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Hallo miteinander,

ergänzend zu meinem Kontemplations-Thread über individuelle Probleme möchte ich hier einen ersten, bedeutenden Aspekt unseres Daseins, die Materie, beleuchten. Zu gegebener Zeit versuche ich mich dann an den anderen, geistigen Komponenten unseres Erlebens.

Es sind keine naturwissenschaftlichen Abhandlungen sondern vielmehr kompakte Vorschläge für ein Reines Beobachten der Erlebensaspekte mit dem Ziel ein gewisses Maß an induktivem Verständnis freizulegen. Dies vorweg als Erklärung, weshalb die Betrachtungen mitunter befremdlich und z. T. in hohem Maße gegenläufig zur alltäglichen Wahrnehmung erscheinen können.

Materie

Materie erleben wir idR nicht als Überbegriff sondern gestaltete Interpretation, als Benennung, Zeichen, Symbol, Wert etc. Nicht einmal die Aufteilung in die sogenannten Elemente (Feuer, Wasser, Wind, Erde, Raum) wird berücksichtigt, obschon ja auch das lediglich Begriffe sind.

Nein, wir unterscheiden vor allem in Materiellem, und zwar in vielerlei Hinsicht:

- Subjekt (Ich; zu mir gehörend, innerlich) und Objekt (die Dinge, die Welt, äußerlich).

- Örtlich, also im möglichen Bereich unserer jeweiligen Sinneskontakte (nah) und außerhalb davon (fern).

- Zeitlich, also Vergangenheit (gewesen), Gegenwart (ist) und Zukunft (wird sein).

- Sinnbezogen, also Sehsinn (Form, Farbe. ), Hörsinn (Geräusch, Klang), Riechsinn (Aroma, Geruch), Geschmackssinn (Sauer, süß, bitter. ), Tastsinn (Berührung jeglicher Art) und nicht zuletzt gedanklich (Erinnerungen der eben genannten 5 Sinneserfahrungen).

- Fühlend, also angenehm, unangenehm, neutral (= weder-noch).

- Wahrnehmend, also interpretativ, bewertend, kategorisierend, zuteilend etc.

- Existenziell: Den Dingen wird eine Entität, eine Eigenheit, ein Vorhandensein zugewiesen.

- Funktionell, gestaltend: Es wird von der Existenz von Dingen, von Welt, von meinem Körper ausgegangen, d. h. aufbauend auf sie wird gedacht, erlebt, geplant, verstanden.

usw.

Diese unvollständige Aufzählung zeigt bereits, dass Materie in keinster Weise unabhängig vom Geist definiert werden kann. Ohne Geist keine Materie an sich. Ich möchte an diesem Punkt als Hypothese festhalten, dass unser alltäglicher Geist die Materie (mein Körper, die Welt) grundsätzlich missversteht und dadurch eine leidbringende Anhaftung erzeugt.

Anhaftung an was? An die Materie, den Körper, die Dinge, die Welt.
Sind nun deshalb Materie, mein Körper, die Dinge, die Welt an sich leidhaft?

Nein! Wie könnten sie auch? Leidhaft ist die Anhaftung des Geistes an der Materie!

Was versteht man nun unter Anhaftung? Eben die Überzeugung, dass die o. g. Ansichten bzgl. der Materie zutreffen - der Geist baut auf Dualisierung auf und erschafft dadurch eine buchstäbliche Abhängigkeit - er erschafft Ich und Welt, setzt diese in ein sich gegenseitig bedingendes Abhängigkeitsverhältnis.

Ich möchte alle einladen, darüber zu diskutieren. Gerne kann ich auch konkrete Kontemplationsbeispiele geben - je nach Euren Vorschlägen.

