödsinn zu machen.

Stattdessen habe ich mantramäßig vor mich hin geblubbert, dass ich ja gleich essen darf und etwas Leckeres, Gesundes auf mich wartet.

Okay, ich scheine tatsächlich gerne Selbstgespräche zu führen. Muss noch rausfinden, ob ich besser im Reden oder im Zuhören bin. Immerhin weiß ich, dass ich mir zuhöre. Bei meiner Waschmaschine, meinem Staubsauger, meinem Auto oder sonstigen Gegenständen bin ich mir in dieser Hinsicht nicht immer sicher. Schon gaga, irgendwie. Aber Gedanken mach' ich mir erst, wenn die Teile irgendwann antworten.

Jedenfalls spüre ich, dass die Tatsache, dass ich jeden Morgen auf dem Laufband gehe, SPORT mache! - mir ein neues Zutrauen in die Leistungsfähigkeit meines Herzchens schenkt. Wenn's dann tagsüber wieder mal holpert und stolpert, denke ich dran, dass ich nun schon seit Tagen Bewegung habe, bei der ich nicht gestorben bin.

Grade recht happy.

Zitat von Calima:
Ich feiere heute einen mittleren Sieg: Seit vier Tagen lebe ich ohne lebensbedrohliche Situationen. Nicht angstfrei, das wäre zu schön, um wahr zu sein. Mir ist sehr wohl bewusst, dass das Eis dünn ist. Ich spüre die Angst lauern wie einen Dämon, der sich für ein Weilchen zurückgezogen hat. Bereit, jederzeit wieder zuzuschlagen und sich groß und mächtig in Erinnerung zu bringen. Und doch: Ich kann ihn seit vier ganzen Tagen dort hinten halten. Das ist mir ist ewigen Zeiten nicht gelungen.Was mache ich anders? Ich lebe sehr konsequent nach ...


toller Beitrag

Zitat von Calima:
Vor meinem geistigen Auge taucht Tom Hanks auf, der gerade in die Flamme glotzt. Ich habe SPORT gemacht!

Erst ein mal vielen Dank dafür diese sehr bewegenden Zeilen mit uns zu teilen.

Ich bin bei Post #11 und denke wenn der Text weniger mit Humor versehen wäre, bestünde die Gefahr das man frei weg feuchte Augen bekommen könnte.

Mit Hypochondrie kann ich in dem Sinne nicht so richtig was anfangen, weil ich es selber nicht habe und die Ängste stellenweise sehr deutlich der Logik widersprechen. Damit meine ich z.B die Angst vor schweren Krankheiten oder gar zu sterben.

Was ich unglaublich faszinierend finde ist das erarbeiten/ausdenken von, bis in das kleinste Detail ausgefeilte Strategien, Umwegen, Kompensationen und Ausreden. Das kenne ich selbst nur zu gut. Das ist knackehart und anstrengend.
Aha, oha - ja diese Momente wo es einem wie Schuppen vor die Augen fällt.
Selbstzweifel, Selbsthass anstelle von Eingeliebe. Wenn man nicht genug negatives von aussen hat, generiert man sich selber noch ne Portion oben drauf.

Und dann die Strategien aus dem ganzen heraus. Niederschwellige Schritte finden, Gedankenkreisel unterbrechen, positive Neuprogrammierung usw..

So viele Eindrücke habe ich gerade erlebt, das ich gerade die Menge an Gedanken, die durch diesen Input entstanden sind, kaum in Worte fassen kann.

Es erinnert mich wieder daran, wie es damals für mich war in den Bereichen die mir bekannt sind. Wenn ich das so lese und das dann mit meiner Vergangenheit vergleiche, dann bin ich Quantensprünge von dem entfernt. Auch wenn ich mich ab der Norm fühle.
Klar sollte man nach vorne schauen. Nur mit einem kurzem Schulterblick in die Vergangenheit wird, zumindest mir, immer wieder bewusst wie weit ich gekommen bin. Denn das vergisst man gerne mal.
Und beim lesen deiner Zeilen war dies ein weitaus intensiveres Gefühl als sonst.

Und dafür Danke ich dir.

Viele Grüße
Cube

Zitat von Calima:
Schließlich bin ich durch damit. Das Zeug reicht, um eine vierköpfige Familie in Rekordzeit zu Typ-2-Diabetikern zu machen.

Zitat von Calima:
Also ungefähr so lang, wie mir der Rest. Hmpf. Irgendwer hat mal gesagt, dass die Begriffe Konfekt und Konfektionsgröße unmittelbar miteinander korrelieren. Könnte was dran sein.

Ich schmeiß mich weg vor Lachen xDDD

Ich habe meine Fitbit auf 8000 Schritte eingestellt. Die sollen mein tägliches Minimum werden. Wenn ich die geschafft habe, veranstaltet die Uhr ein Feuerwerk. Sehr albern, aber nichtsdestotrotz wirksam: Ich latsche tatsächlich so lange durch die Gegend, bis es an meinem Handgelenk vibriert und explodiert. Ich checke kurz mein Alter. Ähm. Okay.

Meine halbe Stunde Laufband sorgt für ca. 3000 Schritte, ein prima Start in den Tag, wie ich finde - und natürlich Motivation, weil ich sonst echt zu tun habe, mein Ziel zu erreichen. Ich traue mich nach wie vor nicht, mich allzu weit vom Haus weg zu bewegen, wenn ich Schritte sammle. Und so kommt es, dass ich auf dem Waldweg, den ich dafür strapaziere, inzwischen eine selbstpersönliche Trampelspur angelegt habe.

Hercule Polrots kleine graue Zellen hätten sicher ihre Freude, wenn sie ein Verbrechen anhand meiner Bewegungen analysieren und rekonstruieren sollten. Dabei fällt mir ein: Auch derjenige, der sich mit dem von der Fitbit aufgezeichneten Bewegungsprofil beschäftigt, hat vermutlich Anlass, an der Funktionsfähigkeit der GPS-Aufzeichnung zu zweifeln. Egal. Auf meinem Waldweg duftet es nach Waldboden und frischer Luft, und auch, wenn aufgrund der Jahreszeit das einzige Vogelgeräusch das Warngeschrei des Eichelhähers ist, und ich sämtliche Bäume, an denen ich immer wieder vorbei stapfe beim Namen nennen kann: Ich bewege mich im Freien und TRAINIERE MEIN HERZ.

Draußen bin ich mittlerweile meist sogar recht flott unterwegs. Ja gut: Ich habe immer das Handy in der Hand, um im Fall der Fälle schnell Hilfe rufen zu können, falls ich nicht laut genug schreien kann, dass der Liebste mich am Haus hört. Und heute ist mal wieder einer der Tage, an denen ich mich Schritt für Schritt weiterkämpfe. Mir ist latent schwindlig, und ich habe das Gefühl von Gangunsicherheiten. Du gehst auf einem Waldweg, nicht auf einer Bowlingbahn, erinnert mich mein gesundes Ich an die aktuellen Gegebenheiten.

Trotzdem ertappe ich mich dabei, dass ich anfange, meinen Gang zu beobachten. HIMMELHERRGOTT! Ich will das nicht! Meine Uhr hat ihr Feuerwerk noch nicht gezündet, und ich will nicht aufgeben. Also fange ich an, mir Etappenziele auf dem Weg zu setzen, die Schritte bis dorthin zu zählen und mir für jede Etappe die Option zu eröffnen, dass ich an dieser Stelle abbrechen kann. Das klappt einigermaßen, auch als ich mich einmal an einem Baum festklammern muss, weil mir so schwindlig wird, dass ich beinahe umkippe.

Noch vor zwei Wochen hätte mich das heulend auf die Couch verfrachtet, und ich schließe nicht aus, dass mir das wieder passieren wird. Aber heute kämpfe ich. Schritt für Schritt für Schritt. Ich singe in Gedanken ein Lied, an dessen Rhythmus ich meine Schritte anpasse. Das lenkt mich für eine Weile ausreichend ab. Dann kommt die nächste Schwindelattacke. Panik flackert kurz auf, aber ich halte mit allem dagegen, was mir zur Verfügung steht.

Wieder hilft mir der Gedanke daran, dass ich mich schon seit etlichen Tagen bewege, ohne gestorben zu sein. Manchmal bilde ich ich mir sogar ein, dass die Herzstolperer weniger oder weniger heftig sind. Also jetzt NICHT AUFGEBEN. Dann brummt die Fitbit und zeigt mir mein hart erkämpftes Feuerwerk. Ich beschließe, noch ein paar Schritte dranzuhängen. Ich habe bis jetzt überlebt, also geht noch ein bisschen was. Jeder weitere Schritt ist Kür für heute motiviere ich mich.

Am Ende zeigt die Uhr 11272 Schritte, als ich mein Hoftor öffne. Der Schwindel hat sich weitgehend verabschiedet. Prompt fallen mir die Gangunsicherheiten ein, aber ich halte mein imaginäres Stoppschild hoch und verbiete mir das Weiterdenken. Wenn ich nicht mehr gehen kann, werde ich das schon merken. Basta.

Ha! Schon wieder dieser Fatalismus! Ich stelle fest, dass ich ihn ziemlich gut leiden kann. Er gefällt mir deutlich besser, als die dauernde Angst.

Später am Tag stelle ich mich einer weiteren Herausforderung: Ich muss zu einem dienstlichen Termin 60 Kilometer mit dem Auto fahren. In den letzten Monaten hat der Eheholde bei solchen Strecken als Chauffeur dienen müssen. Alles, was 15 Kilometer am Stück überschritten hat, hat mich in Angst versetzt: Thrombose, Herzinfarkt, Schlaganfall. Heute will ich es wissen. Nach kurzem Ringen, ob ich meinen Gefährten nicht wenigstens als Beifahrer mitnehmen will, steige ich allein ins Auto. Wenn ich unterwegs sterbe, will ich ihn zumindest nicht gefährden.

