Für mich ist eine meiner Stärken oder eines meiner Vergnügen das Schreiben. Ob ich nun gut oder schlecht darin bin, spielt nicht so sehr eine Rolle; die Hauptsache ist der Spaß daran. Tja, und manchmal ist das ein wenig zweischneidig. Vor ein paar Wochen begann ich, eine Erzählung über meinen Krankenhausaufenthalt zu schreiben; an sich gefiel mir das, nur geht mir das Thema immer noch zu nah. Obwohl diese Zeit schon über ein Jahr her ist. Alles hervorzukehren, was an Gefühlen und Unsicherheiten in mir war/in mir ist, tut weh oder verschärft erst mal meine Unsicherheit. Ich habe mich in vielen Momenten wie ein Vollidiot verhalten. Ich fühlte mich in der Klinik die ganze Zeit über wie ein Außenseiter; zwar umgeben von lauter Kranken, die ähnliche oder sogar schlimmere Symptome hatte, doch kein einziges Mal löste sich meine Bedrängnis auf, dort eigentlich überhaupt nicht hinzugehören und ein besonders asozialer oder sozialphobischer Mensch zu sein. Ich traute mich sehr oft nicht, meine Meinung, geschweige denn mein Gefühlsleben zu offenbaren. Eigentlich dachte ich: Man gebe mir bloß nicht Freiraum, Akzeptanz und Verständnis, denn ohne äußeren Druck und ohne Aufsicht mutiere ich erst recht zu einem selbstsüchtigen, passiven und gierigen Wesen. Gib mir eine lockere Leine, statt der täglichen Demütigungen und Abreibungen und Spiegelung, dass ich ein Loser bin, und ich verlottere zusehends. Ein besserer Ausdruck fiel mir gerade nicht ein.
Während halbwegs selbstbewusste Menschen es vermutlich für normal und angemessen halten, wenn sie nicht immer jedem fremden Mitpatienten ihre Geschichte und ihr Gefühlsleben mitteilen, fühlte ich mich ein wenig schuldig, wenn ich in der Depressionsgruppe schwieg und mich bedeckt hielt. Meine Scham bezog sich weniger darauf, dass ich meine Gefühlswelt für zu irrelevant, für zu wenig krank, für zu speziell und gleichzeitig banal hielt, sondern dass ich keinen Bock hatte, an mir zu arbeiten. Alles, was ich von dieser Kur in der Klinik wollte, war, mal ein paar Wochen aus meinem sonstigen Stress rauskommen zu können. Eigentlich war ich dort auf Urlaub. Ein Urlaub, der mir nicht zustand. Das hätte ich vielleicht gleich am Anfang der Zeit dort zugeben sollen, dann hätte ich mich besser gefühlt. Ich bin jemand, der sich vor seiner Arbeit, seiner Familiensituation und seinem Stress mehr oder weniger verpisst; vielmehr war oder ist das nicht bei mir. Klar, ich habe depressive Symptome. Ich war überlastet. Nervlich ziemlich am Ende. Ich konnte mit meinen Wochenenden nichts mehr anfangen, war immer müde, antriebslos und mit Kleinigkeiten schon überfordert. Vor allem, mich zu organisieren, meine Freizeit aktiv zu gestalten, mich mit Leuten zu verabreden; es ging entweder nicht mehr oder ich hatte schlichtweg keine Lust. Ist derzeit übrigens erneut so, dass ich an meinen Wochenenden nichts hinkriege. Dass ich eigentlich nur daliegen möchte und mit jemandem kuscheln. Irgendwann überwärmt mich das Kuscheln und dann ziehe ich mich lieber ein wenig zurück. Aber eigentlich denke ich die Hälfte meiner Zeit nur daran: dass ich mich gerne kuschelnd aufs Sofa verkrümeln möchte oder das als Auszeit haben möchte. Eine Normalität zwischen Anspannung (Arbeit, Beziehungsarbeit, Herausforderungen) und Entspannung (Sozialleben und auf dem Balkon abhängen) kriege ich nicht hin, oder nur sehr selten. Doch, wenn ich vernünftig gearbeitet habe tagsüber, kann ich abends mich ein wenig mehr auf dies oder das einlassen. Aber im Grunde ist das aus dem Gleichgewicht bei mir.
Wie dem auch sei. Ich war bei dieser Erzählung, die ich begonnen und dann abgebrochen habe. Weil das Thema, auf das das Ganze zusteuert, nicht gerade angenehm ist. Ich auch nicht so richtig weiß, WIE VIEL ich zugebe, einräume, an Unsicherheit, an Brisanz, an unschönen Gefühlen. Und ob ich, wenn ich in dem Punkt nicht weit gehe, nicht zu banal, zu lügnerisch, zu kleinredend berichte ...