21.08.2021 09:16 • 25.08.2021 x 5 #1


Das sind Erklärungen, die dem Buddhismus eigen sind. Das Anhaften zu beenden, soll alles Leiden beenden. Schön (ich liebe diese Lehrreden). Eckhart Tolle erklärt es ganz ähnlich. Um das Anhaften zu beenden, also jedes Beurteilen, Wollen und Nichtwollen für immer zu lassen, muss eine innere Transformation stattfinden. Sie geistig zu erreichen, ist 99,9 Prozent aller täglich ihr Leben lang praktizierenden (meditierenden und den achtfältigen Pfad einhaltenden) Buddhisten nicht vergönnt. Und dann gibt es noch das Wollen des Körpers, die millionen Jahre alten neurologischen Überlebensprogramme. Kann der Geist sie aufheben?
Hm.

A


Kontemplation / Materie

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Zitat von moo:
Anhaftung an was? An die Materie, den Körper, die Dinge, die Welt.
Sind nun deshalb Materie, mein Körper, die Dinge, die Welt an sich leidhaft?

Nein! Wie könnten sie auch? Leidhaft ist die Anhaftung des Geistes an der Materie!


Zitat von Fauda:
Das Anhaften zu beenden, soll alles Leiden beenden.

Kann man anhaften beenden? Oder kann man sie nur umwandeln? Von negativ in positiv oder neutral. Und warum ist man immer bestrebt das Leid zu beenden? Warum will man die Angst los werden? Liegt das nicht an der negativen Bewertung (Anhaftung) dieser Gefühle? Wenn man diese negative Anhaftung weg lässt, was bleibt dann vom Leid übrig?


Zitat von moo:
Ich möchte alle einladen, darüber zu diskutieren. Gerne kann ich auch konkrete Kontemplationsbeispiele geben - je nach Euren Vorschlägen.

Ich finde deine Texte immer sehr interessant, auch wenn ich ihnen leider nicht immer ganz folgen kann. Du denkst irgendwie anders als ich und dennoch habe ich das Gefühl, dass ich es so ähnlich handhabe (lerne).

Ich habe jetzt z. B. keinerlei Ahnung was so ein Beispiel sein könnte:
Nehmen wir an, ich wohne ich einer schäbigen Bude, weil es für mehr finanziell nicht reicht. Der Putz bröckelt von der Wand, Schimmel in den Ecken und Ungeziefer ist auch schwer zu vertreiben.
Was kann da eine Anhaftung sein? Ich ekel mich, ich fühle mich unwohl? Oder ich bin ein Versager, weil ich so leben muss? Meintest du sowas?
Wenn ja, wie sehe dann die Kontemplation aus?

Zitat von hereingeschneit:
Kann man anhaften beenden? Oder kann man sie nur umwandeln? Von negativ in positiv oder neutral.

Jegliches Wollen ist letzten Endes Anhaftung (auch das Nicht-Wollen). Anhaftung ist Anhaftung und weder negativ, positiv oder neutral. Letztere Bewertungen sind bereits Früchte (=bedingte Folgen) des Anhaftens.

Zitat von hereingeschneit:
Und warum ist man immer bestrebt das Leid zu beenden? Warum will man die Angst los werden? Liegt das nicht an der negativen Bewertung (Anhaftung) dieser Gefühle?

Wir reden hier zwar schon nicht mehr über den materiellen Aspekt, aber ich glaube auch, das sich hier unsere - meist etwas unterschiedlichen Formulierungen - ziemlich gut decken! Eigentlich beantwortest Du mit diesen Fragen bereits das obige (1.) Zitat zu einem gewissen Teil.

Zitat von hereingeschneit:
Wenn man diese negative Anhaftung weg lässt, was bleibt dann vom Leid übrig?

Du kannst (s.o.) auch noch das negative weglassen:

Kein Leid ohne Anhaftung - keine Anhaftung ohne Leid.
Ergo: Anhaftung ist Leid.

