Herrje, ich schon wieder mit meiner Überemotionalität ...
Jetzt 1 h danach ist mir meine Euphorie schon wieder etwas suspekt, doch an diesem Abend fühlte ich mich eine Weile lang so lebendig wie schon ewig nicht mehr. Es tut mir gut, zu der Schreibgruppe hinzugehen.
Selbst wenn das Folgende nicht passiert wäre, wäre es ein netter Abend gewesen für mich, bzw. zur Abwechslung mal ein wenig entspannend.
In dieser Schreibgruppe schwankt die Besetzung von mal zu mal sehr stark. Wir waren erst nur zu dritt, ein Bekannter und ein Neuer, und ich habe mich schon lange nicht mehr so behaglich in einer Kneipe gefühlt. Tja, wobei ich ja außer zu den Gruppentreppen fast nie irgendwo in einer Kneipe bin ...
Ganz frei von Unbehagen war es Wahrheit nicht. Doch ich habe von mir erzählt, ohne dass ich mich schämte oder klein fühlte. Ich war nicht wirklich selbstbewusst, doch es war okay. Beinahe groovte ich mich in meine schon etwas eingerostete charmante Art ein, die ich - - - - - - höchst selten habe. Es fiel mir stark auf. Es war mir angenehmer als sonst.
Das Folgende: Aus dem nichts kam noch eine Studentin hinzu, die sich - zwangsläufig auf den letzten freien Platz - neben mich setzte. Ich darf jetzt nicht zu viel erzählen, sonst könnte jemand sie noch erkennen. (Sofern jemand sich erinnert, in welche Stadt ich (am häufigsten) fahre.) Denn sie hat so ein paar Seiten an sich, die außergewöhnlich und merkfähig sind. Sie lernt exotische Sprachen, gibt selbst Sprachunterricht und ist schon sehr weit rumgekommen.
Klein, apart und mit einer interessanten Nase saß sie neben mir und ich hätte sie am liebsten aufgesogen mit allen Sinnen, so verblüffend und erfrischend erschien sie oder die Situation mir. Sie trug ein Gedicht vor. Anfangs saß sie nur im T-Shirt da, wir anderen alle in Pullovern und ich mutmaßte, sie müsste von einem Sportkurs gekommen sein (und daher wäre ihr noch warm).
Eine beträchtliche Zeit später zog sie sich auf Frauenart wärmer an, aber der Eindruck blieb: Sie friert nicht so schnell. Ungewöhnlich. Das Gedicht verfing nicht in mir und dann doch, auf die Weise, dass ich mir einbildete, ziemlich genau zu wissen, in welcher Stimmung sie es geschrieben und was sie damit sagen wollte. Sich im Fremden, in der Befremdung zurechtfinden und sogar heimisch fühlen. Das Zu-sich-Kommen, die erstaunlichste Begegnung, die es gibt ... Was macht das aus? Ich glaube, es ging ihr um nichts weniger. Sehr spannend.
Ihr türkischer Vorname hat eine Bedeutung, die ich hier aber nicht hinschreiben möchte. Was immer mir daran poetisch, hell und sinnlich erschien, möchte ich gar nicht ausplaudern ... Ich glaube, ich war kurz davor, mich zu verlieben. Wie sie von einer Favela in Brasilien erzählte, dass sie dort mit ihrem Hautton kaum als Ausländerin auffiel, oder davon, wie ihr Paris erschien ... Sie wohnte dort wohl allein in dem (großen) Haus eines Bekannten, wie sie sagte, in einer nicht ganz ungefährlichen Banlieue. Und da war ein Hauch von Exklusivität oder von einem höheren Zirkel an ihr, ohne jede Arroganz, doch mit mir kühn erscheinender Selbstbehauptung: wie sie sich als Studentin ihre Reisen überhaupt leisten kann? Vermutlich macht sie eher so was wie Bed and Breakfast und das ist eine falsche Fährte, anzunehmen, sie sei reich. Sie in Paris konnte ich mir vorstellen oder phantasierte zu viel. Mir fiel das Buch von Rainer Maria Rilke ein, so eben gerade noch, der ja darin viel über Paris notiert hatte, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, ich erinnere mich kaum an Details aus diesem Roman, doch daran, wie eindrücklich die Schilderungen waren.
Dann, meine Enttäuschung, als sie mir ihr Studienfach nannte. Will ich hier ebenfalls besser nicht erwähnen. Andererseits sollte ich deshalb nicht werten. Ich hätte zurückfragen sollen, was sie daran reizt oder wie sie dazu kam. Und Kritik steht mir nicht zu oder ich hätte sie humorvoll und neckend anbringen müssen. Ich war in dem Moment eigentlich schon zu sehr in meinem Beinahe-verliebt-Gefühl.
Als Nächstes ging plötzlich die Livemusik los. Rockbluesmusik, so in der Richtung, krachend laut, nicht schlecht, wenn auch nichts, was mich in Ohnmacht fallen lässt. Die Gitarre war nett, mit Hang zum kurzen Solo und ein bisschen brachial. Gefiel mir. Livemusik hat ohnehin fast immer einen Bonus.
