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Mein Weg aus der Isolation - Pros und Cons
Hallo ihr Lieben,
das ist mein (M, 27) erster Beitrag in diesem Forum. Dieses Thema beschäftigt mich schon sehr lange und ich würde mich über frisch Blickwinkel darauf sehr freuen!
Das Thema heißt zwar Mein Weg aus der Isolation, doch ganz so marktschreierisch perfekt ist dieser Weg - man ahnt - natürlich nicht.
Für mich habe ich eine recht simple, aber sehr folgenreiche Entscheidung getroffen, wie ich aus der Isolation herauskommen wollte. Zunächst einmal: Worin bestand diese Isolation? Ich hatte eigentlich keine richtigen Freunde, also Leute, mit denen ich auch außerhalb von Schule oder Studium etwas unternommen hätte (ich finde, das ist ein gute Kriterium), und wenn, dann meist nur sehr selten. Diese Kontakte waren meist nur oberflächlicher Natur: Kartenspielen in den Pausen, über Fußball reden, zusammen etwas für die Schule oder das Studium erarbeiten. Außerhalb der Schule/der Uni war ich praktisch total isoliert. ich wohnte zwar mit meiner Mutter zusammen, doch wir lebten im Grunde nur nebenher, miteinander hatten wir schon lange nichts mehr unternommen. Meine Freizeit bestand meist darin, online zu sein, ohne das Haus zu verlassen, und meine virtuellen Kontakte zu pflegen.
Erst nach und nach, durch eine besondere Freundin, die sich von meiner schroffen Art nicht hat abschrecken lassen, lernte ich allmählich, tatsächlich so etwas wie ein Leben zu führen. Das war 2012, damals war ich 23 und studierte in einer ostdeutschen Landeshauptstadt eine geisteswissenschaftliches Fach. Das war der Anfang. Die alte Tendenz, sich zurückziehen und das virtuelle Leben zu wichtig zu nehmen, blieb jedoch trotz vieler neuer Aktivitäten und Kontakte weiter mein Pferdefuß. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier, und ich hatte mir verdammt schlechte Gewohnheiten angeeignet.
Um diese nachhaltig zu ändern, überlegte ich mir im Juni 2014, alle meine Aktivitäten kurz in einem kleinen Heft aufzuschreiben. Erst das Datum, dann der Tag und in der letzten Spalte die Aktivität. Es ging mir nicht darum, möglichst reflektiert und ausführlich Buch darüber zu führen, was ich getan hatte. Das hatte ich zuvor getan und es hatte mir nicht sonderlich geholfen, weil ich einen starken Fokus auf die negativen Erfahrungen hatte, die sich durch die Reflexion und das Aufschreiben leider verdoppelten. Der Vorteil schien mir zu sein, dass ich dieses Festhalten ohne großen Aufwand erledigen konnte, ohne viel Zeit zu investieren - die wollte ich schließlich in die Aktivitäten stecken.
Ich habe das Ganze wie ein Spiel betrachtet. Sieben Tage hat die Woche und ich habe mir als Ziel gesetzt, an mindestens vier Tagen etwas zu unternehmen, um mein Soll zu erfüllen. Das stellte schon einen krassen Bruch dar gegenüber meinem Leben zuvor, wo außeruniversitäre Aktivitäten sehr selten waren. Um in meinem Spiel erfolgreich zu sein, brauchte ich sie aber - und musste mich meinem Ängsten stellen. Was ich nicht aufschrieb (weil es keine Überwindung darstellte), waren die Kontakte zu meiner Familie und alle meine Aktivitäten für die Uni. Sonst hätte ich ja z. B. jeden Tag zu meiner Oma fahren können und hätte die Woche locker erledigt. Doch so einfach sollte das nicht sein. Es galt ja darum, neue Menschen kennenzulernen, Freunde zu finden, richtige Freunde, und sich neue, bisher kaum für möglich gehaltenen Aktivitäten zuzutrauen. Der Fokus war klar auf Freizeit gestellt. Da mich das Studium nicht so sehr beanspruchte, konnte ich in dieses Spiel viel investieren. Wie das im Arbeitsleben wird, wenn ich kaputt abends heimkehre, kann ich jetzt natürlich nicht sagen.
