Zitat von gimmel:Ich habe schon einige Male erfahren, dass es sich bessert, wenn ich mich der Situation stelle, was heißen soll, dass ich alles soweit vorbereite, um es tun zu können.
Das ist genau kein sich der Situation stellen! Du gibst den Zwangsgedanken ja zumindest teilweise nach, indem Du diesbezügliche Teilhandlungen ausführst. Du verkörperlichst somit die Gedanken ein Stück weit. Leider merkt sich der Körper manche Automatismen länger als der Geist... (Kleiner Exkurs bzgl. Verkörperung: stammkneipe-zum-lichtblick-f119/alternatives-glossar-t112848.html#p2455991 )
Trigger
Zitat von gimmel:So sitze ich da, mit dem Kopf in einer Schlinge und kann die Situation bewerten. Ich sehe, dass ich es nicht tun würde und wenn, nicht so, dass ich mich akuter klingt doof, ist aber so Gefahr aussetzen würde.
Erst durch diese Teilhandlung ermöglichst Du Dir diese Einsicht. Somit hat sich der Zwang erneut durchgesetzt.
Trigger
Zitat von gimmel:Aktuell ist es also mehr die Angst, ich könnte es tun, um es dann immer wieder tun zu müssen, wohl wissend, dass es sehr gefährlich ist. Wenn ich dann irgendwann, nachdem ich es z.B. an 7 Tagen, auf 3 Wochen und 3 Monate verteilt, getan hätte, nicht mehr machen könnte, weil ich ja sonst gegen meine Regel verstoßen würde, wäre möglicherweise Ruhe, je nach dem, wie stark der Drang wäre, es tun zu müssen. Früher oder später würde aber der Gedanke aufkommen, dass ich gegen die Regel verstoßen könnte und somit nichts mehr hätte, an was ich mich klammern könnte.
Das ist ein klassischer Auf- und Umbau des zeitbezogenen Zwangsregelwerkes. Sich über deren Logik zu unterhalten macht, mit Verlaub, absolut keinen Sinn. Jegliche Abmachungen (Regelveränderungen, Umgestaltungen, Übergeordnetheiten etc.) sind nur kleine Kampfhandlungen innerhalb eines Krieges, der sich Zwang nennt. Solange wir in diesen Kategorien denken, halten wir die Zwangsstruktur am Laufen. Nichts ändert sich, nur die kleinen Regeln im großen (falschen) Spiel.
Zitat von gimmel:Auch fühlt es sich von der Angst her schlimmer an als noch vor einigen Monaten und genau das kann ich mir nicht erklären.
Das liegt daran, dass Du eigentlich bereits einen Heilsweg beschritten hast. Bei Süchten und Zwängen ist dieser mitunter sehr schmerzlich, nahezu unaushaltbar, weil man - wie oben bereits erklärt - keine Vorstellung von dieser anderen, ungezwungenen Erlebenswelt hat. Der zwanghafte Geist fühlt seinen Tod nahen, und das stimmt ja metaphorisch auch. Du musst aber verstehen, dass sehr wohl etwas übrigbleibt (sich sogar erst richtig entfalten kann!), sobald der Zwang entlassen wurde. Warum entlassen? Weil es nicht der Zwang ist, der den Geist manipuliert, sondern der Geist haftet am Zwang an. Wer das nicht verstanden hat, sieht im Ende des Zwangs (unterbewusst!) sein eigenes Ende nahen.
Zitat von gimmel:Zwar gebe ich mittlerweile nicht jedem Gedanken nach und füge mich, aber die Anspannung müsste ja theoretisch irgendwann abfallen, was sie nicht tut. Ich sollte merken, dass mir nichts passiert, wenn ich es nicht tue, aber es schaukelt sich über Tage hoch und die Anspannung fällt auch meistens erst, wenn ich mit jemandem darüber spreche, der zuhört und mich versteht.
Deshalb sind sowohl in der Suchttherapie als auch in der Zwangstherapie Gruppengespräche so wichtig. Leider werden diese im Zwangsbereich ambulant zu gut wie nie angeboten. Gut wäre hier alternativ eine Selbsthilfegruppe. Du könntest mal beim Sozialpsychiatrischen Dienst der Caritas vorstellig werden und Dir einen Beratungstermin geben lassen. Vielleicht können die Dir etwas vermitteln. Unterschätze niemals das Potenzial der Caritas - ich persönlich habe extrem viel von den Sozialpädagogen und deren teilweise sehr umfangreichen Zusatzausbildungen profitiert.
Nochmal zum Verständnis, weshalb es gefühlt schlimmer wird: wie auch im oben verlinkten Text von Nanavira erwähnt, ist das Nicht-folgen des Zwangs zwar ein unabdingbarer Aspekt, doch damit alleine ist es noch nicht getan. Die Zwangsabstinenz ist zwar das Fundament des neuen (eigentlichen) Erlebens, doch das Gebäude steht noch nicht! In der Suchttherapie spricht man von Entzug und Entwöhnung. Vielleicht hilft es Dir, diese beiden Begriffe etwas näher auch im Bezug auf Zwänge zu beleuchten.