An der Tankstelle bevorrate ich mich mit einer Großpackung zuckerfreier Fishermen's Friend. Scharfes Pfefferminz gibt mir das Gefühl, freier atmen zu können. Dann schmeiße ich Navi und Hörbuch an und fahre los. Ich bin zappelig und unruhig, meine Finger trommeln am Lenkrad, mein linker Fuß, der auf der Autobahn wenig zu tun hat, wippt unaufhörlich auf und ab. Mist. Ich hätte besser Landstraße fahren sollen, die Autobahn stresst mich zusätzlich, obwohl wenig los ist. Vermutlich deswegen, weil mir die Sicherheit fehlt, einfach rechts ranfahren und anhalten zu können.

Ich vergegenwärtige mir, dass ich das hier auch kann und danke im Geist dem Erfinder des Randstreifens. Meine Hände sind schweißnass, mein Herz rast. Ich widerstehe der Versuchung, auf meine Pulsuhr zu schauen, was dadurch erleichtert wird, dass ich mich nicht traue, die Hand vom Lenkrad zu nehmen.

FAHR EINFACH; DU BLÖDE KUH! Ich sage es laut und energisch. Ich bin 57 Jahre alt, habe die Führerscheine aller Klassen und mehr Kilometer auf den Straßen der Welt runtergerissen, als die meisten anderen Menschen in meinem Alter - okay, zumindest mehr als die, die keine Berufskraftfahrer sind. Kurzentschlossen wechsle ich die CD vom Hörbuch zu Musik. Ganz ohne darüber nachzudenken, dass ich dabei den Zwei-Hände-Klammergriff lösen muss. Den Blick lasse ich aber artig auf der Straße und grapsche blind eine CD aus dem Stapel auf dem Beifahrersitz.

Get your motor runnin'. Head out on the highway. Looking' for adventure. And whatever comes our way wummert mir Steppenwolf entgegen. Das passt. Ich muss grinsen. Danke, liebes Universum, du bist echt clever. Ich drehe den Lautstärkeregler auf Maximum und singe mit, was die Lungen hergeben. Meine erinnerungsbereiten Gehirnwindungen sind diesmal nützlich: Ich kann den Text problemlos, obwohl ich das Lied sicher Jahre nicht gehört habe. So geht es auch mit den folgenden Stücken.

Plötzlich fühle ich mich jung und gut. Yeeehaaa! Das Gefühl wird kurzzeitig getrübt, als ich realisiere, dass ich vor lauter Krach das Navi überhört und geschmeidig an der Ausfahrt vorbei gerauscht bin. Egal. Dann halt die nächste. Auch die Rückfahrt ein paar Stunden später kriege ich gut hin.

Born to be wild.

Hinter mir liegen 5 gute Tage, an denen ich nicht ansatzweise gestorben bin. Mein neu geschaffener, disziplinierter Tagesrhythmus in Sachen Bewegung und Essen, scheint tatsächlich eine gute Idee zu sein. Auch an diesem Morgen fällt mir das frühe Aufstehen samt Unterlassung des Systemchecks leicht.

Da ich ganz ohne Herzinfarkt am Laufband ankomme, stelle ich die Geschwindigkeit auf Stufe 5. Objektiv betrachtet ist das nur ein wenig flotter als Stufe 4, aber ich merke sofort, wie gleichzeitig mit dem Anlaufen des Bandes auch mein Hypochonder-Hirn angeworfen wird. Lass es doch lieber niedrig, da weißt du, dass es geht und Hoffentlich macht das Herz die höhere Belastung mit! sind nur zwei von ungefähr 386 Gedanken, die mir innerhalb weniger Sekunden durch den Kopf schießen. Ich kann offensichtlich sehr schnell denken.

Leider leidet ebenso offensichtlich die Qualität des Gedachten unter der Masse. Und der Körper reagiert prompt. Meine Hände fangen an zu schwitzen und NATÜRLICH stolpert mein Herz. Genau das selbe Herz, das sich in den vergangenen Tagen kein bisschen daneben benommen hat. Naja. Ein wenig schon. Hin und wieder. Aber immerhin ausreichend weit entfernt von Herzinfarkt und Herzstillstand. Jetzt will es anscheinend das Vergessene nachholen. Zwei Salven jagen einander, und ich schnappe nach Luft.

GEH WEITER, DU HIRNI! erinnere ich mich behutsam an meine Mission. Und das mache ich auch. Gegen alle Salven, Ruckler und Stolperer. Und gegen das blöde Hypochonder-Getue in meinem Schädel. Ich gehe nur ein klein wenig flotter als in den letzten Tagen. Es gibt keinen Grund für Herzversagen. Immerhin bin ich schon ein bisschen trainiert. So what?

Meine Hand zuckt ein paar Mal zum Geschwindigkeitsregler, aber ich ziehe sie immer wieder zurück. Ich will nicht aufgeben. Ich gebe beim Universum ein Eichhörnchen in Auftrag. Ablenkung wäre jetzt grade eine echt prima Idee. Aber anscheinend hat das Universum gerade wohl kein Eichhörnchen frei oder ist so früh am Morgen noch nicht ansprechbar. Folglich muss ich mich selber ablenken. Ich nehme den Rhythmus meiner Schritte als Taktgeber und fange an, gedanklich Schillers Glocke zu rezitieren. FEST geMAUert IN der ERden, STEHT die FORM aus LEHM geBRANNT. Mein Deutschlehrer dreht sich bei der Betonung wohl grade im Grabe um, aber da muss er jetzt durch.

Mir fehlen immer wieder Textzeilen, aber darüber sehe ich großzügig hinweg. Die Konzentration auf das Gedicht beschäftigt die richtigen Gehirnzellen und ich werde ruhiger. Der Kopf gibt meinem Herzchen die Erlaubnis, sich nicht mehr verhaltensauffällig benehmen zu müssen. Es macht nur ab und zu noch ein paar winzigkleine Hopserchen, so, als wolle es noch ein bisschen rumnölen, tut aber ansonsten artig seinen Job.

Schließlich habe ich die 30 Minuten auf Stufe 5 besiegt. Und ich vermute, dass es morgen einfacher sein wird, weil ich gerade bewiesen habe, dass ich es kann. Durchhalten ist die Devise. Sturer sein als die beschissene Angst.

Unter der Dusche merke ich, dass ich geschaffter bin, als es von der rein körperlichen Betätigung zu erwarten wäre. Es ist ganz offensichtlich Arbeit, gegen die Angst zu rebellieren. Ebenso, wie es Arbeit ist, nicht in Fressorgien zu verfallen und mich jeden zweiten Tag an den Herd zu stellen, um zu kochen. Mal eben zum Asia-Imbiss fahren oder eine TK-Pasta in die Mikrowelle zu schmeißen, ist einfacher.

Ich merke immer wieder, wie faul ich geworden bin. Für andere Menschen ist eine solche Lebensweise völlig normal. Mich holt sie gewaltig aus meiner Komfortzone. Au Mann. Da ist nicht nur ein Schweinehund am Start, da lauert eine ganze verdammte Meute. Aber ich merke, dass es sich unglaublich gut anfühlt, wenn ich sie mal wieder erfolgreich ins Körbchen geschickt habe.

Yo venceré!

Als ich auf's Laufband steige, bewahrheitet sich meine Prognose vom Vortag: Die Stufe 5 ängstigt mich deutlich weniger, nachdem ich sie gestern überlebt habe. Beim Losgehen erscheint es mir sehr schnell und mir wird kurz heiß und schwindlig, aber ich packe mit beiden Händen an die Griffe und gehe einfach weiter. Zwei Minuten später habe ich wieder Normaltemperatur und kann loslassen.

Es macht mir Mut, dass ich ganz offensichtlich eine Chance haben, gegen diese bescheuerte Angst anzukommen. Ich erinnere mich, dass ich vor knapp 3 Wochen wimmernd und heulend in der Ecke gelegen und an genau dieser Angst verzweifelt bin. Damals hat mich - wie so oft - mein Herzensmensch zu trösten versucht. Der Erfolg war mäßig, und ich musste mich richtig zusammenreißen, um ihn nicht auch noch anzupflaumen.

Gerade in diesem Moment der Erinnerung wird mir deutlich bewusst, dass ich mit Mitleid nicht kann. Mein Selbstbild ist das einer starken, selbstwirksamen Frau, die ihr Leben im Griff hat. Jemandem leid tun passt in dieses Bild überhaupt nicht. Kein bisschen. Es bewirkt, dass ich mich schwach und unfähig - eben Mitleid erregend - fühle und das kann ich nicht leiden.

Oh ja, du warst in den letzten Jahren ja so superstark und selbstwirksam, ätzt mein Selbsthasser-Ich. Was genau hast du außer Angst haben, Rumheulen und dich fett Fressen noch mal hingekriegt? Das sitzt. In Sachen Selbstkritik bin ich ziemlich treffsicher. Trotzdem regt sich in einer anderen Ecke meines Gehirns Widerstand. Immerhin habe ich meinen Job gut hingekriegt, ein paar sehr erfolgreiche Theaterstücke inszeniert, die zu Festivals eingeladen wurden und meiner Tochter im Kreißsaal beim Kaiserschnitt beigestanden, nachdem ihr Mann rechtzeitig vorher umgekippt war.

