Bei mir war es so, als ich mit 18 nach dem Fachabi eine Ausbildung in Kassel begann, da war das in den 80er Jahren für die Menschen da noch die große weite Welt. Dann auch noch in einem Büro. Weil kaufmännisch klang für die schon zu abgehoben. Als wollte man was besseres sein. Überhaupt muss man ständig aufpassen, was man sagt, um die Dagebliebenen nicht vor den Kopf zu stoßen. Ich kenne seit 23 Jahren hautnah die Mentalitätsunterschiede zwischen Nord- und Südhessen. Die aus dem Rhein-Main-Gebiet mussten früher fast alle nach Nordhessen zum Wehrdienst, weil es im Süden nicht genug Kasernen gab. Die haben mir zum ersten Mal vermittelt, wie ekelhaft sie die ganze Infrastruktur und das Gehabe der Menschen im Norden finden. Und der Aufschwung der letzten Jahrzehnte ist ja am Norden komplett vorbei gegangen. Es wird nicht gebaut, sondern abgerissen. Nicht geboren, sondern gestorben. Früher gab es seit über 100 Jahren jedes Jahr eine Kirmes. Jetzt gibt es seit mindestens fünf Jahren keine mehr. Alles verfällt, es gibt keine Geschäfte mehr, die Straßen werden immer schlechter, viele Häuser stehen leer.
Mir passte es früher schon nicht, dass mir von Abitur und Studium abgeraten wurde. Selbst eine Zusatzausbildung nach dem Großhandelskaufmann wurde mir als zu schwer verklickert. So ein Schwachsinn. Das sind Losertypen, die diejenigen, die was aus ihrem Leben machen wollen, runterholen wollen, damit sie sich selbst nicht als so zurückgeblieben outen.
Was mich gerade wieder in die Vergangenheit versetzt hat, war ein Zeitungsartikel aus diesem absterbenden Dorf, wo es statt fünf Kneipen in den 70er Jahren nur noch eine gibt. Die haben sich immerhin noch das Theater erhalten. Eine Freilichtbühne und eine in der Halle, im jährlichen Wechsel. Mehr kann ich jetzt nicht schreiben, man weiß ja nie. Ich finde das ja schön, dass die so was auf die Beine stellen, obwohl keiner von den Laiendarstellern Kinder hat, und absehbar dieses bisschen Kultur auch noch absterben wird. Aber was ist der Preis dafür: Solche Sprüche wie: Willst wohl was besseres sein? Oder: Wenn es kein Frankfurt gäbe, hättest du es hier zu gar nix gebracht! Man muss bei allen möglichen Veranstaltungen dabei sein, wo es natürlich nie ohne Saufgelage abgeht. Als Antialkoholiker ist man dort von vornherein der absolute Megafreak und kann sich sämtliche verbliebenen Vereine abschminken.
Selbst meine Oma hatte so Sprüche über ihre zwei Schwestern abgelassen, die vor dem WK2 nach Amerika ausgewandert waren, obwohl sie ihr nie was getan hatten. Auch die kommen mal wieder runter.
In den letzten 20 Jahren bin ich hin und wieder mit einer hübschen Begleitung dort erschienen, auch wenn es nur zu einer Beerdigung war. Die verfallen dann immer in Schockstarre. Ich spüre das an den Blicken. Gerade weil ich früher nie eine Beziehung dort gelebt habe. Aber das passte hinten und vorne nicht. Erst werten sie mich ab, und dann falle ich plötzlich die Leiter hoch. Ich spüre dann eine gewisse Genugtuung. Mit Neid und Missgunst kann ich nicht umgehen. Und ich weiß genau, warum dieses Volk niemals auf einen grünen Zweig kommen wird. Wer nicht Nord- und Südhessen erlebt hat, kann es nicht nachvollziehen. Wer immer nur alles negativ sieht, wird es auch genau so bekommen.
04.03.2020 22:53 • • 13.07.2020 x 1 #1