Noch ein Satzteil aus Deinem letzten Zitat müsste auf den Prüfstand: man...lässt weg. Es kann leider nicht funktionieren, etwas bewusst weglassen zu wollen. Schon gar nicht die Anhaftung! Die Anhaftung ist in allem, was wir als Ich und Welt verstehen und entsprechend verhaftet gestalten. Schopenhauer lässt grüßen...

Die direkte Einsicht in diese Wahrheit würde zu einer vollständigen Beendigung der Anhaftung und somit des Leidens führen. Sie ist jedoch mit diskursivem Denken leider nicht zu erlangen. Mir geht es in diesen Kontemplationen eben genau darum, vom dualistischen Denken wegzukommen indem wir durch ein wiederkehrendes inneres Schauen diesen Zusammenhang erkennen / sehen.

Wie @Fauda ganz richtig erwähnt, kommen nur sehr wenige Menschen in vollem Umfang zu dieser Einsicht/Befreiung, jedoch sind diese Einsichten auch in erheblich geringerem Maße äußerst bedeutend für unser weiteres Erleben. Im Zen z. B. wird einer ersten kleinen Wahrheitsschau (= Kensho) ein immenser, weichenstellender Wert zugesprochen. Im ursprünglichen Buddhismus nennt sich das Stromeintritt. Oder, um es mit einem Hollywood-Klassiker zu halten: Die Matrix wird verändert.

Diese Kontemplationen und auch die Bezeichnung Buddhismus sollte man aber nicht als Doktrin auffasen sondern wirklich als Arbeitshypothese um sein persönliches Leiden - jenseits von Religion und Philosophie - zu verstehen...und zu mildern. Letzteres ist nämlich in der Tat möglich, @Fauda - meinst Du nicht auch?

Zitat von hereingeschneit:
Meintest du sowas?
Wenn ja, wie sehe dann die Kontemplation aus?

Ja, ganz genau sowas! Es sollte allerdings kein hypothetisches Beispiel sein, sondern Dich konkret so betreffen/beschäftigen. Dann nämlich geht die Kontemplationspraxis direkt in die Tiefe und das Verständnis greift natürlicher. Es geht ja nicht um Nachdenken, sondern um Sehen/Erkennen...

Falls Dein Beispiel auf Deine aktuelle Wohnsituation zutrifft, können wir das gerne verwenden. Aber erst in Kürze, muss nun weg....

Zitat von moo:
Diese Kontemplationen und auch die Bezeichnung Buddhismus sollte man aber nicht als Doktrin auffasen sondern wirklich als Arbeitshypothese um sein persönliches Leiden - jenseits von Religion und Philosophie - zu verstehen...und zu mildern. Letzteres ist nämlich in der Tat möglich, - meinst Du nicht auch?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob man auf eigene Faust, aus sich selbst heraus, jenseits von Religion und Weisheitslehre, sein Leiden durch Verstehen mindern kann. Mir gelang es bisher nicht. Es bietet hier und da Trost und Hoffnung, ab und zu auch Selbstberuhigung. Einmal im Leben erfuhr ich eine tiefe Befreiung, spontan und für wenige Stunden. Es war ein Geschenk (Gnade) und gab mir einen tiefen Einblick. Aber es ereignete sich nie wieder. Hast Du es erlebt?

Zitat von Fauda:
Mir gelang es bisher nicht. Es bietet hier und da Trost und Hoffnung, ab und zu auch Selbstberuhigung.

Aber das würde doch bedeuten, dass es dein Leiden für einige Momente gemindert hat, oder nicht? Diese Momente halten halt nicht an, könnten sich aber ausdehnen.

Andererseits bin ich diesbzgl. auch etwas hin- und hergerissen. Es gibt ein Zitat von Volker Strübing, das sich eigentlich auf die gesellschaftliche Gestaltung unserer Zukunft bezieht, mir aber in diesem Zusammenhang auch öfter mal durch den Kopf schwirrt:
Wir brauchen Utopien und große Entwürfe. Nicht als konkretes Ziel, sondern als Regenbogen, auf den wir zugehen können, den wir aber nie erreichen werden. Aber was wäre die Welt ohne Regenbögen?