Da ging's ja auch um andere! blitzt ein neuer Gedanke auf. Da könnte was dran sein, und ich beschließe, ihn weiterzuverfolgen. Die genauere Betrachtung bestätigt ihn: Meinen Schülern guten Unterricht bieten und ihnen in Krisen zur Seite stehen, eine Theatergruppe zum Erfolg führen oder meinem Kind im Krankenhaus Kraft spenden, kriege ich selbst dann hin, wenn der Rest in mir in Flammen steht und mich durch die Angsthölle schickt. Und nicht nur das: Oft rettet mich ein solcher Einsatz auch aus den Fängen der Angst, und ich vergesse für eine Weile, mich vor dem Sterben zu fürchten.

Soviel zum Thema Altruismus und Nächstenliebe, meckert es von irgendwo. Unterm Strich alles nur zum eigenen Nutzen. Gefällt mir nicht, die Sichtweise, aber zu meinem Bedauern ist sie nicht so ganz falsch. Ablenkung, auf welche Weise auch immer, war das Einzige, was mir in den vergangenen Jahren immer wieder den nicht unbeträchtlichen Hintern gerettet hat. Entschieden wirkungsvoller und hilfreich als Mitleid jedenfalls.

Überhaupt hab' ich's nicht so mit Trösten. Bei mir nicht und auch nicht bei anderen. Zumindest nicht, wenn sie erwachsen sind. Bei Kindern gelingt mir das prima und ohne nachzudenken. Sobald Menschen die Pubertät hinter sich haben, kriege ich die Trösterei aber nicht mehr sonderlich gut hin. Könnte daran liegen, dass es mir selbst nichts bringt, wenn jemand mich zu trösten versucht. Das fühlt sich für mich wie eine Kapitulation an: Wenn wir keinen Ausweg aus der S.cheiße finden, tätscheln wir uns gegenseitig ein bisschen das Köpfchen. Und dann?

Mir fällt auf, dass meine Schritte auf dem Band sehr energisch sind. Ich denke mich anscheinend gerade richtiggehend in Fahrt. Ohne groß nachzudenken nutze ich die Energie, schalte das Band auf Stufe 6 und lasse mich wieder in meine Gedankenflut fallen. Mir kommt in den Sinn, dass ich auf Menschen, die jammern, schnell ungehalten reagiere. Spätestens dann, wenn sie ihre Verhaltensweisen nicht verändern und immer wieder an der selben Stelle landen und auf Trost warten.

Ganz schön selbstgerecht, Madam! regt sich eine Gehirnzelle rechts hinten. Was machst du denn seit 5 Jahren anderes? Hmpf. Wieder ein Treffer. Ich kenne meine Schwächen offensichtlich ausreichend gut, um den Finger passgenau in die richtigen Wunden zu legen. Aber die Gehirnzelle hat Recht: Ich habe mich in all den Jahren immer nur im Kreis gedreht und Dinge getan/ unterlassen, obwohl ich es besser wusste. Habe weiter gefressen und mich immer weniger bewegt, obwohl ich immer dicker und unbeweglicher und einsamer wurde.

Die halbherzigen Versuche der Veränderung sind gescheitert, weil sie genau das waren: Halbherzig.

Gewohntes Verhalten ist halt so s.cheiße vertraut. Vor allem aber ist es bequem. Und wenn man sich erst mal an eine gewisse Bequemlichkeit gewöhnt hat, wird alles, was einen aus dieser herausholen soll, ganz schnell SEHR UNGEMÜTLICH.

Obwohl: Ist meine Angst bequem? Sofort protestiert es lautstark in mir: Definitiv nicht. Sie ist anstrengend und macht mich unglücklich. Aber: Warum verändere ich dann nichts?

Das Laufband bremst und unterbricht meine Gedanken. Die 30 Minuten sind um und ein Blick auf die Anzeige lässt nicht stutzen: Ich hatte tatsächlich Stufe 7 eingestellt und es vor lauter Denkerei gar nicht gemerkt. Dafür merke ich jetzt, dass ich schwitze. Mein Körper fühlt sich gut an, und ich bin nicht mal wirklich außer Atem.

Auf dem Weg zur Dusche wird mir klar: Doch: Ich verändere gerade Dinge. Grundlegend, wie mir scheint. Und es tut mir gut.

Den restlichen Tag scheint mir die Sonne aus dem Allerwertesten, und ich bin so motiviert, dass ich nach der Schule auf meinem Waldweg weitere 70 Minuten runterreiße. Fitbit-Bilanz: 18732 Schritte.

WOW!

In der Nacht geht es mir mies. Ich wache gegen 2.00 Uhr morgens auf, habe Herzrasen und bin nass geschwitzt. Ich wechsle das Schlafshirt, aber es gelingt mir nicht, ruhiger zu werden. Die Maske meines CPAP-Gerätes ertrage ich kaum. Nachdem ich in der ersten Zeit die Panik, unter der Maske zu ersticken, überwinden musste, hat sie jetzt eigentlich die gegenteilige Wirkung: Die Sicherheit, dass ich auch im Schlaf immer mit ausreichend Luft versorgt werde, entspannt mich.

Normalerweise. Jetzt grade nicht. Jetzt hab' ich Herz - mal wieder. Ich unterdrücke dennoch erfolgreich den Impuls, Druck und Herzfrequenz zu messen. Die Fitbit trage ich bewusst nicht im Schlaf. Stattdessen erinnere ich mich an eine Technik aus der Psychotherapie: Klopfen. Die komplette EFT-Technik war mir immer zu umständlich und auch irgendwie nicht passend. Also habe ich mir meine eigene gebastelt.

Meine Finger suchen die Stelle am Brustbein, zwischen meinen Brüsten knapp oberhalb des Solarplexus. Sanft, aber mit einem flotten Tempo und regelmäßig beginne ich zu klopfen. Gleichzeitig versuche ich, an etwas Angenehmes zu denken. Das Klopfen klappt, das Denken nicht. Also zähle ich einfach das Klopfen mit. Immer bis 10, dann wieder von vorn. Ich konzentriere mich nur auf das Klopfen und Zählen. Schon nach wenigen Minuten werde ich ruhiger. Ich klopfe weiter und schlafe irgendwann einfach ein.

Bem Aufwachen meldet sich prompt mein Hypochonder-Ich und hinterfragt den Vorsatz, aufs Laufband zu gehen. Immerhin hatte ich Herz heute Nacht. Noch während ich das denke, stehe ich auf. Bloß nicht weiter denken! Trotzdem kann ich nicht verhindern, dass ich auf dem Weg ins Bad in mich hinein horche. Im Gegensatz zur Nacht erscheint mir mein Herzschlag eher schwer und träge. NICHT NACHDENKEN! lautet das Kommando, das ich ziemlich energisch an mein Hypochonder-Ich schicke.

Die Vorstellung, auf Stufe 7 zu starten, gefällt mir überhaupt nicht, obwohl ich es gestern so mühelos geschafft habe. Ich entscheide mich für Stufe 6 und gehe los. 10 Sekunden später stehe ich neben dem Band, weil mich eine akute Schwindelattacke aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Die Welt dreht sich und ich halte mich am Laufhandgriff fest. Vielleicht bin ich ja krank? Heute Nacht ging es mir ja schon komisch. Eventuell brüte ich was aus und wenn ich jetzt SPORT mache, kriege ich eine Herzmuskelentzündung. Ich betaste meine Stirn: Hab' ich Fieber? Nein, die Haut ist kühl. Mir ist immer noch schwindlig.

Das Band puckert ungerührt auf Stufe 6 vor sich hin. Ich schalte zurück auf Stufe 4 und steige drauf. Ich habe kein Fieber und keine weiteren Krankheitssymptome. Also kriege ich auch keine Herzmuskelentzündung. Basta. Der Schwindel sieht das anders, und ich muss mich mit beiden Händen an den Griffen festklammern. Ich versuche, die Kante des Gartentisches vor dem Wintergarten zu fixieren, die ich im Lichtschein gerade so ausmachen kann. Ein Punkt, an dem ich mich festhalten kann. Das hilft.

Wenigstens 15 Minuten, nehme ich mir vor. Ich zähle mal wieder Schritte und starre auf die Tischkante. Als mir das bewusst wird, muss ich grinsen: Ey, wie bescheuert bist du eigentlich, Alte? Ich sage es laut. Anscheinend bin ich der Meinung, dass ich es so besser verstehe. Der Schwindel lässt nach, aber loslassen traue ich mich dennoch nicht. Sicher ist sicher. Als die 15 Minuten rum sind, beschließe ich, noch 5 Minuten weiterzugehen. Am Ende werden es dann doch 30. Zwar bleiben meine Hände an den Griffen festgetackert und auch das Tempo wird nicht erhöht, aber ich habe nicht aufgegeben.

Mal wieder nicht.

Gut gemacht! lobe ich mich ausnahmsweise mal, als ich mich nach dem Duschen abtrockne. Ich stelle fest, dass das Bewältigen meiner Geh-Einheit mir ein Gefühl von Zufriedenheit und Sicherheit gibt. Wenn ich das geschafft habe, ist die erste Hürde des Tages genommen. War aber bloß Stufe 4 nölt es von irgendwo. Ein Rückschritt also, setzt mein Selbstkritik-Ich noch mal nach. Hmpf. Und dann meldet sich auch Papa aus den unendlichen Weiten meines Hirns zu Wort: Eine Leistung ist erst dann eine Leistung, wenn sie wiederholbar ist. Aber ich bin gegangen! werde ich bockig. Trotz Herz. Trotz Schwindel. Also Ruhe auf den billigen Plätzen!

