Ich habe einen sehr interessanten Bericht bei medmedia.at gefunden.
Ich hoffe, dass er einigen hier ein kleinwenig gegen die ALS-Angst helfen kann.
Sollte ich hier trotz Quellenangabe gegen Urheberrechte verstoßen, so geschieht dies wider besseres Wissen. In diesem Fall bitte um Nachricht, damit ich den Beitrag löschen lassen kann.
Faszikulationen und Angst
AutorIn: Raffi Topakian Neuromuskuläre Erkrankungen neuro 042018 19.12.2018
Faszikulationen sind unwillkürliche Muskelzuckungen und kommen bei 70-80 % der gesunden Menschen vor. Die meisten Menschen dürften Faszikulationen entweder nicht wahrnehmen (asymptomatische Faszikulationen) oder ihnen keine Bedeutung beimessen, d. h., es wird nur selten medizinischer Rat allein aufgrund von Faszikulationen eingeholt. Als Trigger für Faszikulationen werden seit langem unter anderem (übermäßige) körperliche Anstrengungen, emotionaler Stress, Schlafentzug, Müdigkeit, Kaffee und Alk. genannt.
Im Rahmen einer amyotrophen Lateralsklerose (ALS) sind Faszikulationen in der Nadelmyografie häufig disseminiert als Faszikulationspotenziale in zahlreichen (teils atrophen und paretischen) Muskeln zu finden und gehen mit chronischen neurogenen Veränderungen bzw. Zeichen von aktiver Denervierung und Reinnervation einher.
Benignes Faszikulationssyndrom
Demgegenüber finden sich bei Menschen mit dem benignen Faszikulationssyndrom (BFS) per definitionem ein anhaltend objektiv unauffälliger neurologischer Status und, abgesehen von Faszikulationspotenzialen, elektrodiagnostisch keine Hinweise für multifokale/generalisierte pathologische Spontanaktivität oder neurogenen Muskelumbau. Das BFS wurde bereits vor 25 Jahren von Blexrud et al. detailliert in einer 121 PatientInnen fassenden, retrospektiven Studie beschrieben. Kein Patient/keine Patientin entwickelte eine ALS, begleitende Muskelkrämpfe und Sensibilitätsstörungen waren jedoch keine Seltenheit.
In der Literatur sind nur wenige Fälle mit zunächst reinem Nachweis von Faszikulationen und späterer Entwicklung einer ALS beschrieben.
Prospektive Studie zu BFS und Angst
In einer rezent publizierten, prospektiven Studie zum BFS wurde die Assoziation mit Angst näher untersucht. 35 PatientInnen wurden mit Fragebögen über 2 Jahre verlaufsbeobachtet. Die Mehrheit der PatientInnen waren Männer (71,4 %), das Durchschnittsalter lag bei 47,3 Jahren, ein Drittel der Kohorte bestand aus MedizinerInnen. Die Wahrnehmung von Faszikulationen persistierte über den 2-jährigen Beobachtungszeitraum bei 90 % der PatientInnen. Als häufigste Lokalisation wurde die Wadenmuskulatur genannt, 50 % der PatientInnen hatten aber auch Faszikulationen im Bereich der Arme, der Oberschenkel, des Gesichts oder am Stamm. Einzelne PatientInnen sollen gar Faszikulationen im Bereich der Zunge aufgewiesen haben. Assoziierte Symptome waren häufig: Jeder Zweite berichtete über subjektive Schwäche oder Krämpfe, etwas seltener wurden Sensibilitätsstörungen berichtet. Bei keinem Patienten/keiner Patientin wurde eine Motoneuronerkrankung oder das Crampi-Faszikulations-Syndrom (CFS) diagnostiziert. Über Angst wurde nach 1 Jahr von 76,9 %, nach 2 Jahren von 65,1 % der PatientInnen berichtet. Allerdings scorten nur 14 % der PatientInnen auf der Zung Self-Rating Anxiety Scale formal in der Kategorie pathologische Angst. Trotz weiter bestehender Symptome bestand also ein Trend zu weniger Angst. Die Aussagekraft der Studie wird leider eingeschränkt durch die kleine Kohortengröße, den hohen loss of follow-up (31,4 %), die fehlende Testung auf CFS-assoziierte Autoantikörper, den Verzicht auf Fragebögen zur Lebensqualität sowie die fehlende Erfassung psychiatrischer Begleiterkrankungen bzw. einer etwaigen pharmakologischen oder psychotherapeutischen Intervention. Irritierend ist ferner, dass trotz des hohen Kohortenanteils von PatientInnen mit multifokalen Faszikulationen die StudienautorInnen in ihrer Diskussion auf einzelne Muskeln limitierte Faszikulationen als eher benigne einstufen als multifokale Faszikulationen.
