In dieser Sekunde müßte ich eigentlich für eine Prüfung lernen, die morgen stattfindet. Ich habe es auch versucht, aber letztendlich aufgegeben. Die Ursache ist, daß mir einfach jegliche Motivation fehlt. Für wen soll ich lernen? Für mich? Wozu? Ich bin unvollständig.
Ich wurde vor 30 Jahren in einen wohlhabenden Haushalt in einer besseren Gegend Berlins hineingeboren. Geschwisterlos, so daß von Anfang die Aufmerksamkeit der Familie voll auf mich gerichtet war. Während meine frühe Kindheit halbwegs normal verlief und ich auch ein guter Schüler was, bekam ich den vollen Druck ab dem Besuch des Gymnasiums zu spüren. Gleichzeitig begann der familiäre Niedergang. Mein Vater wurde zunehmend autoritärer, während meine Mutter zu trinken begann. Die Jahre vergingen mit einer Spirale der Hoffnungslosigkeit. Meine Eltern stritten, einmal schlug mein Vater meine Mutter krankenhausreif. Die 6 Rippenbrüche und die Lungenquetschung werden bis heute damit erklärt, daß meine Mutter auf das Bett gefallen sei.
Die häuslichen Traumata trug ich in die Schule, wo meine Noten in den Keller rutschten. Ich hatte zudem einen zynischen sadistischen Klassenlehrer, der bis zum Abitur über seinen Lieblingsschüler Witze machte, weil der nur noch in der Ecke saß und regelmäßig seine Hausaufgaben vergessen hatte. Mein Vater wurde nicht müde, mir zu erkären, was ich für ein Vollidiot sei, zugleich schraubte er, der große berühmte Ingenieur, die Ansprüche immer höher. Meine Mutter weckte mich, morgens bereits im Vollrausch, mit den Worten:Steh auf, Du Stück schei.. In der elften blieb ich sitzen, das Abitur schaffte ich endlich als Jahrgangsschlechtester.
Immerhin hatte ich eine Liebe für die Kunst und die Chemie entwickelt. Aus beidem wurde nichts wegen meiner beschissenen Noten. Obwohl ich mich bestimmt für etwas anderes entschieden hätte, redete mir Vater so lange ein Ingenieursstudium ein, bis ich es begann. Er hatte mir schon mit 12 einen Elektronik-Baukasten geschenkt und heute ergibt das für mich alles einen Sinn...
Mit stattlichen 22 hatte ich meine erste Freundin. Ich muß dazu sagen, daß
ich sicherlich nicht auf den Kopf gefallen bin. 185 Größe und eine sportliche Figur runden das noch ab. Das ich durchaus vorzeigbar sei, höre ich auch öfters. Aber man trägt sein Elend eben mit sich rum, der Rest der Menschheit bekommt das ja mit. Wie auch immer, es hielt ein halbes Jahr und bis 26 war die Zeit von langen Single-Phasen und sporadischen Kurz-Beziehungen geprägt. Ich fühlte mich immer unvollständiger und war der Meinung, daß nur eine Beziehung mich komplettieren könnte.
Mit 25 schaffte ich es endlich, auszuziehen und der damaligen Hölle zu entkommen. Paradoxerweise klammerten meine Eltern stark und legten mir alle Steine in den Weg, um mich im Haus zu behalten (ich war finanziell noch von ihnen abhängig). Ich schaffte es nur mit Erpressung, indem ich drohte, nichts mehr für das Studium zu machen. Traurigerweise war das das Einzige, das wirkte. Sie ließen mich gehen.
Ab diesem Alter begann ich verstärkt, Antidepressiva zu schlucken und Psychologen aufzusuchen. Zugleich war mein Leben immer mehr von Alk. geprägt, bereits mit 22 hatte ich im Vollrausch meinen Wagen zu Schrott gefahren. Bis zum heutigen Tag schieße ich mich alle 3 bis 4 Tage ab, ich halte dem Druck (dem fremden und dem eigenen) nicht mehr anders stand.
Mit 26 lernte ich meine vorletzte Freundin kennen. Das gab mir viel und auf einmal funktionierte ich. Ich konnte meine Studienleistung drastisch verbessern und empfand plötzlich Lebensfreude. Bis ihr Chef sie zu einer Reise einlud. Und sie als Paar zurückkamen. Meine Welt brach zusammen. Da ich zu nichts mehr imstande war und kiloweise abnahm, ließ mich meine Psychiaterin in die Klappse einweisen. 7 Wochen Gehirnwäsche hatten etwas Erfolg, doch nach einem Monat steckte ich wieder im Loch und versuchte mir das Leben zu nehmen. Es brachte mir nur die Intensivstation und anschließend die geschlossene ein.
Eine Woche später lief mir meine letzte Freundin über den Weg...kurzum, wir waren über 2 Jahre zusammen, davon wohnten wir 1 Jahr gemeinsam und waren verlobt. Wieder funktionierte ich wie ein Uhrwerk, war komplett, studierte plötzlich rekordmäßig, ging die ganze Zeit über arbeiten, hatte auch Lust drauf. Es war eine Farce...
Sie belog und betrog mich mehrmals in der Zeit und ist vor einem Dreiviertel-Jahr von einem Tag auf den anderen ohne Vorwarnung hier ausgezogen. Ich habe sie nie wieder gesehen.
Es folgte der nächste Zusammenbruch und der nächste Klinik-Aufenthalt bis letzen Dezember. Mit eisenharter Disziplin, schlimmsten Depressionen und täglichem Alk. habe ich dieses letzte Semester hinter mich gebracht und das Studium fast beendet.
Da ist nur noch diese Prüfung morgen...und ich werde sie nicht bestehen. Weil ich nicht will. Weil ich das nur für meinen Vater getan habe. Weil ich für diesen Beruf nicht geeignet bin. Weil er immer nur wollte, daß ich das Gleiche mache wie er. Der Kreis schließt sich.
Ich fühle mich wie der einsamste Mensch auf Erden. Ich lache nicht. Ich habe seit über 10 Jahren nicht mehr geweint. Ich bin nicht sauer. Ich sitze vor diesem Bildschirm und tue es doch nicht, weil es mich gar nicht gibt. Ich bin eine seelenlose Hülle geworden. Ich habe nie etwas für mich getan, weil ich gar nicht weiß, wie das geht.
Wie lebt man? Wie erkennt man sich? Wo fängt man an? Ich habe das Gefühl, das lernen zu müssen wie ein Kind laufen. In will in keine Klinik mehr. Ich will ja leben. Aber wie geht das? Ich will mir eine Freude machen und weiß gar nicht, was mir Spaß macht.
Und noch einmal: Wo fängt man an?
Solaris
10.07.2008 22:27 • • 06.08.2008 #1