DESINTERESSE AM JAHRESBERICHT
(Eine Mischung aus Traum und Erzählung)
Ich schreibe von der Hauptfigur als er, obwohl doch
ich das Folgende erlebt und auf meine typische Art nachlässig niedergeschrieben habe; wenn man überhaupt von
Erlebnissen sprechen kann, denn letztlich ist mir an jenem Tag wie auch an den allermeisten anderen Tagen meines bescheidenen Lebens nichts Bemerkenswertes passiert.
Auch, weil ich mir nicht ganz sicher bin, wer ich bin und wie ich von mir schreiben soll, ohne dass es unaufrichtig, herbeigeredet und verfälscht klingt, bevorzuge ich als Erzählhaltung die dritte Person.
Er ist ich oder zumindest ein Teil von mir, und ich bin
er, mehr oder minder; vertiefen wir dieses Problem nicht unnötig, solange ich keinen Zweifel daran erkennen kann, dass mein Nachbohren in dieser Sache nichts Produktives zu Tage fördern wird. Das als zu geschwätzige Vorrede; ich fange an:
Um zu der Jahressitzung zu gelangen, musste er die ganze Stadt durchqueren. Die Sitzung wurde in einem zehnstöckigen multifunktionalen Verwaltungsgebäude im Südosten abgehalten und er lebte in einem kleinen Bungalow in der Peripherie im Nordwesten. Dazwischen lagen das krakenhaft große Zentrum und etliche unnötig ausgedehnte Vororte, ein tödlich langweiliges Sumpfgebiet, ein lärmverseuchtes Flughafen-Areal, eine kleine lebensfeindliche Wüste und der sich um die Stadt ziehende Ring mit den äußerst lästigen einbetonierten Panzerbarrieren aus den letzten beiden Kriegen. Das ist natürlich eine Übertreibung und doch kommt sie die Wahrheit sehr nahe.
Das erste Teilstück hinein in die Stadt musste er mit dem Auto absolvieren; das war unvermeidlich, wollte er nicht zwei oder drei zusätzliche Stunden im Bus verbringen, der aus unerfindlichen Gründen wie mit angezogener Handbremse und an jeder Milchkanne haltend die Vororte durchschlich, als wollte er Rekorde in Unwesentlichkeit und Zeitverzögerung aufstellen. Die Bahnverbindung von seinem Zuhause aus war noch schlimmer. Fast hatte er den Eindruck, wannimmer er die Bahn benutzte, zu deren Station er mehrere Kilometer stadtauswärts, also entgegen seiner Zielrichtung fahren musste, dass der Zug in ebenso falscher Richtung den winzigen Bahnhof verließ (, an dem es nicht mal einen Kiosk gab, so unbedeutend und wenig frequentiert war diese Haltestelle), um sich erst nach einem ebenso kühnen wie unnötig weiten Bogen hinein in das Umland dem Zentrum widerstrebend anzunähern.
Wenn er aber das Auto nahm, musste er in der Stadt parken und in die U-Bahn wechseln, denn mit dem Wagen die morgens infernalisch verstopfte Innenstadt durchqueren zu wollen, war vollständig sinnlos. Dann hätte er das Vorhaben, halbwegs pünktlich zur Besprechung zu erscheinen, von vorneherein aufgeben und sich mit meditativer Gelassenheit dem Klammergriff des Staus überlassen müssen. Tatsächlich schien es ihm, als würde sich die Stadt, je näher er ihrer Mitte kam, in einen Moloch und ein raum- und zeitfressendes Monster verwandeln; dabei war sie ja, jeden einzelnen Quadratkilometer aus Baukörper, Asphaltdecke und bodennahen, störungsanfälligen Rohr- und Versorgungsleitungen für sich genommen, harmlos; in einen selbsttätig lebenden Organismus, der nichts Besseres im Sinn hatte, als ihm entgegen zu arbeiten und alle seine Ziele zu durchkreuzen oder mindestens zu erschweren, so dass man sie ohne äußerste Konzentration und übermenschlichen Einsatz aus den Augen verlor. Die Innenstadt war wie eine atmosphärische Planetenhülle, an der sein herannahendes Raumschiff, ein alter, nur noch vom Rost zusammengehaltener Opel, immer und immer wieder abprallte, ohne dass er verstand, warum.