Der Schwindel begleitet mich durch den Tag, mal mehr, mal weniger präsent. Die Erfahrung, ihn auf dem Laufband ausgehalten und überlebt zu haben, hilft mir, ihn auch tagsüber zu managen. Ich verwerfe auch erfolgreich mehrmals die von meiner Denke angebotene Optionen des Hirntumors und der Netzhautablösung (wegen der Sehstörungen, die ich vermeintlich habe) und kriege den Schultag und weite Teile des Nachmittags damit ganz gut gewuppt. Mutig begebe ich mich auf meinen Waldweg, um meine 8000 Schritte vollzukriegen, was mir mit ein wenig Denkhygiene auch gelingt.

Ich kann Schillers Glocke inzwischen wieder ohne Textlücken aufsagen und arbeite an der fehlerfreien Rezitation der Kraniche des Ibykus. Mein Deutschlehrer wäre stolz auf mich. Ich bin es auch, als endlich das Feuerwerk an meiner Fitbit zündet. Richtig fit bin heute nicht, aber einigermaßen zufrieden.

Als ich nach Hause komme, hat der Eheholde Besuch von einem befreundeten Ehepaar, das beim Spaziergang mal kurz reinschauen wollte. Du siehst ja richtig rosig und frisch aus! begrüßt mich die Dame mit strahlendem Lächeln. Danke! lächle ich zurück. Gleichzeitig explodiert eine Angstfontäne in meinem Kopf. ROSIG? Bluthochdruck. Ganz bestimmt. Oder Fieber. Mir ist eh so komisch. Prompt legt mein Herzchen einen Sprint ein. Ich schiele auf die Pulsuhr: 135. Und das, obwohl ich ja jetzt längst von der Belastung runtergekommen sein müsste.

Wie das blühende Leben! wummert der Bass des Angetrauten der Dame in mein Ohr. Es gibt definitiv einen falschen Zeitpunkt für Komplimente. Ich unterdrücke mit einiger Anstrengung den Impuls, einen Doppelmord zu begehen und verabschiede mich mit der Entschuldigung, dringend duschen zu müssen ins Bad. Dort falle ich auf die Klobrille und versuche mich zu beruhigen. Es misslingt und ich befrage den Spiegel zu meiner Gesichtsfarbe. Irgendwie nicht so wirklich auffällig, aber das Licht ist auch schlecht.

Ich schalte alle verfügbaren Beleuchtungskörper ein und überprüfe erneut mein Konterfei. Die Hamsterbacken und das Doppelkinn sind noch da - und das grelle Licht macht den Anblick nicht netter. Aber den Preis für die roteste Verkehrsampel gewinne ich definitiv nicht. Trotz Beleuchtung. Ich dusche kalt und rede mir dabei gut zu, dass eine Kneippsche Behandlung gut für mein Herz ist. Danach geht es mir tatsächlich besser. Trotzdem bleibe ich vorsichtshalber im Bad, bis sich die Stimmen aus dem Wohnzimmer verabschieden.

Wenn die wüssten, wie knapp sie heute davongekommen sind.

Nach einigen Tagen, an denen alles ganz okay lief, habe ich gerade ein Motivationstief in Sachen Essens- und Bewegungsdisziplin. Ich war 2 Tage nicht auf dem Laufband, weil ich mich blöd fühlte, obwohl ich mit Sicherheit nichts habe, außer Kacke im Hirn. Es braucht neuen Ansporn und deshalb beschließe ich, die positiven Veränderungen festzuhalten, die ich beobachten kann:

1. Ich habe mittlerweile 11,5 Kilo Gewicht verloren und wiege nun 98,5.
2. Mein Blutdruck, der trotz der Medikamente selten unter 140/95 sank, pendelt sich seit nun mehr 5 Tagen stabil bei Werten um die 130/85 ein.
3. Mein Puls, der trotz Betablocker in Ruhe kaum unter 85 kam, ist in diesem Zeitraum ebenfalls deutlich gesunken und liegt oft zwischen 65 und 75.
4. Ich hatte keinen einzigen Fressanfall und konnte jeden Fressdruck abfangen.
5. Keller, Abstellkammer und sämtliche Schubladen sind aufgeräumt und alles an Papierkram ist ordentlich abgeheftet.
6. Die Steuer ist endlich beim Steuerberater.

Für einen Zeitraum von 7 Wochen ist das eine sehr erfreuliche Bilanz. Wenn es bloß nicht so s.cheiße anstrengend wäre. Ich habe das Gefühl, gerade mein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen. Vor allem das, was ich vorher zu meiner Entspannung tun konnte, ist komplett über Bord gegangen.

Kein Trost-/Belohnungs-/Entspannungsessen mehr. Kein Fast Food, das mir auf dem Heimweg von der Schule immer so wunderbar bequem in die Tasche hüpfen konnte. Kein Ausschlafen, sprich: Rumgammeln im Bett an arbeitsfreien Tagen. Drastisch reduzierter Fernsehkonsum, weil die Kombi aus Couch und Glotze Fressgelüste triggert. Kein Kuchen zum geliebten Nachmittags-Cappuccino. Und mitten in der Vorweihnachtszeit keine Lebkuchen, keine Plätzchen, kein Glühwein.

Wobei: Eigentlich mag ich gar keinen Glühwein, aber er riecht immer so himmlisch nach Weihnachtsstimmung und brennt sich beim Bummel über den Weihnachtsmarkt in meine Geruchsnerven. Von dort gelangt er dann ungebremst mitten ins Selbstmitleidzentrum meines Gehirns und macht dort ganze Arbeit.

Überhaupt: Bummeln und (Nicht-) Essen. Ich stelle fest, dass Stadtbummel gewaltig ihren Reiz verloren haben. Zum Shoppen von Klamotten hatte ich all die Jahre ohnehin keine Lust. Das, was unbedingt nötig war, um das fette Elend ausreichend zu verhüllen, habe ich meist im Internet bestellt. Durch die Zeltabteilungen der Kaufhäuser zu streifen, war zu frustrierend. Und auch mit 11 Kilo weniger bin ich in einer Gewichtsklasse, die noch weit davon entfernt ist, Klamottenkaufen als angenehm zu erleben. Was aber immer klasse war, war mich quasi einmal quer durch die Fußgängerzone zu fressen:

Ein Paar Bratwürste oder ein Take-Away-Curry hier, ein Crêpes Suzette oder eines mit Nutella und Banane da, ein Stückchen Himbeersahne zum Cappuccino dort. Mein Geruchssinn war mein Navi und lotste mich zielsicher von einer Leckerei zur nächsten.

Ich bin immer schon ein Nasentier und empfänglich für all die wunderbaren Düfte, die meine Umwelt so anbietet. Vor allem, wenn sie aus essbaren Quellen stammen. All das fällt gerade komplett flach. Trotz Weihnachten. Keine Lebkuchen, keine Kekse, kein Eierpunsch. Das macht wenig Lust auf Stadtbesuche. Und es frustriert mich.

Meine Disziplin wankt gerade ganz fürchterlich, aber ich weiß aus bitterer Erfahrung, dass ich gut daran tue, auf Ausnahmen zu verzichten. Die werden schneller wieder zu Gewohnheiten, als ich Lecker sagen kann. Und die Tür wieder zuzukriegen, wenn die Fresslust erst mal den Fuß reingestellt hat, ist noch schwerer, als sie gar nicht erst zu öffnen.

Nichtsdestotrotz tu ich mir leid. Furchtbar leid. Und das triggert meine Ängste. So ein beginnender Hirntumor ließ sich in der Vergangenheit mit der Zufuhr von ein paar tausend Kalorien oft ganz gut zum Stillstand bringen. Und wenn ich herzschonend auf der Couch hockte, hatten so 1-2 Täfelchen Schoki eine zusätzlich beruhigende Wirkung. All das greift gerade nicht mehr. Und das ist RICHTIG ANSTRENGEND.

Mein Aktivitätslevel hat sich seit Beginn meiner Lebensumstellung ungefähr verfünffacht. Mindestens. Blöderweise kommt in meinem Hirn nicht an, dass ein Spaziergang im Wald auch Entspannung bedeutet. Zumindest tut es das für andere Leute. Für mich ist eine solche Unternehmung noch immer ein Schachern mit dem Universum ums Überleben. Mein Hypochonderhirn tut sein Bestes, um mich immer wieder in meine kranken Denkschleifen zu zwingen. D.RECKSAU, elende.

Ich werde mal wieder wütend. Das gefällt mir besser, als mir leid zu tun. Selbstmitleid lähmt mich und lässt mich rumheulen und sterben. Wut setzt Energie frei. Und so erhebe ich mich trotz dröhnendem Schädel, Blitzen vor den Augen und stolperndem Herzen aus meiner Hängeschaukel und gehe raus. Es stürmt, regnet und ist a.rschkalt. Ich stelle grimmig fest, dass das ganz wunderbar zu meiner Wut passt. Mein Hypochonder-Ich schreit nach dem Notarzt, weil meine Beine sich wie Wackelpudding anfühlen. Dass ich zwei Tage das Laufband geschwänzt habe, rächt sich jetzt: Keine Sicherheit, dass ich gesund genug bin.

Egal. Dann fall ich halt um. Hat der Mist eben ein Ende. Ich halte mein Gesicht dem peitschenden Regen entgegen. Friss mich doch! schrei' ich in den Wind und stapfe dabei vorwärts, so schnell ich kann. Das Wasser in meinem Gesicht ist ein Mischmasch aus Regen und Tränen. Ich sehe kaum etwas vor lauter Getropfe in meinen Augen, stolpere über eine Wurzel und fliege der Länge nach in den Dreck. Ich heule laut auf. Schmerz, Wut, Verzweiflung brechen sich Bahn. Dann rapple ich mich wieder auf und stapfe weiter. Schluchzend, stolpernd, fluchend.