Zitat von Myosotis:
Wir brauchen Utopien und große Entwürfe. Nicht als konkretes Ziel, sondern als Regenbogen, auf den wir zugehen können, den wir aber nie erreichen werden. Aber was wäre die Welt ohne Regenbögen?

Ein wunderschönes Zitat! Dazu passt eine Regel aus dem Kyúdó (Japanisches Bogenschießen): Um das Ziel zu treffen, ziel daneben! Oder anders ausgedrückt: Treffen bedeutet, das Ziel in Frage zu stellen, zu transzendieren.

Zitat von Fauda:
Einmal im Leben erfuhr ich eine tiefe Befreiung, spontan und für wenige Stunden. Es war ein Geschenk (Gnade) und gab mir einen tiefen Einblick. Aber es ereignete sich nie wieder. Hast Du es erlebt?

Ja, mehrmals - vorwiegend während längerer Meditationskurse. Diese Erfahrungen sind aber eigentlich nichts Außergewöhnliches - es ist nur ein Blick hinter den Vorhang der alltäglichen Wahrnehmung, wie ich es gerne ausdrücke. Dass dieser Vorhang dann wieder geschlossen wird, bedeutet aber keine Schmälerung Deiner Einsicht! Es gilt, die Einsicht zu kultivieren, nicht unbedingt das (zugegeben beeindruckende) Erlebnis. Die Einsicht sollte in das Alltags(er)leben integriert werden und DAS ist fürwahr lebenslange Arbeit. Doch sie ist meiner täglichen Erfahrung nach jeden Tropfen Energie wert.

Zitat von Fauda:
Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob man auf eigene Faust, aus sich selbst heraus, jenseits von Religion und Weisheitslehre, sein Leiden durch Verstehen mindern kann.

Auf eigene Faust ist in der Tat selten. E. Tolle mag solch ein seltenes Beispiel sein. Immerhin hat er eine grandiose Begabung, seine Einsichten für Jedermann griffig verständlich zu machen.

Ich sehe im Dhamma (den ursprünglichen Lehren des Buddha) keine Religion. Er lehrte lediglich die Entstehung und die Auflösung des Leidens. Das was man heute als Buddhismus bezeichnet ist eben nur ein Sammelbegriff für die unzähligen Strömungen, die sich kulturvermischend in den unterschiedlichen Ländern binnen 2500 Jahren entwickelt haben.

Das was Du seinerzeit wohl erlebt hast, kannst Du im Dhamma konkret erklärt bekommen. Es ist allerdings so, dass seine vielen Reden immer auf die jeweiligen Zuhörer zugeschnitten waren. Deshalb leuchten einem manche Reden nicht sofort (oder auch nie...) ein. Nichtsdestotrotz ist der von Dir genannte Achtpfad definitv ein Weg, den jeder gehen kann. Und Deine Beiträge hier im Forum erwecken bei mir den Eindruck, dass exakt Du bereits ein ganzes Stück darauf gehst (oder gingst?).

Zitat von moo:
Ergo: Anhaftung ist Leid.


Mir hat der Gedanke geholfen: Schmerz ist unvermeidlich, Leiden ist optional.

Es ist nicht möglich, zu leben, ohne Schmerz zu erfahren. Er liegt im Wesen des Lebens, ist ein integraler Teil davon. Die Anhaftung und den damit verbundenen Schmerz können wir nicht überwinden, nur akzeptieren. Können lernen, diese neutral zu betrachten, ohne Wertung, und vor allem: ohne Wollen, denn dann können wir uns zwar nicht den Schmerz, aber das Leid ersparen.

