Was ich eigentlich vermisse ist nicht Niedergeschlagenheit oder Elendsgefühl. In meinem Fall drückt sich Depression hauptsächlich durch Antriebs- und Hoffnungslosigkeit aus. Ich bin seit vielen Jahren depressiv und war eigentlich nie ein besonders ambitionierter Mensch. Umsichtiges beobachten und eine überaus ruhige, kontrollierte Lebensführung. Meine bisher stoisch ruhige Lebenseinstellung, ohne Ansprüche an die Zukunft und vollkommen im Moment verhaftet, war etwas worauf ich stolz war. Es war fast schon ein Zustand buddhistischer Erleuchtung: Leid- und bedürfnislose Weltentsagung. Natürlich macht Motivationslosigkeit Aktivität im Alltag nicht leichter und ich habe über große Zeiträume sehr wenig erledigt bekommen. Teilweise habe ich nicht einmal die Motivation zum Einkaufen gefunden oder zum Kochen bekommen und das sind nicht die extremsten Beispiele für meine Antriebslosigkeit. Hinzu kam, dass ich meinen Körper und meine Umwelt nicht wahrnehmen konnte. Ich befand mich in einem stetigen Zustand der Entrückung, den ich nur für Sekunden und mit massiver Willensanstrengung überwinden konnte. Ich habe nicht wirklich unter meiner Depression gelitten, aber meine Selbsterhaltung als akzeptiertes Mitglied der Gesellschaft hat massiv gelitten. Wenn ich keine familiäre Unterstützung bekäme, wüste ich nicht wo ich heute wäre.
Das ist nun Vergangenheit. Seit Beginn des Jahres nehme ich Escitalopram und fühle mich wieder wie vor Jahren. Ich entdecke Gefühle wieder, die ich schon vergessen hatte, spüre Taten und Bewegungsdrang, empfinde Anteilnahme und Ambition. Ich kann wieder darüber nachdenken, dass es Dinge in meinem Leben gibt, die lohnende Ziele seien könnten. Vielleicht bin ich sogar Motivierter als vor der Depression oder vor den intensiven Phasen der Depression (Da ich eigentlich schon immer mit diffuser Angst/Unlust und Motivationslosigkeit zu tun gehabt habe weiß ich nicht ob ich jemals nicht depressiv war, bzw. depressive Symptome gezeigt habe, denn in meiner Kindheit und Jugend wäre es sicher nicht als voll diagnostizierbare Krankheit durchgegangen). Im Moment bin ich verunsichert. Ich bin zwar noch nicht völlig aus meinen alten Verhaltensmustern raus, habe aber mit einer Erlebniswelt und mit Bedürfnissen zu tun, die ich so nicht kannte und mit denen umzugehen mir schwer fällt. Ich will Freunde, eine Liebesbeziehung, eine Karriere und ich will mich selbst postiv erleben... . Früher habe ich mich nicht dafür interessiert. Freunde hatte ich nie viele, selbst in meiner Kindheit und Jugend nur stark eingeschränkt und im Moment habe ich keinen einzigen. Mein Studium, dass ich schleifen lassen habe, intensiv wieder aufzunehmen ist kein Problem, wohl aber mein körperliches Selbsterleben in allen belangen, von sportlich bis sexuell. Da lange Jahre Völlerei eine meiner wenigen Freuden war und ich keine Energie hatte um zu kochen, habe ich mein Gewicht vollständig ruiniert, so dass selbst ein etwas zügigerer Spaziergang mich ins Schwitzen bringt und ich schweres, krankhaftes Übergewicht habe. Ich bin zwar weder hässlich, abgesehen vom Übgewicht, noch sozial unfähig (auch wenn ich lange Zeit kein Bedürfnis hatte sozial zu sein), aber dennoch fühle mich von vielen Lebensbereichen durch mein Gewicht ausgeschlossen, was ich streng genommen nicht bin.
Ich frage mich nun wie ich konstruktiv mit meiner neuen Situation umgehen soll und bin dabei von meinem neuen/vergessenen Selbst überwältigt. Hilfe.
28.01.2016 10:00 • • 29.01.2016 #1