Irgendwann stelle ich fest, dass es immer düsterer wird. Ich stehe mitten im Wald. Nass, dreckig und ohne Handy. Das habe ich vor lauter Wut zuhause vergessen. Ich schaue mich um. um mich zu orientieren und weiß sofort präzise, wo ich mich befinde: SEHR weit weg von daheim. Na super. Dich in einem Novembersturm am Nachmittag im Wald verlaufen. Gut hingekriegt, Alte! Mich mit mir selbst unterhalten kann ich prima. Ist aber ja grade auch sonst keiner da.

Ich überlege, ob es Sinn macht, in meinen Spuren zurückzugehen. Täte es vermutlich. Wenn es nicht überall nur aufgewühlten Matsch gäbe und es heller wäre. Witzigerweise verursacht das keine Panik. Ich bin im heimischen Wald, nicht in der kanadischen Wildnis. Irgendwo wird dieser Weg, auf dem ich gehe, hinführen. Ich marschiere weiter, entscheide mich an ein paar Weggabeln immer für rechts, weil mir das intuitiv richtig scheint und treffe - tataaa! - nach ungefähr 20 Minuten auf einen Wegweiser. Nun kann ich mich orientieren. Der Weg ins nächste Dorf ist näher als der nach Hause und außerdem breiter. Ich wähle ihn, weil es immer dunkler wird.

Ich gebe ordentlich Gas, um die angekündigten 2 Kilometer hinzukriegen, bevor es stockfinster wird. Und so kommt es, dass heute der erste Tag nach ungefähr 15 Jahren ist, an dem ich JOGGE. Naja, okay: Ich eiere wie ein Känguru auf Rollschuhen durch den Matsch - aber das mit aller zur Verfügung stehenden Geschwindigkeit. Glücklicherweise führt der Weg ohne weitere Verzweigungen geradeaus. Zumindest sehe ich keine. Dafür tauchen nach einiger Zeit die Lichter des Dorfes vor mir auf. GERETTET.

Mein Herz hämmert in meiner Brust und ich bin mindestens ebenso schweiß- wie regennass, aber das stört mich grade gar nicht besonders. Ich bin nicht einsam im Wald gestorben, warum sollte ich es jetzt tun? Kurz denke ich darüber nach, in der Dorfkneipe zu telefonieren und den Eheliebsten als Chauffeur zu bemühen, aber dann beschließe ich, die restlichen 4 Kilometer an der Straße entlang nach Hause zu gehen.

Es gießt immer noch aus Kübeln, aber der Wind bläst jetzt von hinten. Danke, liebes Universum.

Zuhause ist niemand da. Auf dem Tisch liegt ein Zettelchen: Bin mit Bob auf ein Bierchen unterwegs, darunter ein Herzchen. Ich lasse die Badewanne voll laufen und winde mich aus dem Klamotten. Ich habe keine trockene Faser am Leib bis auf die Socken: Meine Wanderstiefel sind wasserdicht.

Immerhin.

In der Nacht schlafe ich wie ein Baby. Und als ich heute morgen aufstehe, fällt mir der Gang aufs Laufband leicht wie selten. Ich bin gestern durch den Wald GERANNT. Und ich bin nicht gestorben. Ich hatte noch nicht einmal Herz. Bereits nach dem Bad gestern Abend fühlte ich mich völlig entspannt. Dieses Gefühl begleitet mich auch jetzt noch.

Derartige Katharsis-Erfahrungen scheinen mir zu bekommen. Also her mir den Novemberstürmen! Ich lege mich auch gern noch ein paar Mal freiwillig in den Dreck, wenn das dem Seelenfrieden dient. Kurzentschlossen schalte ich das Laufband auf Stufe 10. Das Tempo lässt sich gut gehen, und weil mich der Hafer sticht, beginne ich versuchsweise, ein bisschen zu traben. Ich JOGGE.

Das funktioniert ganz hervorragend. Für ziemlich genau 30 Sekunden. Dann kriege ich Schnappatmung und wie auf Kommando motzt auch das Herz ein bisschen rum. Ich höre auf zu rennen, lasse aber das Tempo weiterlaufen. Meine Gedanken tackere ich an den gestrigen Nachmittag fest und vergegenwärtige mir, wie ich durch den Wald gerannt bin. Wenn es eine Gelegenheit gegeben hat zu sterben, dann gestern, als die Angst vor der hereinbrechenden Dunkelheit und das Problem des fehlenden Handys mich vor sich hergetrieben haben.

Jetzt bin ich zu Hause. In Sicherheit. Oben ist der Eheliebste, ich kann jederzeit aufhören. Also gehe ich weiter. Mindestens 20 Minuten nehme ich mir vor, aber es werden 30. Zähes Luder, klopfe ich mir auf die Schulter, als ich unter die Dusche hüpfe. Ich gönne sogar meinem Spiegelbild ein schiefes Grinsen, als es mir beim Zähneputzen entgegen schaut. Das hat es lange nicht mehr gegeben. Fühlt sich eigentlich nicht schlecht an. Ich schicke noch ein paar Grinsversuche hinterher, und der letzte gerät sogar ganz ordentlich. Anscheinend kann man auch Lächeln üben.

Memo an mich: Morgen wieder in den Spiegel grinsen.

Vor der Schule treffe ich meinen Lieblingskollegen -Sportlehrer - der sich grade vom Fahrrad schwingt und trotz des kalten, nassen Novembermorgens gut gelaunt und energiegeladen ist. So willst du auch sein! schießt es mir durch den Kopf. Zugegeben: Die 20 Jahre Altersunterschied werde ich wohl nicht mehr ganz wettmachen, aber sportlich und schlank sein und auch an Regentagen gute Laune haben, könnte ich hinkriegen.

Dazu bräuchte ich aber erst mal ein Fahrrad.

Von zuhause bis zur Schule sind es 20 Kilometer einfache Fahrstrecke. Jeweils am Anfang und am Ende liegt ein langer, steiler Berg. Hm. Vermutlich kann ich froh sein, wenn ich überhaupt noch unfallfrei gradeaus fahren kann. Immerhin bin ich seit mindestens 15 Jahren nicht mehr Rad gefahren. Trotzdem motiviert mich die Idee ungeheuer. Wieder daheim suche ich nach meinem Trekkingrad. Ich finde es unter Dutzenden alter Planen im hintersten Winkel des Schuppens. Abgesehen davon, dass es platt ist, sieht es eigentlich ganz gut aus. Na, sauer, weil ich dich so lang nicht beachtet habe? frage ich. Glücklicherweise antwortet es nicht.

Ich pumpe die Reifen auf, was mich so außer Atem bringt, als hätte ich sie mit dem Mund aufgeblasen. So immens war der Konditionszuwachs von gestern auf heute wohl doch nicht. Egal. Ich gönne der Kette einen großzügigen Schluck Öl und gehe mich umziehen. Es ist immer noch November und regnet kalt vor sich hin. Gehst du spazieren? fragt der Eheholde, der mit einer Tasse Kaffee auf der Couch lümmelt und liest. Nein, Rad fahren, antworte ich und setze meinen Helm auf, den ich erstaunlicherweise auf Anhieb gefunden habe. Der Liebste wirft einen prüfenden Blick aus dem Fenster und einen weiteren auf mich. Es regnet, stellt er dabei völlig richtig fest. Macht mir nix, verkünde ich cool.

Das Aufsteigen klappt tatsächlich einigermaßen gut. Ich fahre ein Stück Richtung Waldweg, um die Schaltung zu testen, was ebenfalls zufriedenstellend funktioniert. Braves Rädchen lobe ich den Drahtesel und wende. Dann fahre ich den Berg runter. Obwohl ich viel bremse, fegt mich der Wind beinahe aus dem Sattel. Es ist saukalt und nass. Ich beschließe spontan, die erste Radtour ein wenig zu verkürzen und drehe am unteren Bergende wieder um.

Dann nehme ich Anlauf und schaffe die ersten 20 Meter. bevor ich anfangen muss, mich zu plagen. Ich bin im kleinsten Gang und nach weiteren 10 Metern kurz vor dem Herztod. S.cheiße ist das anstrengend. Ich stelle mir vor, wie mein sportlicher Kollege mich spöttisch angrinst und arbeite mich weitere 20 Meter hoch. Dann muss ich absteigen. Ich schnaufe wie eine Dampflok und mein Herz pumpt auf Hochtouren. Ich überlege kurz, ob ich jetzt sterbe, verwerfe den Gedanken aber wieder und schiebe das Fahrrad tapfer weiter bergauf. Eine Viertelstunde später habe ich es geschafft und bringe keuchend das Rad in den Schuppen.

Okay. Den Plan, morgen fröhlich und energiegeladen vor der Schule vom Rad zu springen, muss ich wohl noch ein bisschen aufschieben.

Wer fährt denn auch im November Fahrrad?

Im Gegensatz zu meinem Waldmarathon hängt mir die Fahrradgeschichte irgendwie in den Knochen. Ich bin ziemlich erschöpft nach der Bergauf-Etappe und der Puls beruhigt sich auch nicht wesentlich. Die Fitbit zeigt auch eine heiße Dusche, ein Abendessen und eine Kanne Tee später immer noch Werte zwischen 120 und 135. Ich kann richtig spüren, wie der Betablocker nach oben abriegelt - blöderweise macht mir das erst recht Angst. Wo wäre der Puls wohl ohne das Medikament?

Mein Herz hopst und holpert, als wolle es die Rallye Paris-Dakar synchronisieren. Ich sehe mein T-Shirt über meiner Brust wackeln, so heftig geht es zu. Vielleicht habe ich mich doch übernommen. Gestern der Stress im Wald, heute der Berg - womöglich habe ich es so übertrieben, dass mein Herz jetzt doch versagt. Prompt wird mir schwindlig - im Sitzen. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, Blutdruck zu messen. Natürlich kriege ich die Quittung: 165/110.