Leid entsteht dann, wenn wir uns gegen einen Schmerz wehren, Widerstand aufbauen, es anders haben wollen.
Leiden= Schmerz + Widerstand

Im Buddhismus wird ja auch ebenjenes Wollen als die Wurzel des Leids beschrieben. Kann man das Wollen überwinden, überwindet man das Leid.

Womit wir wieder bei dem unvermeidlichen Thema der Akzeptanz wären.

Einen Schmerz zu erleben, sei es geistiger oder körperlicher, ist unvermeidlich, aber die Lösung zur Milderung des Schmerzes ist es imho, diesen zuzulassen, zu akzeptieren, dass er da ist, ihm Raum geben, ihn bewusst spüren. Im vollen Wissen darum, dass es durch die Dichotomie des Lebens eben genau dieser Schmerz ist, der es uns auch ermöglicht, Freude zu empfinden.

Quintessenz: Mir persönlich hat die Differenzierung zwischen Schmerz und Leid geholfen, anders mit Schmerz umzugehen.

Zitat von moo:
Oder, um es mit einem Hollywood-Klassiker zu halten: Die Matrix wird verändert


Ich finde es tatsächlich spannend, dass in einem Hollywood-Film eine uralte philosophische Frage aufgenommen wird, die Frage von Wahrnehmung und Außenwelt.
Kant sagte sinngemäß:
Es ist der größte Skandal der Philosophie, es bis heute nicht geschafft zu haben, den Beweis der Außenwelt zu führen.
In alten religionsphilosophischen Schriften ist oft die Sprache vom Täuscher-Gott, also dem Prinzip, dass wir eben nicht sagen können Dieser Tisch existiert, ich kann ihn sehen, berühren..., denn Sinneswahrnehmungen könnten ebenso das Resultat einer Täuschung sein, eingepflanzt, programmiert... Wir wissen es nicht und können es nicht beweisen.

Die Matrix innerhalb der Matrix beweisen zu wollen, ist nicht möglich. Man kann eine Ahnung haben, aber wissen und beweisen wird man sie nur von außerhalb der Matrix können (sofern kein Fehler in der Matrix auftaucht ).

Und da wir den Beweis nicht führen können, können wir uns nur davon trennen, ihn führen zu wollen,
können nur akzeptieren, dass wir in einer Welt/Außenwelt leben, deren Existenz fraglich und nicht zu beweisen ist,
und dass es eigentlich auch keinen Sinn macht, ihn führen zu wollen, da es keinen Unterschied machen würde,
denn die Anhaftung könnten wir mit diesem Wissen trotzdem nicht überwinden.

Danke moo für deine ausführliche Antwort. Diese Art zu denken ist mir noch fremd und ich habe immer Knoten im Kopf
Diesen Satz:
Zitat von moo:
Jegliches Wollen ist letzten Endes Anhaftung (auch das Nicht-Wollen). Anhaftung ist Anhaftung und weder negativ, positiv oder neutral. Letztere Bewertungen sind bereits Früchte (=bedingte Folgen) des Anhaftens.

werde ich noch einige Zeit wirken lassen. Der könnte hilfreich für mich sein.

Ich habe bewusst ein hypothetisches Beispiel genommen, weil ich erst mal wissen wollte, wie so eine Antwort von dir aussehen kann. Ich kann mir darunter jetzt eben nicht so viel vorstellen und darum hätte es mich jetzt einfach interessiert.

Zitat von hereingeschneit:
Nehmen wir an, ich wohne ich einer schäbigen Bude, weil es für mehr finanziell nicht reicht. Der Putz bröckelt von der Wand, Schimmel in den Ecken und Ungeziefer ist auch schwer zu vertreiben.
Was kann da eine Anhaftung sein? Ich ekel mich, ich fühle mich unwohl? Oder ich bin ein Versager, weil ich so leben muss?


Gut, dann nehmen wir gerne dieses (hypothetische) Beispiel. Da wir hier vorwiegend den materiellen Aspekt kontemplieren, bitte ich zu berücksichtigen, dass die damit zusammenhängenden (geistigen) Faktoren nur in minimalem Maße mitbetrachtet werden.