Ein typischer Eintrag sieht so aus: Freitag, 13. 11. 2015: Mit Freunden (A, B, C) im Kino.
Ich habe ab Juni 2014 unglaublich viele Dinge angefangen: Meditationskurse, Sportkurse, Selbsthilfegruppe Soziophobie, Schreibwerkstatt, Schauspielgruppe, Debattierclub usw. Am meisten Leute habe ich durch den Schachklub (schon seit 2012) und die Selbsthilfegruppe kennengelernt. Ich habe vieles angefangen und habe mit vielem wieder aufgehört, wenn ich nicht gepasst hat. In der Selbsthilfegruppe (ab Juli 2014) habe ich den harten Kern meines Freundeskreises kennengelernt, der sich seitdem noch sehr erweitert hat. An fast jedem Wochenende kann ich etwas mit den Leuten unternehmen, wenn ich will. Andere Menschen kamen und verschwanden wieder aus meinem Leben. So ist das Leben. Mein Notizheft bewahrt die Erinnerung an sie.
Das klingt jetzt so, als ich ob ich erst gar kein Leben gehabt hätte und dann plötzlich ein ganz tolles und abwechslungsreiches, nur durch diese Spielidee. Sie hat allerdings auch Nachteile. Schnell wollte ich mehr als nur vier Tage die Woche etwas unternehmen. Ich wollte, dass keine Zeile mehr leer blieb. Tage nutzlos verstreichen zu lassen, ohne etwas unternommen zu haben, war mir bald zu wenig. Schließlich war da auch ein Erfahrungshunger in mir, der endlich befriedigt werden wollte. Für das Jahr 2015 war mein Vorsatz, an so viel Tagen wie möglich etwas zu unternehmen. Das gelang mir auch fast perfekt: nur zu einem einzigen Tag konnte ich nichts schreiben, weil mich ein Essay zu sehr beanspruchte, dass ich niemanden mehr zu Besuch einladen konnte (mittlerweile war ich ausgezogen). Für jemanden, der bisher so zurückgezogen gelebt hat, war das schon eine krasses Ergebnis, fand ich.
Aus dem Wunsch, möglichst viel zu unternehmen, wurde bald eine neue Gewohnheit, fast schon ein Zwang. Ich fürchtete mich davor, wieder in die alte Isolation zurückzufallen. Deshalb war es mir lieber, etwas weniger Angenehmes zu erleben, als gar nichts und mir deshalb Vorwürfe zu machen. Um es ehrlich zu sagen: Ich habe auch mal Leute getroffen, auf die ich eigentlich keine Lust hatte, und habe vieles mitgemacht, nur um mein Ziel zu erreichen, keinen Fehltag zu kassieren. In dieses ganze Spiel habe ich übrigens nie jemanden eingeweiht, der Druck kommt allein von mir. Ich habe die Befürchtung, dass mich meine Freunde schief angucken würden, wenn sie wüssten, dass meine Motivation, etwas mit ihnen zu unternehmen, nicht nur darin besteht, dass ich sie so gern habe und mit ihnen Zeit verbringen will, sondern auch, weil ich mich zufrieden macht, stärker zu sein als der innere Schweinehund, der sich lieber einen ruhigen Tag gemacht hätte. Andererseits geht es auch vielen anderen Menschen so, dass sie sich wohl öfter zu ihrem Glück zwingen müssen, als man das von außen wahrnehmen kann. Bei anderen ist es ja auch deutlich (auch ohne irgendein Notizheft im Hintergrund), dass ihnen langweilig ist, und sie Lust darauf haben, sich durch meine Hilfe ihrer Langeweile zu entledigen. Diese Unlust ist vielleicht überhaupt ein Bestandteil des Beisammenseins mit anderen, ein notwendiges Übel?