Ich mache das bei meinen Schreibversuchen übrigens oft so, verfasse zwei, drei Seiten, und überlege DANN erst, ob mir das Ganze lohnend erscheint, es weiterzuschreiben.
(Ich weiß nicht, ob das nachvollziehbar ist, was ich hier erläutere ...)
Das Folgende ist jedenfalls der Stand meiner Erzählung. (Falls jemand sie kommentieren möchte, gerne, aber lieber als PN.)
Kapitel 1
Hochgebettet wollte der Patient liegen, mit einem zweiten festen Kissen unter Kopf und Schultern; diese Erhöhung durfte weder zu niedrig, noch zu groß ausfallen; er wollte im wachen Liegen nicht den Überblick verlieren, die Stube und ihre spartanische Einrichtung, die Tür (oder zumindest den kleinen Flur zur Tür hin) und die beiden Fenster sehen können, allerdings auch nicht die Wirbelsäule zu sehr nach vorne krümmen, was ihm körperliches Unbehagen bereitet hätte. Die Kissenhöhe musste folglich genau austariert werden. Außerdem hätte er gerne ein Einzelzimmer gehabt, um sich zurückziehen zu können. Zu Beginn seines Klinikaufenthalts gruselte ihn nichts mehr als die Befürchtung, in emotionalen Ausnahmezuständen der Beobachtung durch andere Insassen ausgesetzt zu sein und die voraussichtlich reichlich fließenden Tränen, Wutgefühle und andere beschämende Regungen nicht verstecken zu können.
Die Illusion mit dem Einzelzimmer wurde dem Patienten gleich im Aufnahmegespräch genommen. Dieses Gespräch fand im lichtdurchfluteten Büro des Stationsarztes statt, ein perfekt rasierter und aufgeräumt wirkender Typ um die 40, der laut und betont langsam auf ihn einredete, als sei er schwerhörig oder begriffsstutzig. Er saß in diesem Büro auf einem Plastikstuhl mit dünnen Metallstäben als Beine und fühlte sich ein bisschen wie zwischen Baum und Borke; vermutlich auch weil neben seinen Füßen auf dem Boden die vollgepackte Reisetasche lag, die ihm vorkam wie seine letzte verbliebene Habe.
Man verpflanzte ihn in die im Westflügel gelegene Station 3, in eine erstaunlich große Stube mit vier Betten und zwei Mitpatienten. Am ersten Tag sprachen beide nicht mit ihm; was ihm äußerst befremdlich erschien und er aus Unsicherheit und Überforderung auf sich selbst bezog, statt auf eine mögliche Sozialphobie dieser Männer. Er grüßte den jüngeren der beiden, nach seinem Empfinden in ausreichender Lautstärke, wurde von diesem jungen Typ jedoch nicht zurückgegrüßt und nicht mal angesehen. Davon eingeschüchtert, versuchte er es bei dem Älteren erst gar nicht. Nach und nach ging ihm auf, dass sich der Jüngere permanent unruhig und rastlos verhielt, wie jemand, der zu viel Koffein im Blut hat, während der andere den ganzen Tag lang depressiv und in sich gekehrt im Bett lag und an der Welt um ihn herum nicht mehr teilnahm. Die Erkenntnis, dass in dieser Klinik Menschen saßen, deren Zustand noch weit schlimmer und kritischer war als sein eigener, traf ihn in diesem Krankenzimmer mit ungeminderter Wucht.
Der Unruhige war schlank und recht hoch aufgeschossen, der Depressive hingegen so dick und schwammig, dass unter ihm die Bettfedern bei jeder kleinsten Drehung des massigen Körpers ächzten und quietschten. Die Deutlichkeit des Kontrastes zwischen den beiden hätte kaum größer sein können; das erschien ihm mehr oder minder absurd und auf lächerliche Art offensichtlich inszeniert. Natürlich war es kein Witz, keine Scharade, sondern bitterer Ernst. Fürs Erste, dachte er sich, mussten dieses stille, unbehagliche Ausharren neben den Mitpatienten, der Mangel an Privatsphäre und die etwas sonderbare Situation ertragen werden; er war als junger Erwachsener Soldat gewesen und seitdem mit Entsagungen vertraut; auf gewisse Art war es ihm sogar recht, sich vor diesen Mitbewohnern des Zimmers zunächst weder vorstellen noch erklären zu müssen.
10.10.2023 10:36 • x 2 #101