Schäbige Bude

Dies hier sind 50 qm Wohnfläche bzw. 125 Kubikmeter Raum. Einfach nur Raum. Dieser Raum entstand durch den Bau von sogenannten Wänden, Böden und Decken. Die Materialien entstammen letzten Endes dem Erdreich, welches sowohl durch Hitze, Flüssigkeit und Bewegung in Form gebracht wurde.

Somit bedingt die [i]Form den Raum und umgekehrt.[/i]

Dasselbe gilt für die Dinge, die sich im Raum befinden. Meine Wand ist außerdem manchmal auch die Wand meines Nachbarn oder meine Decke ist der Boden meines Übernachbarn usw.

Diese Wohnung wurde irgendwann einmal mit sogenanntem Geld bezahlt, das physisch nicht vorhanden war. Es waren Ziffern (= Formen auf Papier), Buchgeld. Dieses Geld war das Resultat von körperlichen und geistigen Vorgängen eines oder mehrerer menschlicher Körper (= bezahlte Arbeit) usw.

Das Haus hat acht Stockwerke, steht in einer bestimmten Wohngegend einer Stadt. Alles wie es sich entwickelt hat, hat Ursachen, Bedingungen. Obgleich auch diese Ursachen auf vorherigen Ursachen aufbauen und die aktuell vorherrschenden Verhältnisse die Ursache für zukünftige Entwicklungen bilden, sind sämtliche Ursachen und Wirkungen wertfrei. Es ist einfach ein natürliches Verhältnis.

Die Interpretation liegt beim menschlichen Geist.

Was macht nun diese Wohnung schäbig?

Der bröcklige Putz? Was ist bröckliger Putz? Es hat sich das Verhältnis der Elemente (mehr/weniger Feuchtigkeit bzw. Temperatur, Erschütterungen, Salzausblühungen aus Stein) verändert. Auch diese Veränderungen haben eine natürliche Ursache. Ein Stück Putz, das vom Wandsockel abbricht, befindet sich lediglich jetzt an einem etwas anderen Ort (= Raumverschiebung). Die optische Oberfläche hat sich strukturell und farblich verändert.

Der Schimmel in den Ecken? Was ist Schimmel? Aus den Gegebenheiten veränderte sich das Erdelement. Es fand ein natürliches Wachstum statt. Feuchtigkeit, Temperatur und Sauerstoffverhältnisse ermöglichten dies. Ein grüner Schimmelbelag in den Ecken stellt ebenfalls eine strukturelle, farbliche und mitunter geruchliche Veränderung dar.

Bröckelnder Putz, Schimmel, Un(?)geziefer usw. sind alle absolut wertfrei. Die Interpretation als etwas Unangenehmes, Ekeliges, Peinliches, den eigenen persönlichen Wert Minderndes nimmt der menschliche Geist vor.

Die Schäbigkeit wird vom menschlichen Geist gewirkt.

Es gibt Menschen, die in derlei Wohnungen ein Leben lang glücklich und dankbar sind und solche, die ihr Leben lang todunglücklich darüber sind.

Der Unterschied in diesen beiden völlig differierenden Wahrnehmungen liegt in der jeweiligen individuellen Gewordenheitdes Geistes.

Dies gilt es zu sehen und anzuerkennen.

Nicht zu vergessen: dass überhaupt Auge, Objekt und Sehbewusstsein vorliegen, ist wiederum die körperliche (materielle) Grundlage für geistiges Erleben (z. B. dieser Wohnung). Würde eine dieser drei Komponenten fehlen, fehlte auch jegliche Grundlage für die geistige Interpretation.

---

Das war im Ansatz eine Kontemplationsmöglichkeit des materiellen Aspektes für obiges Beispiel.

