Hallo nepumukinski,
Weißt du eigentlich, dass man auch ein Semester lang pausieren kann? Das könntest du für eine gute Therapie, vielleicht auch einen Klinik-Aufenthalt oder eine Selbstfindungsphase nutzen. Das Pause-Semester kostet einen gar nix außer die 3 Monate Zeit, man zahlt keine Studiengebühren und es wirkt sich auch nicht nachteilig auf das Studium oder die Noten aus. Man muss es nur fristgerecht beantragen.
Vielleicht könntest du diese Pause für dich nutzen?
Dass du Therapie und Uni nicht unter einen Hut bringst, wundert mich nicht. Es wird mittlerweile verdammt viel verlangt an der Uni. Ich lege auch alle meine Arzt-Termine und Behördengänge in die Ferienzeit, weil ich es anders nicht schaffe. (Aber das war in der Schule auch schon so, der Leistungsdruck ist einfach enorm.)
Vielleicht musst du dich auch gerade selber neu finden, einen neuen Lebenssinn finden? Vielleicht brauchst du gar keine neue Therapie, sondern bloß ein neues Fundament, auf das du aufbauen kannst?
Als mein Papa gestorben ist, da war ich 21, und plötzlich fiel mir auf: Ich hab auch keinen Sinn im Leben. Ich treib seit Jahren so dahin und mein Inhalt waren Schule und Freunde, und plötzlich war Beides nach dem Abi weg (noch dazu mein Papa, der mir eine große Stütze war) und was blieb? Nix, fand ich damals. Das war für mich ein echter Schock, und ich war gelähmt, ähnlich, wie du es jetzt bist. Ich litt auch an einer Agoraphobie, wie du sie wohl hast. Ich wusste nichts mehr mit meinem Leben anzufangen und das war eine schlimme, schlimme Zeit.
Ich musste mich auch erst neu entdecken und neu finden, und das hat fast ein Jahr lang gedauert. Erst war ich nur besinnungslos feiern und Party machen, dann hab ich eher gesittet mit Freundinnen zu Abend gegessen oder bin ins Kino gegangen, dann hab ich mich eine Weile komplett abgekapselt und mich nur noch um mich selber gekümmert, dann bin ich eine Zeit lang mit nem Verein wandern gegangen, dann eine Zeit lang alleine mit der Kamera los getigert, dann begann die Uni, dann kamen die Studentenproteste..
Ich glaube, je mehr man ausprobiert, desto eher kommt man vom Fleck. Trial and Error, quasi. Entweder, es tut gut, oder eben nicht. Entweder, es bringt dir was, oder eben nicht. Aber Stillstand tut nicht gut. Ein Patentrezept für die Selbstfindung hab ich leider auch nicht parat, aber mein neues Motto lautet: Der Sinn des Lebens ist das Leben. Klingt lapidar, aber genau so fühle ich mich. Ich will mein Leben mit Allem ausfüllen, was es zu bieten hat, und versuchen, aus Allem das Beste zu machen und einfach zufrieden zu sein mit dem, was ich habe. Nicht glücklich sein, denn für Glück gibt' im Leben keine Garantie. Aber ich will hinter Allem eine Chance sehen, Alles positiv betrachten. Und das kann ich mittlerweile und seitdem geht's stetig wieder bergauf. Auch die Agoraphobie war ich nach 6 Monaten komplett los. Mit der Sinnsuche ging bei mir eine ganzheitliche Veränderung einher, das war ein krasses Erlebnis, aber ich hab das Gefühl, dass sich in unserem Alter jeder irgendwie neu finden muss, weil so viele alte Stützen und Krücken plötzlich weg fallen. Viele kapseln sich ja auch bewusst von allem Alten ab und machen eine Reise oder gehen ins Ausland, um sich neu zu entdecken. Und ich meine, das ist auch ganz gut so, denn nach der Schule kommt irgendwann dieser Punkt -an dem du jetzt scheinbar bist- wo's weder vor noch zurück geht, wo Alles hoch kommt und man irgendwie seinen neuen Platz finden muss. Manchen trifft die sinnkrise direkt nach der Schule, Andere erst mit um die 40, Manche nie.
(Oft kommt auch noch diese Verzweiflung dazu, dass man was Großes bewirken oder tun oder sein will, oder sich losreißen und ausziehen will, und wenn das nicht geht, bleibt man ruhelos und mit aufgestauter Energie zurück. Das hab ich seit dem Abitur von jedem Zweiten gehört. Ich hab meine Veränderungs-Energie einfach in die Studenten-Proteste um Weihnachten herum gesteckt, hab mir auf der Straße die Seele aus dem Leib gebrüllt und mich an hitzigen Diskussionen beteiligt. Da konnte ich meine aufgestauten Emotionen endlich mal raus lassen.)
Vielleicht solltest du deine Emotionen auch mal raus lassen lernen. Machst du doch gerade jetzt auch, und da kriegst du immerhin hilfreiche Resonanz zurück Ist doch was Gutes!
