Wieder sitze ich in meiner Wohnung und weiß nicht weiter. Es hat sich zwar einiges bewegt die letzte Zeit, aber im Prinzip ist alles gleich geblieben. Das ist das Verrückte. Wie sehr man sich auch müht: das eigene Leben hat seine Grenzen, die man nicht überschreiten kann, es hat Mauern, die man nicht überwinden, nicht einreißen kann. „Das menschliche Leben ist beschränkt, genau das macht es so besonders“, lautet eine Lebensweisheit, die mich mein ganzes Leben begleitet hat. Ob „besonders schön“ oder „besonders schlecht“ bleibt erst einmal offen.
OK, ich habe in der Vergangenheit viele Dinge zu schwer genommen. Es gibt bestimmt Menschen, die es schwerer haben als ich. In der anonymen Stadt verschwinde ich in der Masse und wenige wissen, dass es mich gibt. Ich bin ein Niemand und ich bin nicht unglücklich darüber. Ich muss niemandem gefallen, kann die schlechten Tage irgendwie alleine in meiner Wohnung überstehen, muss nicht unter Menschen gehen. Andererseits fehlen mir Menschen, die mir nahe stehen, und gerade die schlechten Tage sind oft sehr hart.
Heute ist einer der Tage. Ich habe schlecht geschlafen. Ich habe Angst um meine wirtschaftliche Existenz. Alle meine Bemühungen um reguläre Arbeit sind fehlgeschlagen. Meine Wohnung ist zu teuer und wird vom Amt nicht finanziert werden. In den letzten Tagen habe ich versucht, mir mit einer Selbständigkeit etwas aufzubauen. Nur wird es leider nicht funktionieren. Mein Körper ist müde und Arbeit nicht gewöhnt. Ich sehe furchtbar aus, im Gesicht, ausgemergelt, fahl und hoffnungslos. Dies wurde mir von meinem besten Kumpel eben bestätigt.
Mein Gesicht war schon immer mein größtes Problem. Es ist der wunde Punkt, der (fast) meine gesamte Lebensgeschichte erklärt. Früher habe ich mich oft nicht auf die Straße getraut. Die Menschen haben hinter meinem Rücken getuschelt. Leider konnte ich nie böse auf sie sein, weil ich ihnen innerlich Recht geben musste. Ich fühlte mich hässlich und war es auch. Also investierte ich vieles, um an diesem Zustand etwas zu ändern. Die Operationen haben mich fraglos weitergebracht. Es ist vieles besser geworden und manchmal sehe ich richtig hübsch aus. Dennoch bleibt mein Gesicht ein extrem limitierender Faktor. Es ist mit meinem Aussehen nicht alles möglich, immer noch nicht. Natürlich liegt dies auch an meiner Seele, an meinen inneren Wunden.
Diese Woche hatte ich mein erstes Gespräch bei einer Psychotherapeutin. Es hat gut getan. Dennoch ist mir bewusst geworden, dass eine schnelle Hilfe unmöglich ist und womöglich gar nicht in Betracht kommt. Ich will andere Menschen mit meinen tiefen Verletzungen nur ungern belasten. Meine Seele ist eine Trümmerwüste, eine Müllhalde voller Komplexe und Verhaltensstörungen. Nach außen hin kann ich sie überspielen. Teilweise ist es Show, teilweise bin ich trotz allem ein fröhlicher Mensch geblieben. Ich möchte an die Zukunft glauben. Ich möchte gerne etwas bewegen. Leider werde ich immer wieder scheitern, Angst vor dem Scheitern haben und deshalb viele Dinge nicht anpacken. Diese inneren Lähmungen sind das Schlimmste. Der Zug ist abgefahren und hat mich einsam zurückgelassen. Ich habe mich einsam zurückgelassen. Aufgrund meines fehlenden Selbstwertes konnte ich nicht einsteigen. Ich wollte entweder alles oder nichts. Weil ich „Alles“ nicht bekommen konnte, entschied ich mich für das „Nichts“.
Wo sehe ich noch Sinn, woraus möchte ich meine Kraft ziehen, wenn das „normale“ Leben unmöglich erscheint? Diese Frage habe ich mir eben gestellt, als ich mir ein heißes Bad einlaufen ließ. Meine Antwort: ich möchte das Leben trotzdem genießen, so gut es möglich ist. Man hat nur dieses eine Leben. Ich möchte andere Menschen mitnehmen, durch innere Stärke davon überzeugen, dass sie an die Zukunft glauben müssen, ich möchte, dass sie die guten Dinge im Leben sehen. Ich möchte nicht traurig an der Bar sitzen, sondern auf das Leben anstoßen. Die Traurigkeit gehört in meine Wohnung, sie ist „nicht-öffentlich“. Keiner möchte sie haben und deshalb bleibe ich mit ihr alleine.
Ich habe niemanden, den ich in diesen Fragen um Hilfe bitten kann. Meine „Freunde“ melden sich immer dann, wenn sie sich einsam fühlen und jemanden zum Zuhören brauchen. Sie sprechen gerne mit mir, weil ich sie nie abweise und meistens Verständnis empfinde. Meine Probleme interessieren sie nicht. In ihrer Gedankenwelt habe ich keine Probleme, weil ich selbstbewusst wirke und innere Stärke demonstriere.
Mich selber bei anderen melden kann ich nicht, da mir das entsprechende Selbstwertgefühl fehlt. Deshalb besteht mein Umfeld aus einsamen, gescheiterten Existenzen. Ich nenne sie liebevoll meine „Problembären“, denen ich stundenlang zuhören muss. In den Kneipen spreche ich sie an, weil ich ein Herz für sie habe. Ich bin auf sie und ihre Probleme angewiesen. Mein Telefonanschluss ist die Hotline der einsamen Herzen. Nirgendwo sonst fühle ich mich dermaßen verstanden und geborgen.
16.03.2012 19:38 • • 22.03.2012 #1