@silverleaf ´s Kommentare zur Differenzierung von Schmerz und Leid mag man bereits hier recht schön erahnen können... Das Verständnis für die Leidensentstehung ist jedoch entscheidend um eine heilsame Veränderung zu ermöglichen. Hierzu müssen die idF noch zu besprechenden Kontemplationen der geistigen Faktoren des Erlebens mitberücksichtigt werden.

Doch ich sehe alleine schon hier im Bereich dessen, was wir als Materie bezeichnen schon ein großes Einsichtspotenzial.

Vielen vielen Dank, dass du darauf eingegangen bist. Ich kann damit viel anfangen. Das Witzige ist, dass ich, als ich das Beispiel gewählt habe, echt schlimme Bilder im Kopf hatte. Mir ist jetzt aber aufgefallen, dass ich vieles auch auf mein Haus (und meiner Mama) übertragen kann. Bei mir fällt auch der Putz weg (außen) und ich habe Stellen mit Schimmel, aber mein Haus hätte ich nie als schäbig beschrieben höchstens als renovierungsbedürftig
Diese Antwort kann ich wieder gut in meine Denkweise (Bewertungen) integrieren und stelle somit für mich fest, dass es an mir liegt, wie ich etwas bewerte oder ob überhaupt.

Mein Leitsatz ist ja: Es ist wie es ist. Schauen wir, was wir daraus machen möchten, wie wir damit umgehen möchten.

Zitat von hereingeschneit:
Das Witzige ist, dass ich, als ich das Beispiel gewählt habe, echt schlimme Bilder im Kopf hatte. Mir ist jetzt aber aufgefallen, dass ich vieles auch auf mein Haus (und meiner Mama) übertragen kann. Bei mir fällt auch der Putz weg (außen) und ich habe Stellen mit Schimmel, aber mein Haus hätte ich nie als schäbig beschrieben höchstens als renovierungsbedürftig.

Danke - das freut mich, dass Du was damit anfangen kannst . Und ich muss auch zugeben, dass die meisten Hypothesen, die ich aufstelle, im Endeffekt doch ziemlich mit mir zu tun haben...

Die Kontemplation über den Körper (und Materie ingesamt) greift bei uns Westlern oft sehr gut, weil es für uns Augenmenschen etwas zugänglicher scheint. Ein Blinder wird hingegen mit Tönen, Klang, Geräuschen besser arbeiten können.

Die Kontemplationen über die geistigen Faktoren hingegen muten mitunter trockener an. Deshalb lautet die einschlägige Empfehlung oft, mit der Materie-Kontemplation zu beginnen, damit man die Struktur schon mal verinnerlicht.

Du kannst Dir das o. g. Beispiel ohne weiteres als Blaupause für sämtliche materiellen Phänomene umschnitzen. Übrigens auch, wie von @silverleaf schon genannt, für z. B. körperliche Schmerzen, (vermeintlich!) Unschönes am eigenen Körper etc...

Stelle idealerweise irgendwann alles auf diesen kontemplativen Prüfstand und eine Ahnung für eine gewisse geistige Freiheit blitzt auf.

Zitat von moo:
wie von schon genannt, für z. B. körperliche Schmerzen, (vermeintlich!) Unschönes am eigenen Körper etc...

Ja stimmt, das ist auch ein sehr schönes Beispiel.


Zitat von moo:
Stelle idealerweise irgendwann alles auf diesen kontemplativen Prüfstand und eine Ahnung für eine gewisse geistige Freiheit blitzt auf.

Hast ja auch schon in meinem Tagebuch gelesen, das war für mich auch sowas. Anschauen was ist ohne es zu bewerten. Wie es beim Leser ankommt weiß ich natürlich nicht, aber für mich war es so und hat mir viel geholfen. Ich beschreibe es halt einfach nur mit Bewertung, denke aber dass es im Endeffekt dann doch auf das Gleiche rauskommt. Das Gefühl verändert sich, man kann dann besser damit umgehen, das Leid wird reduziert.