Hoher Puls UND hoher Blutdruck. Trotz der Medikamente. Das kann nur übel enden. So schlimm war ich seit langer Zeit nicht mehr beinander. Mein linker Arm schmerzt und fühlt sich gleichzeitig taub an. Alles in mir schreit HERZINFARKT! Ich versuche verzweifelt, all die positiven Erfahrungen der letzten Wochen herzuholen. Natürlich vergeblich. Wenn mein Hirn spinnt, macht es ganze Arbeit.

Warum ich nicht den Notarzt rufe, weiß ich selbst nicht. Stattdessen lege ich mich hin und versuche, mich durch Klopfen zu beruhigen. Ich schaffe keine 3 Minuten in der Horizontalen, dann jagt mich die Unruhe wieder hoch. Der Blick auf die Fitbit meldet mir einen Wert von 135. S.cheiße, s.cheiße, s.cheiße! Der Eheholde hört ein Stockwerk weiter unten Musik. Sehr laut, wie wir das beide gern mögen. Zumindest, wenn ich nicht gerade im Sterben liege.

Ich erkenne Safri Duo mit Played -a -live. Ohne nachzudenken schnappe ich mir eine meiner Djemben und beginne mitzutrommeln. Ich habe ewig nicht mehr getrommelt, aber mein Körper erinnert sich schnell. Wie Fahrrad fahren. Das verlernt man auch nicht, muss ich denken. Dann übernimmt mich der Rhythmus. Erst die Hände, die fester, schneller und dennoch immer präziser schlagen und schließlich lässt auch der Kopf los. Mir fällt gerade noch ein, den Ehering abzunehmen, bevor ich später die Flex bemühen muss, weil die Finger geschwollen sind. Es gibt Erfahrungswerte in dieser Beziehung.

Nach ein paar Minuten bin ich im Flow. Nach Safri Duo folgt Guru Da Beat. Die nächsten Titel identifiziere ich nicht mehr. Ich trommle, als gäbe es kein Morgen. Irgendwann registriere ich, dass meine rechte Hand schmerzt. Ich blute aus zwei Cuts am Handballen und am Mittelfinger. Altvertraute Verletzungen - das passiert halt beim Djembespielen. Vor allem, wenn die Übung fehlt und - wie aktuell - eine Schuppenflechte an den Händen dafür sorgt, dass die Haut bei Belastung schnell reißt. Ich verpflastere mein Händchen und wische die Blutspuren vom Fell der Djembe. Es sind nicht die ersten.

Dann erst fällt mir ein, dass ich ja Herz habe. Ich schaue auf die Pulsuhr: 75. Ich erinnere mich an meinen schmerzenden linken Arm und muss grinsen: Jetzt tun mir beide Arme weh. Und morgen werde ich vermutlich einen ganz wunderbaren Muskelkater haben. Ich kann's nicht lassen und lege noch mal das Blutdruckgerät an: 120/76.

Memo an mich: Trommeln ist eine ganz prima Therapie bei Herzinfarkt.

Sollte ich mir patentieren lassen.

Ein neuer, unschöner Tag, wenn auch auf andere Art als gestern. Am Morgen ruft mich meine Tochter an. Sie klingt krank und bittet mich, vorbeizukommen und den Kleinen abzuholen, damit sie ein wenig zur Ruhe kommen kann. Ich habe heute keinen Unterricht und kann das problemlos einrichten. Schon auf der kurzen Fahrt zu ihr, habe ich Herzrasen und Schweißausbrüche.

Sie sieht wirklich nicht gut aus, und so packe in mein Enkelkind warm ein, und tigere mit dem Kinderwagen los. Der Spaziergang wird die Hölle, weil ich permanent Herzinfarkt habe. Der Kleine ist nach ein paar Minuten eingeschlafen, aber in mir tobt der Weltuntergang. Ich habe totale Panik, was mit dem Kind passiert, wenn ich jetzt hier zusammenbreche. Ich will aber meine Tochter nicht hängen lassen und kämpfe mich zwei Stunden durch die Gegend. Als er aufwacht, gehe ich mit ihm in ein Café, wo ich mich aufwärmen, ihn füttern und angesichts der vielen Leute dort etwas entspannen kann. Die Angst gibt trotzdem keine Ruhe.

Als ich ihn am Ende vier Stunden später wieder zuhause abliefere, sieht das Tochterkind deutlich erholter aus. Dafür bin ich um Jahre gealtert. Am Nachmittag treffe ich mich mit meiner besten und ältesten Freundin - wir kennen uns seit fast 40 Jahren - auf einen Kaffeeplausch. Sie fragt, warum ich so erschöpft aussehe, und die ganze Geschichte sprudelt aus mir heraus. Meine Freundin ist neben meinem Mann die Einzige, die um meine Ängste weiß.

Und dann geschieht etwas für mich Unfassbares. Sie schaut mich mit versteinertem Gesicht an und sagt: Weißt du eigentlich, was für ein egozentrisches A.rschloch du geworden bist? Ich verschlucke mich am Cappuccino. Mein Hirn kann - will - nicht verstehen, was meine Ohren eben gehört haben und ich kann sie nur anstarren. Sie macht ungerührt weiter: Seit 8 Jahren dreht sich fast jedes unserer Gespräche nur um deine S.cheißangst. Egal, worüber wir reden: Früher oder später landen wir immer wieder bei diesem Thema. Was ich dir erzähle, nimmst du oft gar nicht mehr richtig wahr. Du hörst ein Stichwort und schon dreht sich wieder alles um dich. Weißt du was? Darauf hab' ich keinen Bock mehr. Ich will deine Freundin sein und nicht dein Mülleimer. Wenn dir was an mir und unserer Freundschaft liegt, reiß' dich gefälligst zusammen. Ich werde jedenfalls ab heute jedes Mal aufstehen und gehen, wenn du wieder mit deiner Angst anfängst. Und genau das mache ich jetzt.

Spricht sie, steht auf, schnappt sich ihre Jacke und geht. Ich sehe ihr nach, wie sie an der Theke bezahlt und bin fassungslos. Dann werde ich sauer. Wie kann sie es wagen, so mit mir zu reden! Ich zahle ebenfalls und muss mich dabei zusammennehmen um nicht der Kellnerin in die Bluse zu heulen. Im Auto werde ich wütender und wütender. Ich fühle mich verraten und im Stich gelassen. Ich überfahre 2 rote Ampeln, während ich laut vor mich hin schimpfe. SIE ist schuld, wenn ich meinen Führerschein verliere.

Daheim angekommen, ist mein erster Impuls, alles dem Liebsten zu erzählen, aber dann entscheide ich mich anders, ziehe mich um und stapfe Richtung Wald. Heute laufe ich nicht unkontrolliert drauf los, sondern marschiere auf einer Strecke von ca. 500 Metern immer hin und her. Kurz fällt mir auf, dass ich kein bisschen Herz habe. Ich schluchze vor mich hin und tu mir unendlich leid. Ich hab' meine allerbeste Freundin verloren. Sie lässt mich im Stich, einfach so. Der Pokal in Selbst-Empathie geht heute definitiv an mich.

Nach dem vierten - oder fünften? - Richtungswechsel werde ich ruhiger. Gehen schafft das Adrenalin aus dem Körper, fällt mir völlig überflüssigerweise ein. Allmählich ist mein verletztes Ego bereit, wieder echte Denkvorgänge zuzulassen. Ich lasse die vergangenen Jahre Revue passieren. Und ganz allmählich und sehr zäh tröpfelt die Erkenntnis in mein Bewusstsein, dass sie recht hat, die Freundin. Oh Mann. Das kann ich fast nicht aushalten. Ich mag es nicht leiden, ein egozentrischen A.rschloch zu sein. Kein Bisschen.

Und so diskutiert mein echte-Freundinnen-Ich mit meinem A.rschloch-Ich und schachert um Augenblicke in meiner Erinnerung, an denen ich für die Freundin da war. Erfolglos. Wir sind zwei Drittel unseres Lebens miteinander durch Dick und Dünn gegangen, haben miteinander gelitten, gestritten, gefeiert und genossen. Mal war die eine die Stärkere, die die andere an der Hand genommen hat, mal die andere. Aber dieses Gleichgewicht ist tatsächlich verloren gegangen. Wenn ich über die letzten Jahre nachdenke, war immer ich diejenige, die heulend und zitternd an ihre Tür geklopft hat.

Ich kann mich noch nicht mal erinnern, wann wir überhaupt länger über sie und ihr Leben geredet haben in diesen Jahren. Ich werde wieder wütend. Diesmal auf mich. Und ich gehe gnadenlos mit mir ins Gericht. Im Selbstreflektieren scheine ich in jüngerer Zeit Übung zu kriegen. Auf jeden Fall habe ich mir einiges zu sagen auf meinem Waldweg. Manches sage ich laut, weil ich das Gefühl habe, wenn ich es nicht ausspreche, zerreißt es mich.

Als ich zurück zum Haus gehe, ist es fast dunkel. Ich bin wieder ruhig, aber das Gefühl von Verlassensein begleitet mich nach wie vor - wenngleich ich es jetzt aus einer anderen Perspektive empfinde. Ich überlege, ob ich sie noch anrufen soll. Ich sehne mich nach Klärung und Versöhnung. Nach einigem Ringen entscheide ich mich dagegen. Es soll nicht schon wieder darum gehen, dass ICH mich besser fühle.