Weißt du, was mir geholfen hat, Emotionen besser raus zu lassen und zu meinen Gefühlen zu stehen? Selbstverteidigung. Das war schweißtreibend und anstrengend, aber durch die regelmäßige Bewegung baut man Anspannung und Druck ab, und durch die Übungen und Griffe -und vor Allem die dazugehörigen Angriffsschreie- kriegt man ein tolles Körpergefühl und lernt, Gefühle und Gedanken eher raus zu lassen und nicht zurück zu halten. Wenn ich sehr wütend bin, lass ich einen Urschrei los, wenn ich traurig bin, kann ich heute weinen -das Alles tut gut. Vor einem Jahr hatte ich damit noch arge Probleme, Emotionalität empfand ich irgendwie als Schwäche, meine Trauer und Wut sollte keiner sehen, ich wollte beherrscht und stark sein. Alles Müll, wie ich heute finde. Emotionen sind menschlich, und so lange man damit niemanden verletzt, sollte man sie einfach raus lassen lernen.
Anscheinend bist du ja ein sehr kreativer Mensch (Schreiben ist übrigens auch eines meiner hobbies!) aber steckst wohl gerade in einem kreativen Engpass fest. Macht nix, so geht's jedem Künstler ab und an. Vielleicht tun es zum Übergang weltlichere Hobbies? Ich schreibe z.B. gerne und fotografiere auch gern (auch eine Art Kunst, finde ich), aber ich geh auch Bogenschießen und Wandern. Seit Weihnachten hab ich auch kein schönes Foto mehr gemacht, auf das ich stolz bin, aber das macht nichts, jeder hat mal einen Durchhänger. Im Moment macht mir das Schreiben auch keinen Spaß, dafür geh ich dann halt öfter in der Woche zum Schützenverein und tob mich da aus. Wenn man was Anderes hat, worauf man zurück greifen kann, ist es nicht schlimm, wenn einem die Motivation für ein Hobby fehlt.
Übrigens zum Thema Angst: Lass nicht zu, dass die Angst dein Leben bestimmt. Darf sie nicht, und kann sie auch nicht. Tut sie auch nicht. Du hast doch z.B. trotz Angst dein Abitur geschafft. Wovor fürchtest du dich denn noch? Sie kann dir nichts anhaben. Ich hatte auch Panikattacken, wenn ich mit Freunden weg war, oder während der Abiturprüfung. Ich bin dann immer dort geblieben, ich war vielleicht schweigsamer als sonst oder etwas verkrampft, aber das war okay, meine Freunde haben's verstanden und ich hab mein Abi trotzdem geschafft. (zwar mit weniger guten Noten als normal, aber trotzdem noch mit 2,2) Ich hab gelernt und erlebt, dass die Angst zwar kommt, aber mich nicht von dem abhalten kann, was ich tun will. Sie erscheint entsetzlich, ich weiß, aber am Ende ist sie bloß ein kleines Ärgernis. Allerdings ist sie immer auch ein Zeichen dafür, dass irgendwas in der Seele nicht stimmt. Und wenn man dem auf den Grund kommt, wenn man das knackt, dann verschwindet auch die Angst nach und nach -zumindest war's bei mir so. Bei mir ging mit der Angst auch eine enorme Lebensveränderung einher. Ich dachte mir sowas wie: Jetzt erst recht! und hab viel Neues ausprobiert, auch viel probiert, um mit der Angst klar zu kommen, und das hat mir am Ende geholfen. Ich hab Methoden gefunden, die mir halfen, und die verworfen, die mir nicht halfen (wieder Trial and Error). Diese Veränderung der Lebensumstände und der Einstellung zum Leben, die geht bei Vielen mit einer Heilung einher. Vielleicht brauchst du das auch?
Aber leider hast du auch Recht, und da stimme ich dir ernüchtert zu: Probleme können Freunde kosten. Nachdem mein Vater gestorben war, haben mich viele Menschen, die ich als gute Freunde empfand, gemieden. Manche haben mich nicht einmal mehr angesprochen. Das war hart, aber auch lehrreich. Wahre Freunde zeigen sich erst, wenn's einem dreckig geht, den Rest kann man als Bekanntschaften weiter führen oder ganz vergessen, wie man will.
Im Endeffekt hast du schon, glaube ich, richtig erkannt, was dir im Grunde fehlt: Ein Sinn. Ein Selbst. Du suchst, aber bist noch nicht angekommen. Im Hier und Jetzt zu leben ist schön, aber wenn man nix hat, wofür man lebt, ist auch das auf Dauer erdrückend und schwer. Aber einen Sinn findet man nicht durch das Einigeln oder KopfindenSandstecken oder Grübeln. Den findest du bloß durch's Ausprobieren, fürchte ich. Vielleicht auch in Form eines Pausemesters, eines Auslandjahres? Vielleicht auch in Form einer täglichen Portion Glück. Vielleicht musst du's wie ich machen und dir Fröhlichkeit verordnen. Jeden Tag etwas Lustiges anschauen, jeden Tag eine gewisse Zeit einplanen für Lachen oder Freunde. Sonst wird die Sinnlosigkeit zu einem Sog, in dem man erstickt. Vielleicht hilft dir auch ein Fremd-Sinn. Also eine ehrenamtliche Tätigkeit oder so, irgendetwas, in dem du aufgehen kannst.