Aber es ist immer interessant, auf was man das alles beziehen und anwenden kann. Da meint man, man ist schon gut unterwegs und dann wird einem aber aufgezeigt, dass man doch nur einen minimalen Bruchteil sieht und ansonsten sehr bewertend unterwegs ist.

Zitat von hereingeschneit:
Ich beschreibe es halt einfach nur mit Bewertung, denke aber dass es im Endeffekt dann doch auf das Gleiche rauskommt.

Hi nochmal,

da ich mir hier nicht sicher bin, ob wir hier dasselbe meinen, ergänzend noch zum Begriff Bewertung: Ich verwende hier lieber die Bezeichnung Interpretation, da dies m. E. zutreffender ist. Interpretation umfasst ja sämtliches Vermeinen (von mein-machen) und hat damit nicht nur bewertenden Charakter im Sinne von gut / schlecht etc.

Interpretation kategorisiert und dualisiert in jegliche Richtung und vor allem in Ich und Welt.

Ich werde später diesen Unterschied noch genauer herausstellen, wenn es um Gefühle und Wahrnehmung geht.

Zitat von moo:
da ich mir hier nicht sicher bin, ob wir hier dasselbe meinen,

Bin ich mir auch nicht
Bei mir geht es definitiv um Bewertungen, um einordnen, in Schubladen stecken..... Ein Tier als Ungeziefer zu bezeichnen ist ein negative Bewertung, weil wir mit dem Begriff negatives verbinden. Ebenso wie schäbig....Viele Begriffe beinhalten ein Gefühl. Halt, Moment. Vielleicht meinst du das mit anhaften? Weil im Prinzip ist das Wort ja nur eine Beschreibung und die Gefühle haften dann an.
Und somit interpretieren wir dem Wort Gefühle zu.
Jetzt habe ich schon wieder einen Knoten im Kopf

Guten Morgen

Kein Problem - es ist schon wichtig, die z. T. subtilen Details zu besprechen...

Bleiben wir wieder bei dem Beispiel des Ungeziefers. Bereits der Begriff Insekt oder Tier ist eine Interpretation, eine Benennung für sichtbare Formen und Farben, hörbare Geräusche etc.. Wir haben uns darauf geeinigt, dies als z. B. Kakerlake zu bezeichnen. Insekt oder Tier hat aber (noch) keinen bewertenden Aspekt. Der Begriff Ungeziefer hingegen beinhaltet eine Bewertung, und zwar eine negative, richtig! Und diese Bewertung ist gefühlsbedingt. Bewertung ist menschgeschaffen.

Und wie Du auch ganz richtig feststellst, sind derlei Bewertungen (gut, schlecht, neutral) immer mit Gefühlen verbunden (gut, schlecht, neutral). Bewertungen und Gefühle sind letztlich untrennbar - es sind zwei Seiten einer Hand.

Nun ist für viele die Zweifelhaftigkeit von gefühlsbedingter Bewertung vielleicht nachvollziehbar. Doch ich möchte daran erinnern, dass auch sämtliche o. g. Interpretationen (Kategorien, Bezeichnungen) nicht zuverlässig sind. Sie sind ebenso gefärbt von der Anhaftung des Geistes an den Erlebensfaktoren. Das Erleben von Ich und Welt ist letztendlich die Anhaftung. Wo diese Dualisierung nicht vorherrscht, ist Anhaftung aufgehoben. Jeder von uns hat sowas auch schon mal - wenn auch für nur wenige Augenblicke - erlebt, wobei man hier nicht (mehr) von einem Erleben reden kann - derjenige war nämlich erlebenstechnisch (sic!) nicht vorhanden...

Ich lass das mal so stehen. Die Kontemplation über Gefühle (und deren Produkte, die Emotionen) wird das noch viel ausführlicher beleuchten.

A


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