Für mich ist dieses Spiel etwas letztlich Künstliches, Angestrengtes, sehr Durchdachtes. Es ist mein Vehikel, das mir hilft, ein richtiges soziales Leben zu führen, eine Art Krücke, könnte man sagen. Extrovertierte Menschen brauche so etwas nicht, sie lieben ja den Trubel um sich herum, und viele von ihnen könnten mein Notizheft jeden Tage ohne Probleme füllen. Ich habe eine Freundin, die es nicht einmal versteht, dass ich Zeit für mich brauche, um mal wieder Kraft zu tanken. Dieser Aspekt meiner eher stillen Persönlichkeit wird von meinem Spiel ja leider nicht erfasst. Es ist nur auf soziale Aktivitäten ausgelegt, der Rest fällt quasi unter den Tisch. Wenn ich von einem Vortag noch ganz geschafft und eigentlich keine Lust habe, das Haus zu verlassen, tue ich es meist doch, um keinen Fehltag zu kassieren. Der verursacht dann leider Unzufriedenheit und auch Gereiztheit. Es fällt mir nicht leicht, meine Aktivitäten und mein Ruhebedürfnis miteinander zu kombinieren, es gab allerdings schon Zeiten, in denen es mir richtig gut ging, so gut wie noch nie in meinem Leben, weil sich so viele Türen zu öffnen schienen.
Eine Schwäche des Spiels ist noch, dass es gleichgültig ist gegenüber der Qualität dessen, was man unternimmt. Es hat nur die Unterscheidung Was gemacht und Nichts gemacht. Ob mich das dann weiterbringt, steht auf einem anderen Blatt. Wenn es mir eher schlecht, wie der derzeit, weil ich nicht weiß, wie ich meinen Berufseinstieg meistern werde, denke ich weniger darüber nach, was ich tun kann - und tue stattdessen das Einfachste, nur um an dem Tag etwas stehen zu haben. Das hat sich teilweise manifestiert, musste ich feststellen. Mit der Folge, dass ich kaum noch Neues erlebe und neue Menschen kennenlerne. Ich bewege mich in den bereits bekannten Bahnen, ich wage nicht viel. Dass ich viel unternehme, genügt also nicht, um meine Rückzugstendenz zu bekämpfen - die ist sehr anpassungsfähig. Wenn ich es vorziehe, einen altbekannten Menschen zu treffen, anstatt einen neuen, war das für das Spiel ein Erfolg - jedoch Stagnation für's Leben ...
Ok, ich habe langsam das Gefühl, dass mir der Faden entgleitet, darum noch mal kurz: Diese einfache Methode hat mir sehr geholfen, aus meinem Schneckenhaus herauszukommen. Für jemanden, der in extremer Isolation lebt, scheint etwas mir sinnvoll, sie recht dogmatisch anzuwenden. Damals hatte ich zum Beispiel einfach mit einer Seniorenstudentin nach dem Seminar gesprochen. Das Spiel erzog mich dazu, zu bleiben und ihre Lebensgeschichte anzuhören, anstatt wie zuvor nur schnell zu gehen um bloß mit niemandem sprechen zu müssen. Mit solchen kleinen Dingen habe ich angefangen. Kleinen Hürden gesetzt und mich gefreut, wenn ich sie überspringen - und diese kleinen Erfolge entsprechend notieren konnte. Der Nachteil ist, dass das Spiel wie eine schroffe Schablone ist, die dem, was man an Ruhephasen braucht, nicht gerecht wird. Immer stellt sich die Frage: Was macht ich heute? Darüber hinaus entgeht dem Spiel die Qualität der Erfahrungen, mit der Folge, dass sich wieder neue Komfortzonen bilden können. Dass die Seiten gefüllt werden sollen, steht im Vordergrund, und deshalb droht die Spontanität zu verschwinden.
All das gilt natürlich für das derzeitige Spiel - ich tüftele und zocke weiter Insgesamt kann ich sagen, dass sich diese Idee trotz Mängeln bewährt hat und mein Leben heute ein fundamental anders ist als damals, und zwar ein sehr viel Besseres.
Liebe Grüße
23.07.2016 01:21 •
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