Es wird ein nachdenklicher Abend. Ich sitze in eine Decke eingewickelt auf der Couch, als der Liebste kommt und mich in den Arm nimmt. Geht's dir nicht gut? fragt er sanft. Wie ein Woge überrollt mich die Erkenntnis, dass auch er ein Opfer dieses bes.chissenen Spiels ist. Wohl noch um einiges mehr als die Freundin. Ich will niemanden mehr benutzen für meine Angst. Ich will Gefährtin und Freundin sein, kein Vampir, der sich an anderen bedient. Ich kuschle mich in seinen Arm.Mir geht's gut, mein Schatz, danke, dass du fragst, sage ich.

Und das ist keine Lüge.

Ich verbringe die halbe Nacht damit, einen Brief an meine Freundin zu schreiben. Es wird ein langer Brief und ich weine eine Menge dabei. Als ich ihn schließlich durchlese, wird mir fast übel: Auch hier geht es in epischer Breite mal wieder nur um mich. Ich erkläre, führe aus, lege dar. Achteinhalb Seiten lang. Mich überkommt eine Riesenwut auf mich selbst. So bin ich doch nicht! Bist du wohl, faucht es in meinem Kopf. Genau wie die Freundin sagt: Ein egozentrisches Ar.schloch.

Mir wird richtig schlecht. Die Erkenntnis flutet mich derartig, dass ich grade noch das Klo erwische. Ganz offensichtlich finde ich mich selbst zum Kotzen. Als das Würgen aufhört und ich erschöpft in meiner Hängeschaukel hocke, lege ich den Finger bewusst fester auf die eben aufgerissene Wunde. Was mute ich meiner Umgebung eigentlich zu? Eine Menge, wie es scheint, wenn selbst meine treueste Wegbegleiterin mir die Grenzen aufzeigt. Du bist Vertrauenslehrerin. Deine Studis lieben die Gespräche mit dir und deinen Unterricht, versucht es zur Abwechslung mal eine wohlmeinende Stimme.

Das stimmt. Aber da geht es auch nicht um mich. Da bewahrt die professionelle Distanz meine Gegenüber davor, mit meinen Problemen überschüttet zu werden. Anders als bei den liebsten Menschen in meinem Leben. Okay, die Kinder sind außen vor. Im Kontakt mit ihnen ist der Gluckeninstinkt stärker, und ich bewahre sie vor Lasten, die sie nicht betreffen. Aber meine Freundin und mein Herzliebster müssen mich aushalten.

Das ist ja wohl auch selbstverständlich, wenn man sich liebt, trotzt es in mir. Aber ist es das wirklich? Es ist angenehm und bequem. Ich muss mich nicht zusammenreißen, kann mich gehen lassen. Wer mich liebt, muss mich nehmen, wie ich bin! ist eine äußerst komfortable Einstellung. Sie entbindet mich davon, meine Verhaltensweisen verändern zu müssen. Das gilt gleichermaßen für mein jahrelanges massives Übergewicht, wie für meine Angst.

Und wenn ich so darüber nachdenke: Ich WILL ja gar keine fette, angstvolle Person sein. Ich bin doch viel mehr, als mein Fett und meine Angst. Aber das, was ich meinen liebsten Menschen anbiete, ist genau das. Und wenn sie sich dagegen wehren, dann, weil sie das wissen und sich Veränderung wünschen. Die Freundin sagt es mir ins Gesicht. Der Liebste sagt es leise und verborgen vor mir zu seinem Freund.

Damit ich nur ja nicht auf die Idee komme, meine Angst loszulassen, jagt mein Herz abwechselnd Salven und Aussetzer durch meinen Körper. Ich kriege kaum noch Luft und Panik flutet mich wie ein Tsunami. Aber ich wehre mich mit allem, was mir zur Verfügung steht. Meine Hand klatscht zweimal fest auf meinen Brustkorb, damit das Gestolper sich wieder einkriegt. Ich klettere aus der Schaukel, trotze dem Schwindelgefühl, das mir suggerieren will, dass ich gleich umkippe und schnappe mir meine Laufschuhe. Das Laufband will ich nicht anmachen, um den längst schlafenden Eheholden nicht zu wecken.

Gegen den Schwindel und die Lichtblitze in meinem Kopf ankämpfend ziehe ich mich an. Ich denke keine Sekunde an den Notarzt, nur daran, dass ich diese beschissene Angst austreiben will. Draußen ist es kalt und klar. Ich kann die Sterne sehen und marschiere los, den Blick in den Himmel über mir gerichtet. Der Mond leuchtet hell und lässt mich meinen Waldweg gut erkennen. Danke, liebes Universum. Diesmal zähle und reime ich nicht. Ich gehe, so schnell ich es unfallfrei hinkriege, mit meiner Angst durch die Nacht. Das Herz rast und hopst, die Welt dreht sich immer wieder, aber ich lasse mich nicht aufhalten. Einmal falle ich, weil es mir die Beine wegzieht, aber ich stehe wieder auf und gehe weiter. Der einzige Tribut, den ich dem Angstteufel in mir zolle ist, in Sichtweite des Hauses zu bleiben.

Nach ungefähr einer halben Stunde wird es besser. Ich traue dem Frieden aber nicht und stapfe einfach weiter vor mich hin. Irgendwann habe ich einfach keine Lust mehr, auf und ab zu latschen. Dafür habe ich eine Idee. Ich schleiche mich ins Haus zurück und hole den Brief an die Freundin. Dann mache ich Feuer an einem unser Lagerfeuerplätze im Garten und verbrenne Seite um Seite in den flackernden Flammen. Es soll ein Ritual für den Abschied vom egozentrischen A.rschloch sein, beschließe ich.

Mann, bist du kitschig, Alte, ärgert mich mein angeschlagenes Ego mitten in meiner Zeremonie. Fehlen nur noch ein paar jammernde Geigen und der Rauch steigt als Engelsfigur in den Himmel. Zugegeben: Ich bin gaga. Ich grinse und lasse das letzte Blatt ins Feuer fallen. Papier braucht ziemlich lange, bis es wirklich zu Asche zerfällt, fällt mir auf. Während das Feuer ausgeht, schreibe ich im letzten Flackern ein einziges Wort auf eine Postkarte: Verzeih.

Ich stecke sie in einen Umschlag, versehe ihn mit der Adresse meiner Freundin und einer Briefmarke und gehe durch die Nacht zum nächsten Briefkasten. Das sind eineinhalb Kilometer, aber es ist ein schöner Spaziergang.

Gute Nacht, Lieblingsfreundin.
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Es ist fast vier Uhr morgens, als ich mich ins Bett lege. Ich schlafe ruhig und entspannt bis mich gegen 9.00 Uhr Kaffeeduft weckt. Draußen nebelt ein neuer Novembermorgen vor sich hin, und ich muss mich ein wenig schubsen, um nicht gleich zum liebevoll gedeckten Frühstückstisch abzubiegen und erst aufs Laufband zu gehen.

Ich hab' gedacht, nach der langen Nacht tut ein schönes Frühstück gut, lächelt mich der Herzliebste an. Eine Welle von Liebe und Dankbarkeit überläuft mich und ich umarme ihn. Gleichzeitig spüre ich deutlich den Stich des schlechten Gewissens darüber, wie viel er mit mir aushalten muss.

Musste! meldet sich sofort eine andere Stimme zu Wort. Die letzten Tage sollen nicht vergebens gewesen sein. Ich will verändern - auch und besonders meinen Umgang mit ihm.

Auf dem Laufband habe ich Gelegenheit, über diese Veränderungen nachzudenken. Mir war bis gestern das ganze Ausmaß meiner Angst gar nicht bewusst. Zumindest nicht, was die Auswirkungen auf mein engstes Umfeld betrifft. Für mich selber war sie natürlich ganz hervorragend in meinem Bewusstsein. Schließlich hat sie mir ja dauerhaftes Leiden beschert und mich über Jahre vor sich hergetrieben wie ein Cowboy eine Herde Kühe. Das Bild bringt mich kurz zum Grinsen - ich stelle mir vor, wie eine Art Superman mit einem Angst-A auf dem T-Shirt peitschenschwingend hinter mir her galoppiert - aber der Anflug von Heiterkeit ist schnell vorbei. Es ist zu ernst.

Ich merke, wie wütend ich auf diese Angst bin. Und noch während ich diese Wut spüre, wird mir klar, dass ich besser wütend auf mich selbst sein sollte. Angst ist eine natürliche Reaktion, das war mir immer bewusst. Aber sie derartig aufgeblasen, wichtig genommen, gehätschelt und bedient habe ich selbst sie. Ich habe so oft gelesen, dass man seine Angst als Teil von sich annehmen soll. Jetzt sage ich: B.ulls.hit. Dieses entartete, aufgemotzte und ins Groteske verzerrte Monster gehört definitiv nicht zu mir. Ebenso wenig wie das ganze Fett an meinem Körper.

Beides klebt an mir wie zäher Schleim, aber zu mir gehören tut es nicht. Ich habe es herangezüchtet, gefüttert und gepflegt, indem ich natürliche, gesunde Dinge wie essen oder eben auch mal Angst haben durch mein Verhalten Schritt für Schritt ins Übermaß geführt und übertrieben habe. Und nun wird es meine Aufgabe sein, diese aus dem Ruder gelaufenen Anhängsel wieder loszuwerden. Die ich rief, die Geister werd ich nun wieder los. So.

Während ich auf Stufe 12 - ich bin motiviert - vor mich hinmarschiere, komme ich zu dem Entschluss, mal wieder einen Plan zu brauchen. Pläne kann ich gut. Und es sieht so aus, als würde ich auch Übung darin kriegen, meine Pläne umzusetzen. Das lässt hoffen. Ich überlege, was ich aktuell für am Wichtigsten halte. Sofort fallen mir der Eheliebste und die beste Freundin ein. Die hat mir die Marschrichtung ja schon klar vorgegeben: Nicht mehr von meiner Angst erzählen, sondern die Klappe halten und zuhören. RICHTIG zuhören, ergänze ich. Nicht nur so tun als ob und mich dabei innerlich dauernd mit meinen Symptomen beschäftigen.