Die stets überfüllte U-Bahn funktionierte ab dem Zentrum, das war ein kleiner Trost, doch vor dem Hinabsteigen in den Untergrund galt es, einen Parkplatz zu finden. Natürlich konnte er eines der großen Parkhäuser am Rande der City ansteuern; für die unverschämt hohe Tagesgebühr (gefühlt nahe zwanzig Euro) hätte er fast ein Taxi für die vom Zentrum aus verbleibende Strecke nehmen können; auf der Rückbank eines Taxis hätte er sich zudem optimistischer gefühlt; auch wenn es sich genauso wenig wie sein Opel durch den Stau hätte zaubern können. Oder er parkte gratis in der Vorstadt, musste dann aber von dort noch sechs bis acht Stationen mit der Straßenbahn zurücklegen müssen, bevor er in die U-Bahn hätte umsteigen können. Wie er es auch anstellte, es war verkehrt.
Die einzige ernsthafte Alternative wäre gewesen, einen Hubschrauber zu mieten und über dem Südosten der Stadt (wegen der nichtvorhandenen Landeplätze) mit einem Fallschirm abzuspringen; oder frühmorgens nicht später als 5 Uhr loszufahren; vor 6 Uhr lag die City noch im Dämmerschlaf, im apathischen Dunst der Dämmerung.
Das überfrühe Aufstehen war nun allerdings ganz und gar nicht seine Sache. Zwar wachte er zeitig mit dem ersten noch wie improvisiert den Himmel aufhellenden Sonnenstrahl auf; hatte jedoch regelmäßig die Empfindung, das Bett und seine wohlige Wärme und Traumsphäre zu verlassen, sei ein gigantischer, kaum wieder gutzumachender Fehler.
Nur morgens im Bett fühlte er seinen Körper als brauchbare und ausreichende Wohnstätte seiner Empfindungen; als eine Art innerer Mitte und sogar Tempel seines Selbst. Was immer das heißt. Morgens im Bett kuschelte er mit sich; er rieb sich mit beiden Händen die stets berührungssüchtige, zu echter Liebe anscheinend untaugliche Brust und dann beide Arme aneinander; oder er wickelte eine zweite Decke zu einer Rolle, die er seitlich fest an sich presste und über die er ein angewinkeltes Bein schob; diese Rolle ersetzte einen zweiten menschlichen Körper, mit dem er sein behagliches Nest gerne geteilt hätte. Er lebte zu lange schon als Single, vor lauter Desillusionierungen für alles Positive beinahe restlos verdorben, um noch ernsthaft zu hoffen, eine Freundin oder Geliebte zu finden. Eine, die er bewundern, mögen und abküssen und mit Ausflügen in den Tierpark, zur Landesgrenze oder zu von Algen und Seerosen übersäten Badeseen begeistern konnte. Denn darauf, jemanden zu bewundern, zu mögen, zu begeistern und in verschlingender Weise zu küssen, war er versessen. Das war noch gar kein Verlangen nach orgiastischen Exzessen, das ihn in den hinteren Ecken seines Bewusstseins diffus und geringfügig quälte; im Vordergrund stand eindeutig die Lust auf simple körperliche Nähe und die Sensation, jemand Vertrautem ins Gesicht schauen zu dürfen. Zumindest am Morgen hielt sich seine Sehnsucht angenehm in Grenzen; dennoch war es schwierig, aus den Federn zu steigen und sich dem Alltag zu stellen.
Er frühstückte einigermaßen gerne, mit Radiobegleitung in den Ohren und dem allmählich erwachenden leisen Rumoren der Vorstadt im Rücken; er war ein Morgenmuffel, der sich erst nach der Nahrungsaufnahme (in begrenztem Maße) zur Aktivität bereit fühlte. Wenn er durch das Küchenfenster nach draußen sah, suchte sein Blick nach aufsteigenden Vogelschwärmen, denen er versonnen hinterherblickte und ihre gedankenlose Ungebundenheit neidete.