Beim Entzug wird dem Körper das Suchtmittel entzogen. Das heißt, sämtliche Neurotransmittermanipulationen, die bislang vom Suchtmittel getätigt wurden, fallen entweder kontrolliert (durch schrittweise Reduktion) oder mit einem Schlag weg. Oft werden übergangsweise entsprechende Medikamente eingesetzt. Das ganze dauert zwischen 5 bis 14 Tage. Für die meisten Süchtler sind dies so schwere Tage, dass manche Gefahr laufen, ein sogenanntes Entzugsdelir, bis hin zu Ohnmacht und Tod zu erleiden. In Spezialkliniken werden ganz riskante Fälle sogar ins künstliche Koma versetzt, um diese Phase zu überstehen. Am Ende der Entzugsphase ist der Körper sauber, der Geist jedoch noch lange nicht. (Beim Zwangsentzug ist solch ein Delir nicht möglich, da hier keine mittelinduzierte Neurotransmitterproblematik vorliegt.)
Deshalb schließt sich idR sofort oder, in vielen Fällen auch bereits parallel zum Entzug, die Entwöhnungsphase an. Ihre Gestaltung ist sehr individuell und dauert deshalb zwischen 1 und 9 Monate. Hier werden sämtliche relevanten Bausteine vermittelt, die dem frisch Trockenen ein zufriedenes abstinentes Leben gewährleisten sollen. Der Erfolg in dieser Phase hängt in hohem Maße von der Bereitschaft des Klienten ab, SICH zu ändern. Selbsthilfegruppen bilden oft den Anschluss an derlei Entwöhungsaufenthalten und gewähren oft eine lebenslange Abstinenz.
Wie beim Zwang fühlt sich nämlich der Geist ohne das Suchtmittel hilf- und v. a. orientierungslos. Viele Jahre hat er verlernt, den Weg um das (o. g.) Maisfeld herum zu finden und zu gehen. Die Verlockung, wieder rückfällig zu werden, ist unterschiedlich groß. Sehr maßgeblich ist, wie schnell der Klient eine probate Erlebensalternative entwickelt. Und hier kommt sehr oft die Psychotherapie ins Spiel. Denn wenn jemand ohne Suchtmittel (ohne Zwang) keinen Sinn, keine Substanz im Dasein erkennt, wird es sehr schwierig.
Aus meiner Erfahrung würde ich behaupten, dass das Befreiungspotenzial umso höher ist, je schmerzhafter sich der Ablöseprozess gestaltet. Das bedeutet aber nicht, dass man diesem Schmerz nichts entgegenzusetzen haben muss. Der Gang in eine Psychosomatische Klinik (s. o., z. B. Windach am Ammersee) liefert dafür ein hervorragendes Gesamtpaket, inklusive Gruppentherapie (auch zu Coronazeiten klappt das - die Sommerzeit ist natürlich noch geeigneter).
Zitat von gimmel:Ich habe langsam das Gefühl, dass sich diese Angst so stark anfühlt, weil ich keine greifbare Ursache und somit eine potentielle Lösung oder zumindest einen Lösungsansatz habe.
Logisch - es geht hier bereits in Richtung Generalisierte Angststörung: Angst vor der (grundlosen) Angst. Die Angst gehört zum Zwang wie die (meist lavierte) Depression zum Süchtigen.
Zitat von gimmel:...dass ich ohne Perspektive keine Eigenverantwortung übernehmen könnte.
Hört sich logisch an, ist aber ein schwerwiegender Denkfehler! Die Eigenverantwortung stellt die Perspektive selbst dar! Ein eigenverantwortlicher Mensch denkt und handelt vor allem sendend und nicht empfangend - er denkt und handelt in die Welt hinein anstatt von der Welt bedacht und behandelt zu werden.
Du bist weiterhin noch sehr stark im Wirkungsglauben der Zwänge gefangen. Bedenke dass dieser Wirkungsglaube ein Teil der Zwänge ist. Wir haben kürzlich in einem Thread von @Sinnsucher diesen Wirkungsglauben mal etwas näher besprochen. agoraphobie-panikattacken-f4/die-suche-nach-sicherheit-denkansatz-aendern-t111993-20.html#p2411220
Vielleicht ist die Lektüre für Dich hilfreich. Natürlich fände ich es prima, wenn @Sinnsucher hier einsteigen will.
Auch im Dialog mit @TNeisel, dessen damalige strukturelle Situation vielleicht noch etwas näher an Deine erinnert, haben wir einiges erhellen können. Vielleicht ist der gesamte Thread ebenfalls interessant für Dich: spezifische-phobien-f55/zwang-auto-zu-fahren-t111880.html#p2399337 Eventuell ist @TNeisel auch noch aktiv und will hier einsteigen.
Den letzten Absatz Deines gestrigen Beitrags werde ich heute Nachmittag oder morgen kommentieren. Alles Gute derweil...
01.03.2022 11:29 • x 2 #21