Oha. Das wird eine Challenge. Es ist ja quasi ein Dauerzustand, mich innerlich mit meiner Angst zu vergnügen, auch wenn ich äußerlich was anderes tue. Nur wenn ich wirklich gut abgelenkt bin, hat dieser innere Dialog mal für ein Weilchen Pause. Vielleicht ist Multitasking doch keine so gute Idee. Memo an mich: Das, was ich mache, mit ganzer Konzentration machen. Na, dann fang' mal an und GEH mit voller Konzentration, ohne über was anderes nachzudenken, schlägt mein besseres Ich vor. Mist. Erwischt. Ich probiere es aus und versuche, mich nur mit dem Gehen zu beschäftigen. Es klappt überraschend gut. Ganze 10 Sekunden kriege ich hin, bis mir auffällt, dass ich dabei die Uhr auf dem Laufband beobachtet und die Sekunden gezählt habe. Hmpf.

So wird das nix, aber das muss es ja vielleicht auch nicht. Immerhin gehe ich schon 20 Minuten vor mich hin, ohne mich auch nur ein einziges Mal mit meinen körperlichen Befindlichkeiten auseinandergesetzt zu haben. Prompt wird mir kurz schwindlig, aber ich schüttle das Gefühl sofort ab. Nichts da. Ich will lieber einen Plan machen. Vielleicht könnte es eine gute Idee sein, mich mal in Gedankenhygiene zu versuchen. Statt nichts zu denken, was ich ganz offensichtlich nicht hinkriege, etwa anderes denken, was mir besser tut.

Das ist zumindest einen Versuch wert, beschließe ich. Wenn ich schon ein Hirn habe, das denken kann, kann es das gefälligst für und nicht gegen mich tun. Die Idee gefällt mir.

Für den restlichen Tag übe ich mich darin, mit meinem Gefährten GESPRÄCHE zu führen. Keine Monologe, kein Drama und vor allem: Kein Wort über Symptome und Ängste. Gleichzeitig ackere ich mit dem Hygienehalten rum, denn natürlich ist dieses aufgeblasene Angst-Dingens mitnichten gewillt, sich klaglos aus meinem Körper und meinem Kopf zu verziehen. Hau ab! sage ich ihr mehrmals nachdrücklich. Du bist KEIN Teil von mir und ich brauche dich nicht.

Als ich mich am Abend auf die Waage stelle, habe ich weitere 2 Kilo verloren. Na also. Klappt doch mit dem Loswerden. Das Fett scheint bereitwilliger Abschied zu nehmen, als die Angst, aber das Prinzip hinter dem Abwerfen ist das gleiche: Dinge verändern, damit sich etwas verändert. Weniger Kalorien, mehr schlank. Weniger krankes Denken pflegen, mehr gesund.

Das wird werden.

Die folgenden Tage verbringe ich damit, Gedankenhygiene zu betreiben und meine Ichbezogenheit zu bekämpfen. Das führt hin und wieder zu einigermaßen skurrilen Situationen, die mir leider sehr klar vor Augen führen, wie tief der Hase im Pfeffer liegt.

Ich habe Herz und Schwindel, aber draußen ist seit langem ein zwar kalter, aber sonniger Tag. Das Laufband habe ich against all odds auch heute wieder besiegt, die Matschbirne und das Gepolter in der Brust leider nicht. Ich wünschte, das Laufband wäre Garant für symptomfreie oder zumindest -arme Stunden, aber das klappt nur manchmal. Heute nicht. Der Herzliebste strotzt hingegen vor Energie, hat vor dem Frühstück schon eine Stunde Holz gehackt und war Brötchen holen. Für mich inzwischen Vollkornbrötchen und auch nur eines statt der früheren zwei bis drei.

Meine Befindlichkeit heult rum und möchte ins Bett und sich leid tun. Jetzt kämpfe ich mich so tapfer seit Wochen durchs morgendliche Training und fühle mich trotzdem so doof. Was für ein schöner Tag! sagt der Eheholde und schaut sehnsuchtsvoll aus dem Fenster. Meine innere Wetterlage verkündet eher dichten Nebel, Regen und Sturmböen. Normalerweise würde ich jetzt bedauernd verkünden, dass es mir leider mies geht - selbstverständlich unter detaillierter Beschreibung der zur Verfügung stehenden Wehs - und ich mich lieber wieder hinlegen würde.

Noch während ich das denke, schäme ich mich. Mir ist - und war es immer - nämlich durchaus bewusst, dass ich meinem Gefährten damit den Tag verderbe. Auch wenn ich ihn generös auffordere, ihn doch für sich zu gestalten, was ich als ganz wunderbare Entschuldigung dafür nutzen kann mir einzureden, ich wäre TROTZ MEINES UNENDLICHEN LEIDS ja so wahnsinnig großzügig und selbstlos, ihn nicht zum bei mir Bleiben zu zwingen. Obwohl ich ehrlicherweise genau das erwarte. Zumindest dann, wenn ich gerade mal wieder sterbe. Und das tut er oft. Viel zu oft, wie ich mir noch immer beschämt eingestehe.

Ich reiße mich zusammen, konstruiere ein Lächeln in mein Gesicht und frage: Worauf hättest du denn Lust heute? Den schönen Tag sollten wir wirklich nutzen. Ich bin kurz erschrocken, als ich mich höre. Habe ich das eben laut gesagt? Hey, ich hab' Herz, ich will ins Bett! Der Herzensmensch ist nicht minder überrascht. Er schaut mich prüfend an und fragt: Geht's dir denn gut genug? NEIIIIIN! TUT ES NICHT! kreischt es in meinem Kopf. Mein Herz überschlägt sich mehrmals, und ich bin froh dass ich sitze, weil Schwindel und Blitze mich überkommen wie eine Naturgewalt. In meinem linken Arm pulsiert eine Schmerzwelle.

Ja, tut es! sagt irgendwer im Raum und ich bin entschieden verwundert als ich realisiere, dass das wohl ich gewesen sein muss. Ich bemerke einen beginnenden Krampf in meiner Kiefermuskulatur und justiere das Lächeln nach, das sich interessanterweise noch immer in meinem Gesicht zu befinden scheint. Im Ernst? kommt die gleichermaßen erstaunte wie erfreute Nachfrage.

Himmelherrgott, kannst du es mir nicht wenigstens ein bisschen leichter machen und dich einfach freuen? Ich versuche mich gerade mitten in einem Herzinfarkt am Sterben zu hindern! Daneben noch schlüssige Beweisführung zu betreiben, dass es mir wirklich gut geht, ist tatsächlich ein wenig mühsam. Das spreche ich diesmal nicht laut aus. Das könnte daran liegen, dass ich aktuell keine Luft kriege. Mein Lächeln gerät dabei etwas aus der Form und ich initiiere einen leichten Hustenanfall, um a) nicht aufzufliegen und b) wieder atmen zu können. Beides klappt.

Du siehst ein bisschen angestrengt aus, sorgt sich der Liebste. Okay. Meine Überzeugungsfähigkeit scheint Luft nach oben zu haben. Alles gut! lüge ich und stehe zur Unterstreichung meiner Worte mit so viel Schwung, wie ich eben so hinkriege, auf. Ganz schlechte Idee. Der Schwindel zieht mir die Beine weg und ich lande auf meinem Hintern auf dem Fußboden. In meiner Brust krampft es schmerzhaft. Ups, wohl etwas zu flott aufgestanden, kommentiere ich meinen missglückten Startversuch und grinse tatsächlich schon wieder. Ich ziehe mich an der Hand des Eheholden hoch und umarme ihn. Ich hab' einfach Lust, was mit dir zu unternehmen, sage ich, während ich mich an ihm festhalte.

Endlich gibt er nach. Dass wir schon so weit sind, dass er sich gar nicht mehr vorstellen kann, zusammen loszuziehen, ohne erst durch mein Gejammer durchzumüssen, schmerzt.

Wir entscheiden uns für einen Mittelaltermarkt, ein Winterlager, das etwas Besonderes ist. Während ich mich in meine Klamotten kämpfe - der Herzinfarkt ist ein wenig abgeflaut - meldet sich lautstark die Angst in meinem Kopf. Was ist, wenn ich unterwegs umkippe? Was, wenn es doch ein Herzinfarkt ist und ich diesen jetzt verschleppe und dann sterben muss? GEDANKENHYGIENE! brülle ich mich an. Ohne Stimme, aber laut genug, dass es im letzten Hirnwinkel zu hören ist.

Ich werde jetzt eine sauschönen Tag auf dem Mittelaltermarkt haben. Und wenn ich dabei sterbe, dann war das letzte in meinem Leben wenigstens klasse, und mein Schatz kann eine schöne Erinnerung bewahren. Ich bin so ergriffen von meinen Gedanken an diesen ehrenhaften Tod, dass ich beinahe heule. Diese Erkenntnis bringt mich glücklicherweise wieder auf Normaltemperatur. Was für ein Kitsch! Schließlich habe ich es erfolgreich ins winterliche Ausgeh-Outfit geschafft und überprüfe kurz meine Haare im Spiegel. Ich probiere ein Grinsen. Es funktioniert.

Und es wird ein richtig guter Tag. Ich muss kein bisschen mehr sterben, und wir lachen und albern rum, wie wir es lange nicht getan haben. Dieser Gedanke macht mich wiederum kurz traurig. Aber da kommt mein Lieblingsmensch mit einer Tüte heißer Maroni, und die Welt wird wieder rund.

Gutes Mädchen. Weiter so.

A


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