Nach dem ersten Drittel seiner Autostrecke fuhr er mehrere Kilometer an einem schmalen Grünstreifen entlang, den Park zu nennen ein Euphemismus gewesen wäre. Doch hier in der Vorstadt bildete jedes bisschen Grün einen schönen Kontrast ... ja, zu welcher Farbe denn? Hatte die Stadt eine? Je näher man zum Zentrum rückte, desto mehr hochstockige Gebäude, Fensterreihen, Mauern, Container, LKWs und Werbe- und Leuchttafeln verstellten den Horizont. Die Bürgersteige wurden, zumindest an den Hauptverkehrsadern, breiter, belebter, bevölkerter, je tiefer man vordrang, und die geschäftsmäßige, ameisenartige Eile der Passanten prägte zunehmend das Bild. Eine klare Farbe besaß die Stadt gar nicht, vielmehr eine verwaschene Buntheit, und doch stach ihm das Rot der Ampeln wie eine Zumutung ins Auge.
In dem schmalen Park hätte er gerne ein oder zwei Stunden gesessen, den Berufsverkehr und mit ihm den Tag an sich vorbeirauschen lassen und sich seinen Lieblingstieren, den Eichhörnchen gewidmet, die aufgekratzt die Bäume hochsausten und irgendwie kokett über die Äste tanzten. Er unternahm es zu selten, doch wannimmer er Zeit in einem Park verbrachte, beruhigte das in der Regel seine von vielen kleinen Ängsten und Trübsinnigkeiten aufgewirbelte Seele; und meist geschah dort auch irgendetwas für ihn Besonderes. Er erinnerte sich an solche Kleinigkeiten wie das mal eine von einer Windböe herbeigewehte, dramatisch zerknitterte Zeitungsseite sich ausgerechnet an seinem rechten Hosenbein verfing; wie absurd sich das anfühlte; er nahm die Seite, glättete sie auf seinem Schoß und las als einzige deutlich erkennbare Schlagzeile natürlich etwas über den unmittelbar und unvermeidlich bevorstehenden Weltuntergang. Ein anderes Mal sprach ihn ein erstaunlich akkurat gekleideter und frisch frisierter, schmallippiger Jugendlicher mit blondem Milchbart an, ob er vielleicht Dro. für ihn hätte. Perplex fragte er bloß zurück, was für Dro. denn? Und der junge Mann blickte enttäuscht beiseite und ging wort- und grußlos weiter. Ein drittes Mal saß er so lange an einem eher kühlen, wolkenverhangenen Tag buchlesend im Halbschatten einer mächtigen Eiche - es war April und das Blattgrün noch kaum vorhanden -, dass er sich an seiner hohen Stirn und auf der linken Wange einen Sonnenbrand holte. Das war jedoch in einem anderen Park gewesen, vielleicht sogar in einer anderen Stadt.
Am Vorabend hatte er seiner Teamleiterin vom Homeoffice aus mehrere Mails geschickt, den Jahresbericht betreffend. Im Anhang eine Excel-Liste, mit der er sich die letzten Wochen immer wieder mal beschäftigt hatte und die ein umfangreiches Zahlenwerk zu seinem Ressort abbildete. Es hatte ihn anfangs gereizt, dann mit der Zeit angeödet und schließlich angewidert, diese Zahlen aufzustellen und zu bilanzieren. Die Teamleiterin, die ihm vom Rang her gleichgestellt und erst drei Jahre in der Firma war und bloß operativ eine Leitungsfunktion innehatte, hieß
Viscontia; ein absurd seltener, ihn abstoßender und dennoch neugierig machender Vorname. Ihre Familie stammte aus Italien, der Lombardei oder den Abbruzzen oder aus Kalabrien oder Dalmatien oder Umbertonien oder woher auch immer, das war ihm ganz gleich, regte allerdings seine Phantasie an. Er wusste, dass sie sich kein bisschen für ihn interessierte, während er selber jede neue Kollegin auf eine mögliche Annäherung hin automatisch scannte. Einmal hatte sie ihn nach seinem zweiwöchigen Sommerurlaub im Büro begrüßt und er schon am geschäftsmäßigen Klang ihrer Stimme erkannt, dass ihr gar nicht bewusst gewesen war, dass er vierzehn Tage im Bürokalender auf abwesend gestanden hatte. Wenn man sich für einen Kollegen erwärmt, weiß man, wann er Urlaub hat; wann er da ist und wann nicht. Viscontia trug stets hochgeschlossene Kleidung über ihrem schmalen Oberkörper; eine zusätzliche Verkomplizierung für jeden Ansatz eines Flirtvorhabens.