In einem die Studie begleitenden Editorial8 wird betont, dass sich nahezu nie ein Patient/eine Patientin mit einer Motoneuronerkrankung primär aufgrund von Faszikulationen präsentiert; dazu wird eine eigene Kohorte von 450 PatientInnen zitiert. Zudem wird auf die nicht seltene psychiatrische Komorbidität, bestimmte Persönlichkeitszüge und den hohen Anteil an MedizinerInnen bzw. in Gesundheitsberufen tätigen Menschen, die nicht selten Kontakt zu ALS-Erkrankten haben oder hatten, hingewiesen.
Fasciculation Anxiety Syndrome in Clinicians (FASICS)
Der Begriff FASICS wurde 2013 von Simon und Kiernan geprägt10 und als Unterform des BFS beschrieben. In einer Studie an 20 KlinikerInnen, die sich mit Faszikulationen präsentierten, wiesen 70 % der PatientInnen symptomatische Faszikulationen und Angst, an ALS zu erkranken, auf (FASICS). Bei 15 % der PatientInnen wurde bei Vorliegen von Faszikulationen und Crampi ein CFS diagnostiziert, jedoch ohne Nachweis von Autoantikörpern. Bei weiteren 10 % wurde eine Neuropathie identifiziert. Bei nur einem Patienten (5 %) wurde die Diagnose einer ALS gestellt, wobei dieser in der initialen klinischen Untersuchung eine Muskelschwäche aufwies. Hinsichtlich der Fachrichtungen war in der Gruppe der KlinikerInnen mit FASICS die Neurologie klar überrepräsentiert (50 %), wobei es sich durchwegs um Männer handelte.
Benigne auch aus PatientInnensicht?
Menschen mit Faszikulationen und Angst, an ALS zu erkranken, laufen Gefahr, in einen Teufelskreis von verstärkter Selbstbeobachtung und zunehmender Angst zu geraten. Folgen können eine anhaltend reduzierte Lebensqualität für den Betroffenen/die Betroffene und sein/ihr Umfeld und eine chronische Somatisierungsneigung, Angststörung und Ärztehopping sein. Der Patient/die Patientin ist auf der Suche nach ärztlicher Zusicherung und Beruhigung, und diese gelingen möglicherweise am besten durch eine gründliche körperliche und elektrophysiologische Untersuchung und einem empathisch geführten, meist zeitintensiveren Gespräch. Eine regelmäßige Nachbeobachtung, wie sie von manchen Expertinnen und Experten für neuromuskuläre Erkrankungen angeraten wird, um den seltenen Übergang der benignen Faszikulationen in eine ALS nicht zu übersehen, könnte insbesondere bei obsessiv disponierten PatientInnen auch negative psychologische Konsequenzen für das Individuum haben und zu weiterer Verunsicherung, Chronifizierung der Angst und Verminderung der Lebensqualität beitragen. Unterrepräsentiert ist in der Literatur der Stellenwert von pharmakologischen und psychotherapeutischen Interventionen.
Unter all diesen Gesichtspunkten imponiert das BFS nicht so benigne, wie es der Begriff aus ärztlicher Sicht nahelegt.
19.02.2020 18:48 •
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