Der Raum in der Kneipe kam mir auf einmal sehr hoch und von der Musik schwingend vor. Das war mental gefühlt kurz vor der Mitschunkelgrenze. Eigentlich würdigten wir alle die Musik mit leichtem Mitgehen. Sie übrigens am wenigsten. Als wir noch zu dritt waren, hatten wir anfangs über Musik gesprochen, und jetzt wieder, es war amüsant. Wer den Hardrock-Kern zu weich findet und wer trotzdem mitwippte. Ich erwähnte die Band Die Happy und keiner kannte sie. Was ist bloß los mit der Jugend? Wobei das zu softer Hardrock ist für viele. Jemand sagte was von Linkin Park - fast ein gemeinsamer Nenner.
Weil die Musik quasi direkt neben uns spielte, superlaut, mussten wir uns mehr oder minder anschreien, um uns zu verstehen. Zwischen den unvermittelt leisen Leertakten wiederum die Sätze klirrend deutlich, wie herunterfallendes Besteck auf Steinboden.
Es kam dazu, dass sie mir ins Ohr schrie und man möge es mir nachsehen, das finde ich einfach umwerfend und er ot isch. Diese Wucht, diese Nähe. Ich lasse mir gerne von Frauen in die Ohren brüllen. Und das ist keineswegs anzüglich gemeint, im Sinne von: In der x. beim X. Wenn eine Frauenstimme sehr laut in mir ist, kommt mir das so vor, als würde mich ein angenehmer Tsunami überrollen. Es existiert dann auch nichts anderes. Kein Zweifel. Nichts Unschönes. Keine Zeit. Keine Begierden. Mein Kopf liefert sich aus. Vielleicht bin ich da ein bisschen sonderbar.
Das hatte kaum eine Dreiviertelstunde zu viert gedauert, bis wir aufbrachen und ich hatte den Eindruck, ich kenne diese Frau bereits unverschämt gut. Ihre Augen, ihren Körper, ihre Bewegungen. Und was sie beschäftigt. Sie wird mich nur noch in sehr kleinen Dingen überraschen können. Ich glaube, ich bin sehr nahe an der Verliebtheitsgrenze. Besser, ich schwappe nicht rüber. Besser, ich halte mich im Zaum. (Es heißt tatsächlich, sich im Zaum halten, nicht im Zaun!) Man könnte auch sagen: Zügele dein überschäumendes Herz. Idiot.
Und um mich mal ein bisschen zu erden: Sie hat sicher nichts an mir gefunden. Ich bin ja doppelt so alt wie sie, was soll das, das ist lachhaft. Andererseits ist das Literarische meine starke Seite. Ich könnte sie in Grund und Boden flirten mit meinem Wissen, meinem Feingefühl, meinem Knowhow über Metaphern. - Oh, die Metapher ist schwierig, man darf sie nicht übertreiben, gleichzeitig ist sie unbestritten das I-Tüpfelchen auf der Glasur. (Neee, passt nicht!) - Was niemand weiß, es gibt ein Terrain neben dem Fußball, auf dem ich mich, berechtigt oder nicht, einigermaßen zuhause fühle. Wir sind keine Anfänger. Wir kennen das Alphabet, die Serifen, die Druckerschwärze, die Weißräume - show don´t tell!
Das Durchscheinende am Papier ist manchmal schön, wenn man die eigene Hand, angestrahlt von einer Lampe, durch das Blatt hindurchleuchten sieht wie einen lichtfleckigen Schatten oder ein Nebelgebilde. (Übrigens ist die Haut weitgehend lichtdurchlässig; deshalb sieht sie ja leicht rötlich aus.) Doch auch das schwerere blickdichte ist schön, weil es meine Geheimnisse auf der dafür gedachten Seite behält.
Wenn ich meine eigene Handschrift von hinten durch die Rückseite des Blattes sehen kann, bin ich in der Regel etwas enttäuscht. Sie sieht nach krakeligen, etwas zu großspurigen Schwüngen aus. Als hätte den Schreiber eine falsche Euphorie erfasst. Und es sind keine großen Schwünge, nicht ausschließlich, dazwischen schweben lauter Haken und kleinteilige Auf- und Abbewegungen. Als könnte ich meine Kleinkariertheit nur schlecht kaschieren. Alles, was da Zusammenhang und gelernte Schönschrift verkündet, ist wohl eher Makulatur. Diesen Eindruck habe ich häufig von der Rückseite meiner Handschrift. (Oh, eines meiner Lieblingsthemen! Von vorne betrachtet, geht es nämlich. Ich habe eine maskuline und sinnliche Schrift, vis-à-vis und in blühenden Majuskeln angeguckt. Behaupte ich. Doch es mag sein, dass man von vorne zu gut mitliest. Man liest mit und glaubt der Verstandesseite. Seltener der Gefühls- oder dunklen Seite.
Ich hoffe, ich werde mich nicht daneben benehmen ihr gegenüber. Andererseits, da ich hier schon zu viel ausposaune, wie ich mich kenne, zerrede ich meine Gefühle ohnehin. Beim nächsten Treffen wird das abflauen, abgeflaut sein. So wahr die Lamberti-Kirche in Münster steht. Ihre Unterarme, kurz und dünn, zu den Handgelenken schmal und filigran zulaufend, man muss beinahe an Barcelona und die Architektur Gaudis denken, gefielen mir, aber das tun sie ja immer, die Frauenarme.
Gestern 23:35 •
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