Oder vielleicht bist du ja auch schon der, der du sein magst, und weißt es nur noch nicht? Ich denke, ich hab mich auch sehr verändert in den letzten Monaten, aber im Grunde bin ich doch irgendwie der selbe Mensch geblieben. Trotzdem kann ich mich jetzt besser leiden als früher, ich bin stolz auf mich und das, was ich erreicht hab. Vielleicht musst du lernen, dich selber anzunehmen, zu mögen, wie du bist?
Im Grunde hast du genau die Probleme, die Andere in deiner Altersgruppe auch haben. So außergewöhnlich, wie du denkst, ist das nicht. Ich meinte früher auch immer, ich wäre viel zu reif, würde die Anderen nicht verstehen und wäre ihnen z.T. auch schon viel zu weit voraus -aber das ist eine Denkfalle, wie ich später heraus fand. Denn ab dem Moment, wo du denkst, du seist den Anderen voraus, könntest sie nicht verstehen -ab dem Moment versuchst du es auch nicht mehr, und das führt zu Einsamkeit und Illusion. Das ist wie als würdest du als Kapitän die Titanic vor den Eisberg fahren, aber nicht aus Versehen, sondern deswegen, weil du den Kurs von Vornherein so fest gelegt hast - Eisberg Ahoi. Unbewusst zwar, aber leider ist das Ergebnis genau das, das man eigentlich nicht will, nämlich, dass man allein bleibt. Ich musste auch erst mal lernen, dass die Anderen genau so Probleme haben wie ich, und dass mich im Grunde weniger von den Anderen unterscheidet, als ich bisher dachte. Ich hab eine Zeit lang Andere, die das machen können, wozu mir die lockerheit fehlte, fast schon für ihre Kindlichkeit verachtet. Irgendwann hab ich dann gelernt, in Jedem auch was Gutes zu sehen, mich für Jeden zu interessieren, indem ich Sätze gebildet hab wie: Kathrin ist zwar jedes wochenende strunzbesoffen, aber dafür teilt sie oft ihr Pausenbrot mit Anderen. Dadurch hab ich gelernt, dass ich gar nicht so besonders war, wie ich immer dachte. Dass ich sehr gut auch mit Leuten in meinem Alter reden und ihre Probleme nachvollziehen kann. Aber dafür musste ich erst mal von meinem Reife-Ross runter steigen.
Vielleicht baust du unbewusst und ungewollt eine Mauer zwischen dir und den Anderen, die dich von ihnen fern hält, weil du dich so nicht richtig auf sie einlassen kannst. Ich will dich damit um Himmels Willen nicht abwerten, ganz und gar nicht. Wir sind Alle einzigartig und individuell? Aber besonders und recht viel anders als der Rest? Nö.
Diese Fragen find ich übrigens zum Thema Selbstfindung sehr interessant.
Ist nix, was man nicht schon irgendwann mal gehört hätte, aber sorgt dafür, dass man sich mit sich selbst auseinander setzt.
Vielleicht definierst du dich auch zu sehr über deine Probleme. Hab ich früher auch gemacht. Im Kopf Alles angehäuft, was bisher schei. gelaufen ist, und dann total verklemmt durch die Gegend geschlichen. Kein Wunder, dass ich damals einsam war, denn mit so nem Trauerkloß würde ich auch nicht freiwillig reden wollen
Heute weiß ich: Ich bin mehr als nur ein Mensch mit einer traurigen Vergangenheit. Meine Vergangenheit hat mich zu dem gemacht, der ich bin, sie hat mich geformt, und sie ist ein Teil von mir, aber sie macht mich nicht aus. Ausmachen tun mich meine Eigenschaften, mein Charakter, mein Aussehen, meine Art, meine Vorlieben, meine Abneigungen, meine Hobbies, meine Freunde, meine Familie.
Nicht aber meine Krankheit oder meine Sterbefälle in der Familie oder meine Komplexe oder sonst was. Das ist strikt voneinander zu trennen.
Du bist vielleicht ein Mensch mit Problemen, aber die Probleme machen dich nicht aus.
Wow, das ist wieder ein Textmonster geworden. Aber dein Bericht regt mich sehr dazu an, meine Entwicklungen der letzten Jahre zu rekapitulieren. Ich hoffe, dass es dir ein bisschen hilft. Leider muss jeder seinen Weg alleine finden. Ob es für dich bloß ein Selbstfindungstrip oder eine neue Therapie oder gar eine Klinik ist, das vermag keiner zu sagen. Aber vielleicht hilft es dir ja, von Anderen zu lesen.
Liebe Grüße,
Bianca
12.02.2010 19:20 •
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