Jedenfalls erinnerte er sich an diesem Morgen im Auto daran, dass er Viscontia am Vortag versehentlich eine private Mail weitergeleitet hatte. Es war ihm beim morgendlichen Überfliegen seiner Mails aufgefallen; und auf die Schnelle hatte er keine Lösung für diesen Vorfall gefunden, also auch noch keine Entschuldigungsnachricht an seine Teamleiterin geschickt. Das Ganze war ihm wegen des Inhalts der Mail hochgradig unangenehm und dann im Endeffekt auch wieder einerlei. Was immer Viscontia aus diesem Fehler machen würde; er schätzte sie als viel zu anständig und antiseptisch ein, um nicht nachsichtig und verschwiegen zu reagieren. Andererseits, man weiß ja nie wirklich, wie die Leute ticken.
Seit mehreren Jahren hatte er eine Mailfreundin namens Sabrina; und aus unerfindlichem Grund hatte sich zwischen ihr und ihm ergeben, dass sie kein Blatt vor den Mund nahmen, sie vielmehr einander in ungezügelter Weise wenig druckreife Dinge schrieben. Ein bisschen war das für beide ein Ventil, Dampf abzulassen. Da Sabrina fast tausend Kilometer entfernt unglücklich verheiratet in einem Nachbarland lebte, zogen sie beide nie in Betracht, sich real zu treffen.
Die Mail enthielt eine Unzahl an drastischen p orn og. Ausdrücken, libi di nös en Sehnsüchten und expliziten Handlungsaufforderungen; zumindest hatte er Sabrinas Vornamen in der Anrede der Mail stehen, so dass Viscontia sofort erkennen würde, dass die Nachricht versehentlich falsch adressiert war. Bei näherer Betrachtung schien ihm das Ganze dann doch äußerst peinlich; er verweigerte aus Selbstschutz diese bewusste, genauere Betrachtung; doch war ihm klar, dass das, was zwischen Sabrina und ihm als Spiel und Spaß galt, jemand anderes ernst nehmen und als kompromittierend und widerwärtig empfinden konnte. Daher beschäftigte ihn auf dem Weg zum Veranstaltungsgebäude weniger die wichtige Jahresbesprechung und der kleine Vortrag zu seinem Ressort, der ihm dabei zufiel (und ja nur die Zusammenfassung seines Excel-Zahlenwerks sein würde), sondern vielmehr der Drang, Viscontia in einem günstigen Moment beiseite ziehen und den Fehler mit der Mail aufklären zu können. Er hatte keine Angst, dass sie diese verfängliche Mail gegen ihn verwenden würde, wohl aber, sich ihre Verachtung und Missbilligung einzuhandeln.
Merkwürdigerweise stellte er sich im Auto vor, wie er Viscontia in einer Besprechungspause unnötig übergriffig an ihrem dünnen Oberarm packen und sie in eine ruhige Ecke zerren würde, um endlich auf sie einreden und von der Harmlosigkeit seines Fehlers überzeugen zu können. Diese Phantasie war natürlich unangemessen. Er hatte sie trotzdem.
(To be continued ... oder auch nicht ...)